Suche nach Frieden

Sprachlosigkeit umfasste mich. Hatte ich nicht erst am Ende der Lagebesprechung meinen polizeilichen Führungskräfte für das herannahende Wochenende einen Segenswunsch zugesprochen, der den Wunsch nach Frieden zum Mittelpunkt hatte? Stattdessen durchbrachen Nachrichten und Bilder eines iranischen Angriffs auf Israel die Stille des Sonntags, für mich eines Tages der Ruhe, Einkehr und Friedens.

Es ist, also ob wir uns als Menschen auf einer ständigen Suche nach Frieden befinden. Seit den letzten Monaten und Jahren durch den Krieg in der Ukraine und im Heiligen Land umso mehr. Es fühlt sich so an, als wenn die Welt an verschiedenen Orten in Brand gesteckt worden sei. Während die Politik und die Mächtigen um Wege ringen, ist es schwer für uns einzelne. Was gegenwärtig bleibt, ist mit unserer Sprachlosigkeit vor Gott zu treten.

Vielleicht kann uns dieses Gebet in all dem Hadern, Zweifeln und Flehen ein wenig aus der Sprachlosigkeit hinaus in Gottes Nähe und Geborgenheit führen.

Das trotzige Prinzip des Osterwunders – oder: Die Osterkerze, die nicht aufgeben wollte

Der Ostermorgen war endlich angebrochen. Auf unserem Rückweg von der Osternacht tauchten wir in den Gesang der Vögel ein – fast fühlte es sich so an, als ob sie für uns frühe Gottesdienstbesucherinnen und -besucher einen vielstimmigen Osterjubel angestimmt hatten. Unsere vier Kinder hatten ihre Osterkerzen in die Fahrradkörbe gestellt und waren voraus gefahren. Trotz des alljährlichen Wettbewerbs, wessen Osterlicht erfolgreich leuchtend nach Hause kam, spurteten sie eilig voraus. Schließlich wartete nach der langen Fastenzeit ein buntes Osterfrühstück mit allerlei Leckereien, auf die sie viele Wochen verzichtet hatten.

Ich lief mit dem Osterlicht in der einen und dem Fahrradlenker in der anderen Hand hinter ihnen her und war einfach nur froh, dass endlich Ostern war. Nach mehreren Wochen durchzogen mit vielen dienstlichen Herausforderungen und einer Erkrankung, der ich nicht die Aufmerksamkeit schenken konnte, die sie eigentlich gebraucht hätte, waren das Wunder des Osterfestes das, was meine Seele brauchte.

Unser ältester Sohn wartete lachend auf mich während er auf seinen Fahrradkorb nebst Schutzblech deutete. „Schau mal, Mama!“, er schüttelte den Kopf, „Die Kerze war umgekippt, aber hat noch gebrannt.“ Auch ich musste das Lachen anfangen, denn das Schutzblech sah aus als ob Vögel im Tiefflug sich fleissig erleichtert hatten. „Das sieht ja aus als ob dein Fahrrad direkt unter einem beliebten Baum für Vögel stand.“

Von Vögeln schrieb auch Hilde Domin in einem Gedicht, das für mich in vielerlei Weise emotional mit Ostern verbunden ist und für mich fast wie eine kleine Anleitung darstellt, wie ich dem Osterwunder gegenübertreten sollte:

Nicht müde werden /

sondern dem Wunder /

leise wie einem Vogel /

die Hand hinhalten

Hilde Domin

Nicht müde werden in Herausforderungen. In Trübsal. Krankheit. Tod. Das ist schwer. Und manchmal will man vielleicht auch gar nicht mehr die Hand hinhalten, weil die Muskeln aufgrund des Widerstands und der vielfach wiederholten Bewegung schmerzen, die Knochen sich anfühlen als ob sie unter dem Druck brechen.

Doch das Osterfest spricht mitten hinein in solche Situationen ein trotziges Trotzdem und streckt Herausforderungen, Trübsal, Krankheit und Tod mutig die Stirn entgegen. Denn Jesus verspricht uns, auch in den Dunkelheiten des Lebens präsent zu sein und die Finsternis als Licht des Lebens zu erleuchten.

Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.

Joh 8,13

Dieses Versprechen Jesu nimmt kaum die uns umgebende Finsternis weg, aber so wie ein einziges Licht in der Dunkelheit Orientierung schenkt, so hält er die Situation mit aus und schenkt trotz allem Hoffnung.

Das trotzige Prinzip des Osterwunders.

