Von Lieblingstassen, Töpfereien und biblischer Weisheit

Ich seufzte schwer. Unglaubliche achtundzwanzig Jahre hatte mich meine Lieblingstasse durch Dick und Dünn begleitet. Die große, bauchige Melange-Tasse hatte in Momenten der Entspannung einen See leckeren Kaffees mit Milchschaumkronen gehalten. In Zeiten erschöpfender Erkältung wärmespendenden Kräutertee mit cremigen Honig. Wenn Nachdenklichkeit auf meiner Seele lag, hielt meine Lieblingstasse britischen Schwarztee mit einem großzügigen Schuss Vollmilch und brachte meine Gedanken zur Ruhe. In diesen achtundzwanzig Jahren war viel passiert. Ich war gereift, hatte mehrfach theologische Ausbildungen in der lutherischen, reformierten und methodistischen Theologie durchlaufen und war in vielem weiser geworden.

Nun lag die geliebte handgetöpferte Begleiterin in großen Stücken zerbrochen in unserer Spülmaschine. Dank meines Mannes konnte die Tasse wieder geklebt werden- nun sollte aber vermieden werden, dass sie nochmals durch Spülmittel und Gebrauch brach. Also nahm ich mir vor, eine „jüngere“ Schwester zu kaufen. Da die Töpferei, aus der meine Tasse stammte, inzwischen geschlossen worden war, musste ich neu auf die Suche gehen. Mein Weg führte mich daher am „Tag der offenen Töpferei“ zur Töpferei „Filceramics“ im fränkischen Leutershausen.

Als wir den Laden der Töpferei betraten, strahlte uns Handwerkskunst in kräftigen Farben und harmonischen Formen entgegen. Dieses Willkommen setzte sich durch eine persönliche Führung durch die Werkstatt als dem Herzen der Töpferei fort. Mit viel Erstaunen stand ich vor dem massiven Ofen, dessen Boden herausgefahren worden war und erahnen lies, welche wunderschönen Töpferprodukte schon bald einen neuen Besitzer erfreuen würden. Der Anblick des Ofens erinnerte mich an eine Bibelstelle, die vom Erlernen der Weisheit Töpfern und den notwendigen Ofen handelte. Die Koinzidenz der Einblicke in das Töpferhandwerk und der biblischen Worte, die mir in den Sinn kamen, machten mich sprachlos:

Die Weisheit des Gelehrten braucht Zeit und Muße, und nur wer nicht geschäftig ist, wird Weisheit gewinnen. […] Ebenso geht es dem Töpfer; der muss bei seiner Arbeit sitzen und die Scheibe mit seinen Füßen drehen und muss immer um sein Werk besorgt sein und sein bestimmtes Maß an Arbeit tun. Er muss mit seinen Armen aus dem Ton sein Gefäß formen und mit den Füßen kräftig die Töpferscheibe drehen. Er muss daran denken, wie er’s fein glasiert, und früh und spät den Ofen fegen.

Sir 28,29-30

Als uns erklärt wurde, wie der Ofen verwendet würde, wie viel Zeit, Muße und Wissen angewendet werden musste, staunte ich noch mehr, denn das Buch Jesus Sirach, das zu den sogenannten Spätschriften des Alten Testaments gehört und um 190/180 v. Chr. in Jerusalem entstanden war, spiegelte unseren kleinen Besuch im fränkischen Leutershausen wieder: nicht nur durften wir zusehen, wie der Töpfer auf einer Töpferscheibe arbeitete, wir erfuhren von Brand, Glasur & Co., die wunderschöne Töpferprodukte hervorbrachten.

Achtundzwanzig ereignisreiche Jahre mit meiner treuen Begleiterin lagen hinter mir, die mich weiser werden ließen. Nun war ich bereit, eine neue Lieblingstasse an diesem biblischen Handwerksort zu finden. Als ich wenige Minuten später durch den Verkaufsraum schlenderte, strahlte mir eine bauchige, große Tasse in leuchtendem Blau entgegen und ich wusste umgehend: diese Tasse würde meine neue Begleiterin werden, und ich hoffentlich im Lauf der mir noch bevorstehenden Jahre an Weisheit zunehmen.

Gedanken zum Weltfrauentag: von dem Wunsch, dass aus feministischer Utopie Wirklichkeit werde

Regalreihe um Regalreihe ließ ich hinter mir liegen. Ich wurde auf der Suche nach einem Artikel immer tiefer in den Drogerie-Markt gelockt bis ich schließlich diesen in seiner Gesamtheit fast vollständig bis in dessen Tiefen durchquert hatte. Während Produkte für Haarstyling, Duschen und Produkte für Männer wohl platziert im Eingangsbereich des Marktes ihren Ort gefunden hatten, waren Hygieneartikel für das weibliche Wohlbefinden weit hinten verortet. Meine ausgiebige Suche nach dem ersehnten Wunschprodukt löste in mir aus, dass ich genauer und aufmerksamer auf die Konzeption des Marktes achtete. Gegenüber der weiblichen Hygieneprodukte waren Artikel für Säuglinge und Kinder platziert worden. Im rechten äußeren Regal hingegen befanden sich Produkte für die Hausreinigung. Im linken äußeren Regal Kleidungsartikel für den familiären Nachwuchs.

Die Ausgestaltung des Drogerie-Marktes folgte einer ganz bestimmten Logik: nämlich Frauen auf der Suche nach für sie wichtigen Produkten ohne die sie ihren Alltag nicht gestalten könnten, in das Herz des Geschäftes zu locken. Vorbei an so mancher käuflich erhältlichen Verlockung- ob Parfüm, Gesichtspflegeprodukt oder kleinem Mitbringsel – hier konnte frau viel Attraktives erwerben. Für den Mann hingegen war in ganz anderer Weise „gesorgt“. Wenige Schritte nach dem Betreten des Drogerie-Marktes konnte er bequem seinen Wunschartikel finden und genauso schnell über die strategisch günstig positionierten Kassen das Geschäft mit seiner Beute zügig verlassen.