Die Osterkerze, die nicht aufgeben wollte, hatte mich daran erinnert. Diese Hoffnung ist nicht immer wunderschön, sondern kommt manchmal wie ein unkontrollierter Ansturm von Vögeln und deren erleichternder Spuren einher. Ein wunderbar unlogisches Trotzdem im Chaos des menschlichen Lebens.

Ausgang und Eingang – Gedanken in der Karwoche

Endlich hatte ich die Osterkrippe aufgebaut. Zwei Tage zu spät. Nach Palmsonntag war mir nicht gewesen, noch hatte ich die Kraft dazu. Traurigkeit, Verärgerung und Fieber hatten in den letzten Tagen das erste Mal in vielen, vielen Jahren ihren Tribut gefordert: das erste Mal brach ich mit der über Jahrzehnte lieb gewonnenen Tradition unsere Osterkrippe mit unseren Kindern an Palmsonntag feierlich aufzubauen.

Heute früh aber war es Zeit dafür geworden. In der Stille der Morgenstunden platzierte ich vorsichtig die fragilen Figuren auf dem Untergrund der Osterkrippe. Flugs hatte sich eine Menge vor den Toren der aus Holz bestehenden Stadt Jerusalem versammelt, die sich Jesus auf dem Eselsfüllen zugewandt hatte und ihm freudig entgegen jubelten. Dabei summte ich leise einen wohlbekannte Kanon vor mich hin.

Ausgang und Eingang. Anfang und Ende.

Mein Blick fiel auf den Weihnachtsstern, der nichts besseres zu tun hatte, als ausgerechnet zum herannahenden Osterfest zu blühen. Ich schüttelte den Kopf über die Launen der Natur, musste aber auch Lächeln. Irgendwie hatte er ja recht, dieser störrische Weihnachtsstern, denn Ausgang und Eingang lagen so nah beieinander. Weihnachten und Ostern. Der Einzug Jesu und sein Tod.

In diesem Jahr fehlte etwas, das sonst nie Platz in unserer Osterkrippe hatte: Weihnachten. Also suchte ich unsere kleine, übersichtliche Krippe mit ihren zarten Figuren und stellte sie auf die andere Seite des Weihnachtssterns.

Ausgang und Eingang. Anfang und Ende.

Ich musste schlucken. Heute würde die Trauerfeier eines Kollegen der Bundespolizei stattfinden. Als Seelsorgerin begleitete ich meine Polizeischülerinnen und -schüler, die ihn kannten und um ihn trauerten, dorthin. Viel zu jung wurde er in Gottes Ewigkeit gerufen und hinterließ eine Witwe, die ihr ungeborenes Kind unter ihrem Herzen trug. Auf einmal waren Ausgang und Eingang so schmerzhaft nah, dass es ein Beben in unserem Innersten auslöste. Sterben und neues Leben. Weihnachten und Ostern. Alles kam an diesem Tag in einem Menschenschicksal zusammen.

Im Psalm heißt es vorher:

Der HERR behüte dich vor allem Übel,
er behüte deine Seele.

Psalm 121,7

Vor allem Übel hatte der Herr den Kollegen nicht bewahrt, aber seine Seele war nun in Gott geborgen. Ostern würde in einigen Tagen anbrechen und hoffentlich die österliche Botschaft, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, auch die Betroffenen mit Zuversicht mitten in dieser schweren Zeit erfüllen.

Denn auch wenn wir es als Menschen kaum ergründen können:

Ausgang und Eingang, Anfang und Ende, liegen bei dir, Herr, füll uns die Hände.

Der Duft der Erinnerung

Vorsichtig drückte ich auf die leicht verblichene Creme-Tube, damit nur nicht zu viel des wertvollen Inhaltes herauskam. Während ich mich damit einkremte, verbreitete sich umgehend der wohlbekannte Duft von süßer Vanille im Raum und würde mich in den nächsten Stunden wie eine unsichtbare Hülle begleiten.

Ich schloss meine Augen und wurde weggetragen aus meiner verregneten deutschen Stadtwohnung ins ferne USA. Länger zurückliegende Kindheitserinnerungen, aber auch schöne Erinnerungen an meine Zeit in New York waren mir durch diesen speziellen Vanille-Duft wieder gedanklich so nah. Die Creme war die letzte, die ich als Souvenir vor drei Jahren mitgebracht hatte. Nun würde sie bald zu neige gehen.