Worüber ich mir sonst wenig Gedanken gemacht hatte, wurde mir aufgrund deren grotesker Umsetzung in einer Woche, in der wir den Internationalen Frauentag feiern, umso bewusster: die Frau wurde aus wirtschaftlichen Erwägungen mit dem Kniff des unvermeidlich zu kaufenden Produktes in das Herz des Marktes gelockt. An Hygieneprodukten & Co. kann keine Frau vorbei – allein aus biologischen Gründen. Wie sehr würde ich mir wünschen, dass Frauen in die Mitte der Gesellschaft, nicht nur aus kapitalistischen Gründen in das Herz eines Geschäftes gelockt werden würden. Denn wie Männer, so gehören auch Frauen in alle Ebenen gesellschaftlicher Strukturen.

Doch was ich erlebe, ist oft ein anderes: viele Führungskreise sind vornehmlich männlich. Auch in den gegenwärtigen Strukturen, in denen ich mich bewege, sind zumeist Männer in entscheidenden Positionen und bestärken sich durch ihre Treffen und Besprechungen in Macht und Rollenverhalten.

Dabei geht es bei Gleichberechtigung nicht nur um bloßes Gehalt und Ansehen. Blicken wir doch daher kurz auf den Weltfrauentag. Seit über 100 Jahren wird dieser Tag nun unter das Thema der Gleichberechtigung gestellt. Was damals, am 28. Februar 1909 als erster Frauentag in den USA begann, wird nun jährlich wenige Tage später am 8. März in den Mittelpunkt gesellschaftlicher und sozialer Erwägungen gestellt. Die Vereinten Nationen sprechen hierbei von einer feministischen Utopie, die zum Wohle aller gemeinsam für eine gerechte Welt gelebt werden soll.

„Eine feministische Utopie ist eine (Ideal-)Vorstellung einer gerechten, menschenfreundlichen Welt, frei von Sexismus, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, Klassismus, Altersdiskriminierung und anderen Unterdrückungsformen. […] Es geht um die Wünsche und Idealvorstellungen von Menschen in all ihrer Vielfalt, mit all ihren Bedürfnissen und Lebensrealitäten. Feministische Utopien können uns zu mutigen Ideen und neuen Wegen inspirieren, wie wir zusammen eine gerechte Welt gestalten können.“

UN Women Deutschland

Für mich sind diese Worte mehr als blumige Sätze. Seit dem Beginn meiner beruflichen Tätigkeit habe ich versucht eine feministische Utopie zu leben. Dank der liebevollen Unterstützung meines Mannes, der für meine Berufung seine eigenen beruflichen Wünsche hintenanstellte und als Hauptansprechpartner unsere vier Kinder begleitete, konnte ich mich voll meinem Beruf einer Pfarrerin widmen. Es ist jedoch meine bittere Erfahrung, dass Bemühen, Ausbildung und Engagement oft an einer Wand männlicher Strukturen scheitert. Manches bleibt mir verwehrt, weil männlich dominierte Netzwerke bereits Gestaltung und Entscheidungen in kleinen informellen Strukturen und Besprechungen vorweggenommen haben.

Die Gedanken der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock und deren Forderung einer feministischen Außenpolitik, in der die Bedürfnisse und Sichtweisen der Frauen in Entscheidungsprozessen gleichberechtigt wahr und ernst genommen werden, sind gut nachvollziehbar. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und eine feministische Innenpolitik fordern, die Frauen stärkt und altgediente Machtzirkel überholter Männlichkeit aufbricht.

Als Pfarrerin lebe seit Beginn meiner seelsorgerischen Tätigkeit die von der UN benannte feministische Utopie trotz aller Herausforderungen, weil ich es meinen Kindern schuldig bin. Nicht nur meinen Töchtern, sondern auch meinen Söhnen. Den eigenen, und denen, die ich nun als Polizeiseelsorgerin in der Ausbildung begleiten darf. Doch zugegebenermaßen ist mein Enthusiasmus inzwischen einer realistischen Sichtweise gewichen: bis diese Strukturen aufgebrochen und Menschen nicht aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer Herkunft oder finanziellen Leistungsfähigkeit beurteilt werden, sondern aufgrund ihrer Person, wird noch viel zu tun sein. Packen wir es an und lassen aus Utopie Wirklichkeit werden! Schritt für Schritt.

Von schlichten Mützen und Lebens- und Diensttauglichkeit des Glaubens

Als ich den braunen, unscheinbaren Postumschlag öffnete, leuchtete mir neben einem in schwungvoller Schrift gehaltenem Brief eine rote Mütze mit dezenter schwarzer Melierung entgegen. Vorsichtig zog ich die wertvolle Post aus ihrer Verpackung und probierte die gehäkelte Mütze an, die sich umgehend weich und warm um meinen Kopf schmiegte. Die von meiner Freundin mitgesandten Worte enthielten einen Bibelvers, der mich begleiten sollte:

Und ich sprach: Setzt ihm einen reinen Kopfbund auf sein Haupt! Und sie setzten ihm den reinen Kopfbund auf sein Haupt und zogen ihm Kleider an, und der Engel des HERRN stand dabei.

Sacharja 3,5

Amüsiert betrachtete ich die Mütze, deren Rot mir warm und gleichzeitig resolut entgegen strahlte. Obwohl wir erst seit etwas mehr als einem Jahr befreundet waren, kannte meine Freundin mich inzwischen sehr gut. Eine extravagante Mütze mit Gold, Glitzer & Co. würde ich nie tragen. Der „Kopfbund“, den sie mir geschickt hatte, bestand Masche um Masche aus lieben Gedanken, die sie in einen Postumschlag zu mir auf den Weg gesandt hatte und einem kleinen, signifikanten theologischen Witz, der erst durch meine Biografie verständlich wird. Dazu muss ich etwas ausholen und den Kontext des Bibelverses beleuchten.

In einer Vision sieht der Prophet Sacharja Josua als Hohenpriester und geistlichen Hirten seines Volkes vor dem Engel des Herrn stehen. Er wurde anstelle des Volkes angeklagt. Neben ihm steht Satan als Ankläger, der auf die Übertretungen und Fehler des Volkes hinweist während Joshua schweigend neben ihm steht. Doch Gott setzt den Übertretungen zeichenhafte Handlungen der Vergebung für das gesamte Volk entgegen indem er Joshua neu einkleidet. Unter anderem mit einem „Kopfbund“, der von Hohenpriestern getragen wurde und ihn als dem Herrn zugehörig auswiesen (קדש ל יהוה – „dem Herrn heilig“). Diese Kopfbedeckung (nebst anderem Ornat) muss durchaus imposant gewesen sein, wie Abbildungen eines Buches von Franz Bock zeigen:

Hieraus entwickelte sich laut Autor die Mitra als heutige priesterliche Kleidung römisch-katholischer Bischöfe, die damit die göttliche Beauftragung unterstreichen soll. Nicht nur ist der römisch-katholische Gottesdienst liturgisch reicher, sondern deren Würdenträger nebst gottesdienstlichem Raum elaborater ausgestaltet als so manch evangelische Kirche. Was auf der einen Seite eine Faszination ausstrahlt, ist mir in vielem als evangelische Christin sehr fremd.

Als Pfarrerin, die in Bayern eine lutherische und in Schottland eine reformierte Ausbildung durchlaufen hat, und geprägt ist durch die methodistische Theologie, in die ich aufgrund meiner Dissertation tiefe Einblicke erhalten durfte, ist mir Pomp, Glitzer und Glamour fremd. Glaube und Amt müssen für mich „alltagstauglich“ sein. Sie müssen sich einweben in den normalen Lebensrhythmus, indem sie getestet und auf Herz und Nieren immer wieder geprüft werden.

Ich bewunderte die vor mir liegende Mütze in ihrer Schlichtheit und strahlenden Farbe, die durchsetzt war von einigen dunklen Akzenten wie das Leben selbst. Durch ihre schlichte Form und die anpassungsfähigen Maschen, die die Mütze ausmachten, würde sie selbst im heftigsten Lebens- und Dienststurm nicht von meinem Kopf gerissen werden. Ich war dankbar, dass Gott mir solche Engel wie diese Freundin an die Seite stellte, die mich kannten, unterstützten und halfen, um Gottes Wort durch meine schlichte Präsenz als Seelsorgerin in die Bundespolizei bringen zu können.


Quelle: Bock, Franz: Geschichte der liturgischen Gewänder des Mittelalters: oder Entstehung und Entwicklung der kirchlichen Ornate und Paramente in Rücksicht auf Stoff, Gewebe, Farbe, Zeichnung, Schnitt und rituelle Bedeutung (Band 1) — Bonn, 1859

Gedanken am Rand von Kirche 3: Nachwuchsgewinnung kreativ

Der kleine Spielzeugaltar glitzerte mir entgegen. Voller Erstaunen entfaltete sich hinter einer Sicherheitsverglasung vor meinen Augen eine Spielzeugpräsentation der völlig ungeahnten Art: ein kleiner „Übungsalatar“ nebst wichtiger Ausstattung für den Dienst eines römisch-katholischen Geistlichen war der Mittelpunkt dieser überraschenden Ausstellungsvitrine.

Wer hätte gedacht, dass eine Pfarrerin während eines Familienausfluges zum Nürnberger Spielzeugmuseum derartig überrascht worden wäre? Ich musste schmunzeln und verlor mich in der Betrachtung der vor mir befindlichen Spielzeugnachbildungen religiöser Gegenstände: Ob römisch-katholisches Messbuch, Ziborium, Monstranz, Altarglocken, Weihrauchfass, Kreuz oder Altarkerzen- es war alles für das Herz eines zukünftigen Priesters der römisch-katholischen Kirche gesorgt.

Im 19. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre gab es in zahlreichen römisch-katholischen Gemeinden dieses besondere Spielzeug, das Jungen zugänglich gemacht wurde. Hierdurch wollte man bei ihnen das Interesse für den Beruf des Priesters wecken.

Eines muss man der römisch-katholischen Kirche jenseits ihres liturgischen Reichtums lassen: diese Art der Nachwuchsgewinnung war nicht nur kreativ, sondern durchaus pädagogisch interessant, da sie die infrage kommende Zielgruppe früh mit dem Beruf in Kontakt brachten. Analog zu Feuerwehr-, Polizei-, und Rettungskräften, die als Spielzeugautos und zumeist Plastikgebäuden in vielen Kinderzimmern seit einigen Jahrzehnten einen festen Platz haben.

Vielleicht sollte die evangelische Kirche die Idee zur Nachwuchsgewinnung aufnehmen? Bei Playmobil gab es ja bereits eine Hochzeitskirche und Martin Luther. (1) Wie wäre es also mit einer Playmobil-Pfarrerin und -Pfarrer nebst Abendmahlsausstattung, Albe und Stolen in liturgischen Farben? Die könnten wir bei einer Säuglings- und Kindertaufe an die neuen Mitglieder verschenken. Und wer weiß? Vielleicht wird dadurch die erste Grundlage zum Beruf eines Pfarrers oder Pfarrerin gelegt, der Jahrzehnte später Wirklichkeit wird? … Nun ja, träumen darf man zumindest. Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass Playmobil durchaus eine interessierte Käuferschaft für ein solches Spielzeug-Ensemble hätte – und sei es in den USA.


(1) In meiner Zeit als EKD-Auslandspfarrerin habe ich zusammen mit anderen Kollegen einen Export zum Originalpreis organisiert und hunderte dieser kleinen Figuren zu glücklichen Pfarrerinnen und Pfarrern der ELCA und höchstwahrscheinlich deren Nachwuchs versandt.

Was uns im Inneren zusammenhält…

Nachdenklich wog ich den kleinen Beutel in meiner Hand. Die Platte nebst sieben Schrauben hatte sich in den letzten zehn Monaten in meiner Hand befunden und den zerschmetterten Knochen zusammengehalten, damit, was vorher eins, nun aber zerbrochen, wieder zusammenwachsen konnte. Die medizinische Prothese nebst Hilfsmittel fühlte sich ungewöhnlich leicht an. Kein Wunder, denn Titan weißt eine hohe Korrosionsbeständigkeit, Festigkeit und geringes Gewicht auf und wird daher vielfach in der Medizin für Implantate, Prothesen und ähnliches verwendet.