Wie Weihrauch werdet ihr Duft verströmen und aufblühen wie eine Lilie. Erhebt eure Stimme zum Lobgesang und preist den Herrn für all seine Werke. Verherrlicht seinen Namen und stimmt in sein Lob ein mit Singen und Klingen,…

Sir 39,14-15a

So steht es in Jesus Sirach geschrieben. Ich stockte in meinen Gedanken. Selbstverständlich preise ich Gott für all das, was Er getan hat. In meinem Leben sehe ich viele Segensspuren:

Meine Familie…

Gesundheit…

Genug zu Essen und ein Dach überm Kopf…

Menschen, die mir vertrauen…

Personen, die mir nahestehen…

Auslandserfahrungen…

… und so vieles mehr. Aber es gibt auch Zeiten, an denen der Duft der Erinnerung verblasst oder gar nicht mehr da ist. Wo anstatt süßer, verheißungsvoller Vanille andere Nuancen schwer in der Luft schweben und das Atmen erschweren. Manchmal in mir sogar das Gefühl des Erstickens hervorrufen.

Als ich an diesem Tag wieder so haderte während meine Creme fast zu neige war, half mir ein Blick in die Bibel. Dort steht nämlich weiter:

… preist ihn und sprecht so:
Alle Werke des Herrn sind sehr gut; und was er gebietet, geschieht zur rechten Zeit. Und man darf nicht sagen: Was soll das? Wozu ist das? Denn zur rechten Zeit tritt alles ein. Durch sein Wort stand das Wasser wie eine Mauer und durch seine Rede die Wasser, als wären sie eingefasst. Jeder seiner Befehle zeigt sein ganzes Wohlgefallen, und wenn er rettet, kann’s keiner hindern.
Aller Menschen Werke sind vor ihm, und vor seinen Augen ist nichts verborgen. Er blickt von Ewigkeit zu Ewigkeit, und nichts ist unbegreiflich vor ihm. Man darf nicht sagen: Was soll das? Wozu ist das? Denn jedes Ding ist zu seinem Zweck geschaffen. […]

Sir 39,19b ff.

Ich nahm mir fest vor, nicht mehr so viel an Gottes Plan zu hadern und zu hinterfragen. Gottvertrauen war es, das ich mir selbst mahnend vornahm, in den Mittelpunkt zu stellen.

Einige Tage später bummelte ich durch eine lokale Drogeriekette. Wie magisch angezogen griff ich ein saisonales Duschgel aus dem Regal. Sein Inhalt aus Vanille, Macadamia und Kakaobutter verhieß Wunderbares. Ich öffnete den Deckel des Duschgels und wurde umgehend eingehüllt von einem wohlbekanntem Duft. Wer weiß, vielleicht würden sich nach drei schweren, sehr durchwachsenen Jahren zurück in Deutschland doch irgendwann auch hier Erinnerungen einstellen, die ich gerne mit auf meinen Lebensweg nehmen könnte… Das passende Duschgel jedenfalls stand nun als Ablösung zur amerikanischen Creme bereit.

Ramadan-Kalender und Polizeiseelsorge interreligiös

Eilig füllte ich meinen Einkaufskorb mit allerlei Drogerieprodukten. Shampoo, Duschgel, einige Putzmittel… Ich versuchte mich strikt an meinen Einkaufszettel zu halten und huschte an den sonst so attraktiven saisonalen Auslagen vorbei. Heute würden Dekorationen für das herannahende Osterfest in meinem bereits vollen Einkaufskorb keinen Platz finden!

Kaum hatte ich die Objekte der Versuchung erfolgreich umschifft und mich an der Kasse angestellt, schweifte mein Blick unweigerlich beim Warten über die geschickt platzierten Waren im Kassenbereich. Dabei blieb mein Blick wie magisch angezogen an einer Verkaufsauslage für Kalender kleben. Ich blinzelte mehrmals. Es handelte sich nicht um einen Adventskalender, der die Vorfreude auf Weihnachten und das Warten auf das große Fest verschönern würde- nein, für mich als Pfarrerin war ja schließlich vorösterliche Fastenzeit – sondern um einen Ramadan-Kalender.

Genau das Richtige für meine muslimischen Auszubildenden, bei denen der Ramadan zwei später beginnen würde! Ich nahm einen Kalender aus der Auslage und verstaute ihn glücklich seufzend meinen tapferen Entschluss vergessend, im überquellenden Einkaufskorb.