Für mich war es ein Geschenk, dass nun der Knochen geheilt war. Doch während ich den kleinen Beutel in meinen Händen hielt, Platten und Schrauben bewundernd betrachtete, wurde eine Frage immer lauter: Was hält uns Menschen im Inneren zusammen, wenn wir drohen zu zerbrechen? Nicht selten war ich in meinem Leben vor schweren Fragen und komplexen Herausforderungen gestanden. Die Verletzung war nicht nur eine physische Herausforderung, sondern hat mich gezwungen dem auf die Spur zu kommen.

Fündig wurde ich in den alten Geschichten, die uns die Bibel überliefert. Trotz der zeitlichen Ferne sind sie in vielem wie aus dem Leben gegriffen. Es sind Erzählungen von Menschen, die drohten zu zerbrechen. Manche hatten sogar Todesangst. Besonders faszinierend fand ich bei meiner Suche nach Antworten die Geschichten, die von maximalen menschlichen Fehlverhalten und tiefen Krisen erzählten. Es sind Geschichten, die uns von einer anderen, einer göttlichen Logik erzählen, die uns Hoffnung und Zuversicht im eigenen Versagen, gerade dann, wenn wir drohen zu zerbrechen, schenken wollen. Sie sind manchmal sperrig. Lassen unsere Gedanken anecken und unsere menschliche Logik an Grenzen stoßen. Die Botschaften sind so etwas wie „biblisches Titan“, das uns vielleicht in einer anderen Extremsituation hilft, wieder zusammenzuwachsen, zu heilen und neue Perspektiven für unser Leben zu finden.

Mitten hinein in diese Angst – vielleicht während wir vom Schmerz eines Bruches, einer Verletzung, eines Verlustes, eines schlimmen Fehlers fast erstickt werden, spricht Gott:

„Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“

Jer 31,3

Sehen wir doch einmal auf die Erzählung um Kain und Abel (Gen 4). Kain hatte aus lauter Eifersucht seinen jüngeren Bruder Abel erschlagen. Eine durch und durch widerliche Tat. Doch statt ihn der nach menschlicher Logik ausstehenden Konsequenz eines Totschlags auszuliefern, wird Kain ein wenn auch ruheloses Leben geschenkt und durch ein Zeichen geschützt. Ihm sollte das Unrecht nicht widerfahren, das er seinem eigenen Bruder angetan hatte. So wurde in letzter Konsequenz durch die göttliche Zusage eine Kette von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen.

„Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“

Da ist Rahab, die in der Bibel als Prostituierte in Jericho arbeitet (Jos 2). Ihre Tätigkeit sei hier nicht weiter eruiert. Trotz ihres gesellschaftlich diskutiertem Broterwerbs versprachen ihr die Männer, die sie schützte, das gleiche Recht zu. Als Jericho erobert wurde, hing sie wie vereinbart als Zeichen ein rotes Seil aus ihrem Fenster und wurde zusammen mit ihrer Familie verschont. Nicht immer handeln wir in unserem Leben ethisch korrekt. Der Beruf Rahabs steht für mich als Platzhalter für unsere eigene Gebrochenheit, die anderen und uns vielleicht schwieriges zumutet. Dennoch werden wir vor dem Schlimmsten bewahrt und erhalten die Möglichkeit eines Neubeginns.

„Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“

Zwei schwerfällige Geschichten, die von Menschen, die in Gefahr stehen zu zerbrechen, erzählen und von Gottes Güte, die sie zusammenhält. Es sind Extremgeschichten des Lebens. Wie oft stehen wir vor eigenen verheerenden Situationen. Die Titanplatte nebst Schrauben werden mich an beides erinnern: an einen schmerzhaften Unfall, aber auch die Möglichkeit wieder heilen und mit „neuer“ Hand zuversichtlich mein Leben unter Gottes Schutz und Begleitung weiter gehen zu dürfen.

Das wünsche ich Ihnen, lieber Blogleser, liebe Blogleserin, ebenso. Denn die Situation mag noch so verheerend sein, Gott liebt uns und zieht uns mitten in all dem Schlimmen zu sich aus lauter Güte.

My dear Jewish friend 15: As German Federal Police #WeRemember

I held my breath as the young police cadet started reading the names of places that once have been places of horror and death.

Auschwitz

Buchenwald

Dachau

It was Holocaust Remembrance Day. This year January 27 was a cold, crisp day with old snow and icy edges giving roads and sidewalks a rough appearance. As I made a small remark about the weather, the Rebbetzin, who stood next to me, looked at me and nodded: „I’ve heard that the weather on the day of the liberation of Auschwitz must have been the same.“ A cold shiver ran like a lighting down my spine and made me shiver even more.

(All Pictures: Bundespolizei / Stabstelle Öffentlichkeitsarbeit / AFZ Bamberg)

Flossenbürg

Groß-Rosen

Hinzert

To commemorate the liberation and commemorate the victims of the Holocaust, we had organised a ceremony at the Training Facility of the Federal Police in Bamberg. As its chaplain it was important to me. Not only am I a German citizen, but a clergy working for the Federal Police. Both, police and churches have been hurtfully complicit during the Nazi regime. My commitment is therefore even more urgent and our friendship has sealed my personal responsibility in ways I can’t describe.

Majdanek

Mauthausen

Mittelbau

Nine classes of police cadets with their teachers plus the leadership had gathered in neatly arranged rows. Over one hundred and fifty people in total filled the large space, which once was called „The Change of Command“ when the facility was an U.S. military base. Rabbi Dr. Yael Deusel, Rabbi Dr. Almekias-Siegel with Rebbetzin, and Mr. Rudolph, the chair of the Synagoge in Bamberg had followed my invitation to the commemoration ceremony. I was thankful that they joined us during this important remembrance to read a prayer. Many of my police cadets never have personally met Jews – and certainly haven’t had the honour to meet Rabbis.

Natzweiler-Struthof

Neuengamme

Riga-Kaiserwald

The grounds on which we stood on January 27 couldn’t have been more ambivalent and made a commemoration even more important. The land was used for military reasons for a long time. First built as the „Lagarde Kaserne“ for the Royal Bavarian Army as an infantry barracks, it was extensively used during World War I and World War II. It is said that almost every branch of the German Army was stationed here. The most elite group was the 35th Armor and the 17th Cavalry Regiments, which was composed of noblemen who were wealthy and had their own riding school. Claus von Stauffenberg was its most prominent member. He was known for an unsuccessful plot to assassinate Adolf Hitler. When both Rabbis presented their prayers I was filled with deep thankfulness. Hitlers evil plans hadn’t worked out – even if he did use this stretch of land decades ago, it is now under the leadership of Leading Police Director Thomas Lehmann used to educate generations of police cadets to uphold democracy and human rights.

Sachsenhausen

Stutthof

Plaszow

As Leading Police Officer Thomas Lehmann lead the Rabbis to the flag masts, we were supported by rows of police cadets and their leadership. While making our way to the masts, it felt as if they were forming a protective back up for those, who were grieving in remembrance. It might have been the same cold day in 1945 and 2023, but what happened back then, will never happen again. I can assure you, that many together with me will give their very best. May the memories of the victims never be forgotten, but for a blessing as we train young police cadets to protect and serve democracy.

Von unterschiedlichen Ausbildungen und wichtigen Erfahrungen für die Arbeit einer Polizeiseelsorgerin

Mit etwas Wehmut schaltete ich den Fernseher aus und tauchte gedanklich aus der ferne Japans in unserem Bamberger Wohnzimmer auf. Neun Folgen lang hatte ich zwei japanische Auszubildende in deren Lehrjahr in Kyoto begleitet. Die japanische Serie in Originalsprache hatte mich mitten in Oberfranken in eine ferne Welt mitgenommen und dabei alte Erinnerungen wachwerden lassen. Sprache, Gepflogenheiten, Kultur und so manche japanische Tradition war mir nach all der Zeit immer noch ungewöhnlich vertraut.

Weil das „Praxisjahr der Theologiestudierenden“ mindestens ein Jahr berufliche Tätigkeit außerhalb kirchlicher Strukturen erforderte, hatte ich als Zwanzigjährige eine Ausbildung zur Flugbegleiterin bei Japan Airlines (JAL) durchlaufen, um eineinhalb Jahre über den Wolken zu arbeiten. Nach einer Ausbildung am Frankfurter Flughafen, schloß sich ein achtwöchiger Aufenthalt in Tokyo an. Dies war der Anfang eines Eintauchens in die fernöstliche Kultur Japans – eine für mich zur damaligen Zeit durchaus fremde Welt.

Die Ausbildung und Tätigkeit als Flugbegleiterin war eine Lernerfahrung, die damals für mich gut war, aber zugegeben lange Zeit nicht direkt für meine berufliche Tätigkeit als Pfarrerin und Seelsorgerin fruchtbar gemacht werden konnte. Dies kam viele Jahre später mit meinem Wechsel zur Bundespolizei.

Noch heute erinnere ich mich an die Worte eines Loses, das ich damals bei einem Tempel gezogen hatte. Auf ihm war unter anderem zu lesen: „Even if you are righteous and have a chance to be successful, nothing can be achieved unless you work hard.“ oder in Deutsch: „Selbst wenn Sie rechtschaffen sind und eine Chance haben, erfolgreich zu sein, können Sie nichts erreichen, wenn Sie nicht hart arbeiten.“

Dieser Satz hat mich immer wieder an Lebensstationen begleitet. Das Engagement um Gerechtigkeit ist für mich als Pfarrerin ein wichtiger Aspekt meiner Berufung. Und gleichzeitig bin ich mir sehr bewusst, dass ich viele wunderbare Bildungs- und Berufs-Chancen geschenkt bekommen habe, die aber nur durch harte Arbeit wirklich erreichbar waren.

Meine jungen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter erhalten ebenso die einmalige Chance, einen der wohl spannendsten, aber auch verantwortlichsten Berufe erlernen zu dürfen. Das Streben um Recht stellt hierbei einen wichtigen Aspekt dar. Das Erlernen dieses Berufes kommt jedoch mit großen Herausforderungen – daher wird von ihnen harte Arbeit gefordert, manchmal bis zur Erschöpfung.

„Even if you are righteous and have a chance to be successful, nothing can be achieved unless you work hard.“

No. 87 The Best Fortune, Temple in Asakusa

Auch das kenne ich aus meiner Ausbildungszeit bei JAL. Ein normaler Ausbildungstag lief so ab:

4:00 Uhr Aufstehen

Mindestens zweieinhalb Stunden Fahrt zur Ausbildungsstätte quer durch Tokyo

6:30 / 7 Uhr Frühstück an der Ausbildungsstätte

7:30 Uhr Dienstbeginn und Unterricht

17 Uhr Unterrichtende und Heimfahrt

Mindestens zweieinhalb Stunden Fahrt zum Wohnheim quer durch Tokyo

19 Uhr Abendessen

ca. 20 Uhr Lernen

Gnadenlos wurden wir eingegliedert in ein japanisches Bildungssystem, denn schließlich würden wir bald als Deutsche in einer japanischen Fluggesellschaft arbeiten. Zumeist allein oder zu zweit in einer japanischen Crew. Für uns angehende Flugbegleiterinnen war es ein wahrer Kulturschock. Ich begegnete dem Ganzen mit viel Neugier und einer guten Portion Willenskraft, die beste Leistung abzulegen und mich in dieses System einfinden.

Es waren anstrengende Ausbildungstage, die früh begannen. Ich kann meine Polizeischülerinnen und -schüler gut verstehen, deren Dienst täglich um 6.55 Uhr beginnt und gegen 16:30 / 45 Uhr endet. Auch sie tauchen in eine unbekannte Kultur ein. Hierarchie, Disziplin, Ambitioniertheit und Engagement sind elementar, um diese Ausbildung erfolgreich zu durchlaufen.

„Even if you are righteous and have a chance to be successful, nothing can be achieved unless you work hard.“

No. 87 The Best Fortune, Temple in Asakusa

In der letzten Dienstwoche durfte ich eine Lehrklasse bei einer sogenannten „Alarmübung“ begleiten. Das hieß für die jungen Polizeischülerinnen und -schüler um 2:30 Uhr geweckt zu werden und dann in ihrer Lehrklasse von einem Punkt aus wieder an den Ausbildungsort zurückzufinden. Selbstverständlich mit dem jeweiligen Lehrgruppenleiter und mir sowie einem engagierten Team, das im Hintergrund alle notwendigen Vorkommnisse, Regelungen und Fahrten organisiert. Genau bedeutet das: 15 Kilometer durch die Dunkelheit. Dies erfordert Wissen, Teamgeist und Motivation.

Durchhaltevermögen und harte, engagierte Arbeit sind essentiell für den Beruf eines Polizisten und einer Polizistin. Wer hätte gedacht, dass ich aus den damals bei Japan Airlines gemachten Erfahrungen so viele Analogien für die Ausbildung meiner Schülerinnen und Schüler ziehen würde! Und ganz nebenbei einige interessante Erfahrungen in den Unterricht einfließen lassen könnte – ob Randalierer an Board, Herzstillstand oder Notfallausbildung für Land- und Wasserlandung. Für mich mehr als nur unterhaltsame Erfahrungen, denn sie erzählen von dem Unerwarteten, den Überraschungen und Notfällen, die über sie hereinbrechen können. Sie darauf wenigstens ein bisschen vorbereiten zu können, gibt meinen eigenen Erfahrungen mehr Tiefe.

„Even if you are righteous and have a chance to be successful, nothing can be achieved unless you work hard.“

No. 87 The Best Fortune, Temple in Asakusa

Ich gab mir einen Ruck, legte die Fernbedienung auf den Sofasessel und ging in die Küche, um etwas Sushi zuzubereiten. So konnte meine Familie einen kleinen Geschmack von Japan erhalten und meine Sehnsucht nach einem fernen und doch so nahen Ort etwas stillen, um dann am nächsten Tag wieder vor meine Lehrklassen zu treten.

Die Waffe der Frau – von Bildung, Gleichberechtigung und eigenen Erfahrungen

Erstaunt sah ich auf die Werbung, die im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt enthalten war. Normalerweise warf ich diese mit einem beherzten Schwung umgehend ins Altpapier. Doch heute stutzte ich, denn angeblich war dem monatlichen Blatt des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrervereins in großen weißen Lettern auf einem pinken Umschlag ein wichtiger Inhalt angekündigt:

DIE WAFFE DER FRAU.

Als Adressatinnen waren im durchsichtigen Sichtfeld als „alle Frauen in Deutschland“ angegeben – abgesandt von Senta Berger, Birgit Schrowange und Marion Knecht.

Nun war meine Neugierde geweckt, denn das monatliche Blatt war nicht unbedingt dafür bekannt, dass dort Frauen ihre Stimme erhoben. In der gegenwärtigen Ausgabe stammte einer von insgesamt zwölf Artikeln aus der Feder einer Frau.

Die Post warb für eine Patenschaft eines Mädchens in einem Schwellenland. Zurecht hob man dort die Wichtigkeit von Bildung hervor, die eine essentielle Voraussetzung für Gleichberechtigung ist. Ich pflichte den drei Verfasserinnen des Briefes bei, dass Bildung von großer Wichtigkeit ist, damit Frauen ihr Potential erreichen und ein besseres Leben zugänglich wird.

Ich hatte das Glück in einem reichen Land geboren worden zu sein, in dem viele Bildungschancen zugänglich sind. Schule, Abitur, Studium, Vikariat, Examen in Bayern und Schottland, Dissertation in USA. Ich hatte das Privileg, mehrere Sprachen lernen zu dürfen und einige weitere Zusatzqualifikationen zu erwerben. Schon immer war ich davon überzeugt, dass Bildung ein wichtiger Schlüssel zur Gleichberechtigung darstellt – oder wie die Autorinnen schrieben, die Waffe einer Frau darstellen.

Also erweiterte ich ständig meinen fachlichen Horizont. In allem wurde ich von meinem Mann unterstützt, der den Mut besaß, mir den Vorrang im beruflichen Werdegang zu schenken. Er wurde Familienmanager. Ich kehrte nach dem damals durchaus kurzen Mutterschutz stets umgehend in den Beruf zurück. Elternzeit oder ähnliches hatte ich nie in Anspruch genommen.

Doch leider fügt sich zu all dem „westlichen“ Privileg mit etwas Bitterkeit die gesammelte Erfahrung über die Grenzen dieses Systems hinzu. Es ist wie ein roter Faden, der sich durch meinen beruflichen Werdegang zieht: die Grenzen des Systems stellen oftmals nicht die für eine Position notwendigen Qualifikationen und Abschlüsse da, sondern Männer in Schlüsselpositionen. Manchmal scheint es mir, so als ob es sich hierbei um Männer handelt, die ungern auf Augenhöhe zusammenarbeiten wollen. Oder Männer, die von der ihnen zugesprochenen Macht wenig abgeben wollen und einer Frau dieselbe Funktion nicht zutrauen.

Liebe Leserin, lieber Leser dieses Blogeintrags, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich spreche nicht für eine Frauenquote, sondern dafür, dass ich anhand meiner Qualifikationen und Fähigkeiten mein ganz persönliches berufliches Potential leben darf. Aber leider ist es meine Erfahrung, dass ich aufgrund der simplen Tatsache meines Geschlechts doppelt so hart arbeiten muss, um eine annähernde Anerkennung zu erhalten. Und manchmal ist es sogar noch bitterer: vor geraumer Zeit musste ich miterleben, wie ein Mann eine Funktion erhielt, obwohl er offensichtlich die dafür notwendige fachliche Eignung nicht vorweisen konnte – einfach weil er ein besseres (Männer-)Netzwerk hatte. In ökumenischen Kontexten habe ich sogar noch schlimmeres erlebt. Da wurde ich von einer Mitwirkung in einem Gottesdienst ausgeschlossen, WEIL ich eine Frau war.

Erfahrungen, die nachdenklich machen.

Zustimmend und dennoch mit einem bitteren Geschmack auf den Lippen steckte ich den Werbebrief zurück in seinen pinkfarbenen Umschlag. Ja, Bildung ist die Waffe einer Frau. Aber sie öffnet nicht von sich aus Türen und gibt Zutritt zu größerem Potential. Das geht nur, wenn die Männer, die diese Türen der beruflichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten bewachen, es auch zulassen.

Aus der Sicht einer Polizeiseelsorgerin: Von Protesten, Gleichaltrigen und dem Wunsch nach Menschlichkeit

Ich schüttelte die neueste Ausgabe der Zeit mit einem routinierten Ziehen zurecht, um die voluminösen Seiten gerade zu ziehen. Dann versank ich wieder in der neuesten Ausgabe der ZEIT. Doch kaum hatte ich die erste Seite umgeblättert, drängten abrupt die großen Baggerschaufeln des Kohleabbaus am Dorf Lützerath und die Geschehnisse rund um das gegenwärtig zu räumende Dorf in die Stille meines Wohnzimmers. Nachdenklich folgte ich den Worten der Autorin, die einen jungen 17-jährigen Klimaaktivisten mit dem Decknamen Taco und dessen Familie begleitet hatte und nun davon berichtete. Ihre Worte waren einfühlsam und ausgewogen. Immer wieder blieb ich im Text an dem Alter des jungen Mannes hängen, das dem vieler Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern entsprach, die ich in meiner Lehrtätigkeit begleiten durfte.

Die Worte des letzten Absatzes gingen mir nicht aus dem Kopf:

[…] Taco hat sich entschieden: Er will bleiben, die Räumung in Lützerath abwarten. Sollte die Polizei ihn vom Gelände tragen werde er sich nicht wehren. […]

Her mit der Kohle. Vermummte werfen Steine, Väter besorgen ihren Söhnen Gummistiefel fürs Demonstrieren. Wie gewaltbereit ist der Protest in Lützerath, von Laura Cwiertnia, aus: DIE ZEIT Nº 3, 12. Januar 2023

Immer und immer wieder las ich sie. Fiktive, aber durchaus realistische Gedanken gingen mir durch den Kopf. Was, wenn sie aufeinandertreffen würden? Ein siebzehnjähriger Klimaaktivist und ein siebzehnjähriger Polizeischüler? Im zweiten Lehrjahr durchlaufen die Auszubildenden verschiedene Praktika und kommen dort, um in ihre Tätigkeit hineinzuwachsen, mit Bürgerinnen und Bürgern in sehr unterschiedlichen Situationen und an verschiedenen Orten Kontakt.

Wie viel Verständnis würde auf beiden Seiten wachsen, wenn sie einander jenseits eines Konfliktes begegnen würden? Wenn sie im jeweils anderen die Menschlichkeit entdecken dürften?

Es ist ein unglaubliches Spannungsfeld, in das diejenigen, die ich in der polizeilichen Ausbildung begleiten darf, hineinwachsen müssen. Oft sehen sie bereits in jungen Jahren Dinge, die andere Erwachsene selten bis nie sehen werden. Gewalt hinterlässt Spuren. Eine Uniform mag vor dem Schlimmsten einen relativen Schutz bieten, aber die Spuren in der Seele kann auch eine Körperschutzausstattung nicht verhindern.

Was wäre, wenn man mehr Begegnungsfläche für beide Seiten schenken könnte? Wenn junge Klimaktivistinnen und -aktivisten mit jungen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern zu Gesprächen und einem Kennenlernen der jeweils anderen Seite zusammen kämen? Vielleicht würden sie ja viel Gemeinsames entdecken. Oder in so mancher schwieriger Situation diese Erfahrung dabei helfen, dass es zu keinen massiven, gewaltbereiten Auseinandersetzungen kommen würde.

Wünschen würde ich es Taco und meinen Polizeischülerinnen und -schülern, denn als Seelsorgerin habe ich Angst. Um beide. Nicht umsonst fragt sich die Autorin ohne eine Seite im Untertitel genau zu benennen:

Wie gewaltbereit ist der Protest in Lützerath?

Als Pfarrerin kann ich jenseits jeglicher politischer Diskussion um Lützerath für die involvierten Personen nur hoffen, dass die durch die Politik angeordnete Räumung des Dorfes und das dadurch ausgelöste Demonstrationsgeschehen so friedlich wie nur irgendmöglich bleibt. Zum Wohle aller.

Ich seufzte tief und schlug die Zeitung mit einem energischen Ruck zu. Die nächsten Tage würden zeigen, ob es überwiegend friedlich bleiben würde.

Endemische Gedanken: wenn das Schweigen endlich bricht und prägende Erfahrungen bleiben

Aus Gründen ist es Zeit, endlich das Schweigen zu brechen und in diesem Blogeintrag über prägende pandemische Erfahrungen als Pfarrerin und Polizeiseelsorgerin zu schreiben.

Jahresanfang und eine Woche Urlaub. Für mich die perfekte Kombination, um etwas Ordnung zu schaffen und dadurch offen zu werden für die nächsten zwölf Monate des noch recht jungen Jahres. Als ich den Inhalt meines Nachtkästchens ausleerte, fiel mir eine Stoffmaske in die Hand, die ich vor fast genau zwei Jahren direkt aus meinem Fluggepäck in der Schublade des Nachtkästchens verstaut hatte. Nachdenklich setzte ich mich auf den Rand meines Bettes. Laut Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Berliner Klinik Charité, befinden wir uns bereits am Ende der Pandemie und in Deutschland am Beginn einer Endemie. Das heißt nicht, dass das Virus uns nicht weiterhin im Griff hat, dennoch trifft es nicht in der vorher vorhandenen Härte, Intensität und Gefährlichkeit. Eine Endemie bedeutet, dass wir weiterhin vorsichtig und rücksichtsvoll sein müssen, aber lernen mit der sich verbreiteten Krankheit umzugehen. Dazu benötigt es auch das Element der Reflexion, um aus dem Erlebten zu lernen.

Die Stoffmaske wirkte an diesem ersten Samstag des neuen Jahres wie ein Relikt aus einem anderen Leben, das inzwischen weit weg erschien. Ich seufzte tief. Bilder in wirrer Reihenfolge erschienen vor meinem inneren Auge. Ich schüttelte mich, während so manche Emotion der in New York erlebten Pandemie von mir wieder Besitz ergriff. Die Maske musste aufbewahrt werden. Wie lange ich auf meiner Bettkante saß, weiß ich nicht- doch irgendwann gab ich mir einen Ruck und suchte all die anderen Stoffmasken, die wir aufgehoben hatten.

Ich fand unsere Sammlung an Stoffmasken im abgelegensten Schrank unserer Wohnung in der untersten Schublade hinter vielen Halstüchern. Während in Deutschland schon bald FFP2-Masken Pflicht geworden waren, trugen wir in den USA relativ lange waschbare Masken aus Stoff. Im Nachhinein schützen diese Masken nicht so gut, waren aber nun für mich wichtige Erinnerungsstücke – persönliche Artefakte einer sehr intensiven Dienstzeit geworden.

Vier Masken hatte ich besonders gerne getragen. Sie waren nicht nur gut geschneidert gewesen, sondern verbanden mich emotional mit wichtigen Stationen einer intensiv erlebten Dienstzeit:

Auf der Maske aus schwarzem Baumwollstoff war in großen Buchstaben FAITH ______OVER ______ FEAR aufgedruckt. Diese Maske steht für den Beginn und die erste Welle der Pandemie, die ich in New York als einem der ersten Corona-Hotspots der westlichen Welt erlebt hatte. Es waren Monate, in denen ich als Pfarrerin und Polizeiseelsorgerin meine Berufung noch nie so intensiv gespürt hatte, wie in dieser Zeit. Eine Lehre dieser Zeit ist für mich, dass in Gefahr Berufung erst richtig beginnt. Noch gut erinnere ich mich an die Angst, mich selbst anzustecken- im Krankenhaus während ich Sterbende begleitete oder in den beengten New Yorker Bedingungen als ehrenamtliche Polizeiseelsorgerin, wo ein sicherer Abstand oftmals schwer möglich war.

Das Symbol der Synagoge war schon etwas abgegriffen – für mich strahlte es in seinem einfachen Weiß auf dieser azurblauen Maske umso mehr. Diese besondere Maske war mir von meiner jüdischen Synagoge geschenkt worden, wo ich mich ehrenamtlich engagiert hatte. Eine der bitteren Auswirkungen der Pandemie war in USA eine schnell eingetretene Massenarbeitslosigkeit, die vor allem aufgrund des nur rudimentären Sozialsystems die Ärmsten der Armen getroffen hatte. Diese Arbeit durfte daher nicht zum Erliegen kommen. Mit viel Fantasie und Engagement versuchten wir trotz der uns umgebenden viralen Gefahr für die zu sorgen, die sonst hungern würden.

Und dann nahm uns mitten in diesem pandemischen Chaos ein politisches Ringen Recht und Gerechtigkeit den Atem. Auf schwarzem Untergrund prangte neben dem Profil der Richterin Ruth Bader Ginsburg, die eine der größten Kontrahentinnen des damaligen Präsidenten Donald Trump war, in bunten Lettern die Aufschrift WOMEN BELONG IN ALL PLACES WHERE DECISIONS ARE BEING MADE. Ich hatte in USA ein Ringen um eine politisch gerechter gestaltete Welt erlebt, in der es einen Kampf um Inklusivität bzw. Exklusivität gab. Erinnerungen an wunderbare Frauennetzwerke und eine durchbangte Wahlnacht sind mir immer noch sehr präsent.

Eine weitere mir wichtige Maske strahlte und glitzerte mir auf einem galaktischen Hintergrund entgegen. Sie erinnert mich an die Träume, die mich in dieser intensiven Dienstzeit antrieben: Träume von Gesundheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Eine große Aufgabe, die wir nur gemeinsam Wirklichkeit werden lassen können. Wenn jeder eine Kleinigkeit dazu in seinem jeweils eigenen Bereich dazu tut, kann dies gelingen. In New York und jetzt in Bamberg versuche ich weiterhin meinen kleinen Teil dazu beizutragen.

Die Zahl der persönlichen Artefakte endete jäh mit meinem beruflichen Wechsel zur Bundespolizei – sicherlich auch verbunden mit der Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske. Mit meiner Rückkehr nahm so mancher Kollege wieder Kontakt zu mir auf. Eine Unterhaltung kurz nach meiner Rückkehr im Januar 2021 wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Anstatt mir ein offenes Ohr zu leihen, kritisierte er meinen beruflichen Wechsel zur Bundespolizei. Ich sei schon wirklich dumm gewesen. Wenn ich eine normale Pfarrstelle gewählt hätte, hätte ich sicherlich noch einige Monate eine ruhige Kugel schieben können. In Ruhe umziehen. Ankommen. Mich einfinden. Stattdessen hätte ich den Strudel des polizeilichen Dienstes gewählt. Ich war sprachlos über dieses opportunistische Denken, das ich bei diesem Kollegen wahrnehmen musste.

Als ich in Deutschland ankam, fragte man mich nicht nach meinen Erfahrungen noch bot man mir die Möglichkeit an, diese zu verarbeiten. Ein Sonderurlaub war bei einem solchen Wechsel nicht vorgesehen. Noch heute frage ich mich warum eigentlich, wenn ich viele dienstliche Sonderbelastungen getragen hatte? Supervision oder psychologische Begleitung wurde mir ebenso wenig angeboten. Also stürzte ich mich ins Neue und verarbeitete das Erlebte auf meine Weise.

Nach fast zwei Jahren sind diese Erfahrungen nun ein für mich wertvoller Teil meines Selbst geworden. So manches kann ich in den berufsethischen Unterricht der BPOL nebst zahlreicher Reportagen, die über meinen Dienst in New York gedreht wurden, einfließen lassen. So wird nun für andere zum Segen, was ich erlebt habe.

Für mich steht am Ende dieser endemischen Gedanken vor allem diese wichtige Lektion im Mittelpunkt der pandemischen Dienstzeit: eine Berufung zeigt sich in Gefahr – das verbindet mich zutiefst als Pfarrerin mit den mir anvertrauten Polizeikräften, die ich begleiten darf. Die eigene Berufung so stark spüren zu dürfen, ist ein großes Geschenk der pandemischen Dienstzeit, das mich begleiten wird – egal, wo ich meinen Dienst versehe.