Nur wenige Tage zuvor hatte eine Polizeimeisteranwärterin mutig davon gesprochen, wie schwer es als Muslima war sich „halal“ in Deutschland zu ernähren. Ich war stolz auf meine Schülerin, die von ihren und den Schwierigkeiten anderer angehender Polizeikolleginnen und -kollegen erzählt hatte. An meinem letzten Dienstort in New York war es selbstverständlich gewesen, sich auf die Ernährungsbedürfnisse der unterschiedlichen Glaubensgeschwister einzustellen. „Halal“ und „kosher“ waren dort in jeder Kantine, an jedem Buffet (in Restaurants sowie so) eine Selbstverständlichkeit. Auch ich hatte bei Veranstaltungen stets neben dem bunten Vielerlei an Speisen, die Christinnen und Christen essen konnten, Essen bereitgestellt, das für muslimische und jüdische Glaubensgeschwister zulässig und erlaubt war. Für mich ein praktischer Ausdruck des Gebots der Nächstenliebe, das meinen Glauben als Grundlage trägt.

Als ich den Ramadan-Kalender in einem deutschen Drogeriemarkt sah, ging mir daher das Herz auf. Ich wollte meiner mutigen Polizeischülerin eine kleine Freude machen und ihr damit zeigen, dass sie und andere muslimische Kolleginnen und Kollegen wertgeschätzt und von „ihrer“ Polizeiseelsorgerin in ihren Bedürfnissen wahr und ernst genommen würden.

Polizeiseelsorge ist für alle da. Ob ohne oder mit Glauben. Christlich. Muslimisch. Jüdisch. Hinduistisch. Buddhistisch. Shintoistisch. …

Dort, wo eine Kollegin oder ein Kollege Hilfe, Rat und Tat benötigt, da ist Polizeiseelsorge präsent.

Zwei Tage später übergab ich den Ramadan-Kalender verbunden mit der Anweisung, den Kalender und dessen dreißig Türchen mit anderen muslimischen Kolleginnen und Kollegen zu teilen. Fast fühlte ich mich selbst umgeben von christlicher und muslimischer Fastenzeit wie ein kleines Kind, das nicht erwarten kann, den Adventskalender zu öffnen.

Nächstenliebe ganz praktisch und interreligiös. Für mich eine Kernaufgabe von Kirche und Seelsorge.

Probieren Sie es doch selbst einmal aus! Ich kann Ihnen versprechen: es macht glücklich in den muslimischen Nächsten als christliche Glaubensschwester die Freude über die erlebte Annahme und des Verständnisses strahlen zu sehen.

Von Sehnsuchtsorten und Bedenken um kirchliche Gegenwart und Zukunft

„Wo wohnt deine Sehnsucht?“

Ich sah sprachlos auf die kleine Karte, die mir am Anfang des Gottesdienstes der evangelisch-reformierten Kirche in Erlangen mitsamt Gesangbücher und Gottesdienstblatt überreicht worden war. Die abgebildeten Berge umsäumt von einem blauen Himmel, luden durch die fast mittig platzierte Schaukel zum gedanklichen Innehalten ein.

Ich atmete durch und setzte mich mit meiner Familie statt auf eine Schaukel in die letzte Stuhlreihe des Gemeindesaals, die noch nicht belegt war. Sehnsucht nach der alten reformierten Heimat im fernen Schottland hatte mich zum zweiten Mal in diese Gemeinde gelockt. Doch dass nun der Gottesdienst dieses Thema aufnehmen würde, erstaunte mich sehr.

„Wo wohnt deine Sehnsucht?“

hatte der Schwabacher Pfarrer Dr. Guy M. Clicqué in seiner Predigt die anwesenden Gottesdienstbesucher gefragt. Gerne hätte ich von meinem geistlichen und gemeindlichen Sehnsuchtsort erzählt. Mein Herz schrie stumm immer wieder Orkney, doch als Besucherin behielt ich dies für mich, lauschte stattdessen den Worten des Predigers und ließ mich treiben in der Vertrautheit des reformierten Gottesdienstes.

Als am Nachmittag aus dem Sehnsuchtsort Orkney ein Anruf kam, staunte ich nicht schlecht. Doch die Nachrichten aus meiner alten schottischen Gemeinde waren alles andere als rosig: Während meines Amtsbeginns dort im Jahr 2007 waren es noch sechs ganze Pfarrstellen auf dieser nördlich gelegenen schottischen Inselgruppe gewesen. Nun sollte es nur noch eine Pfarrstelle und eine Gemeinde für die Inselgruppe geben, denn die Church of Scotland befindet sich im freien Fall. Hunderte Kirchen werden in den nächsten Jahren schließen müssen und damit Pfarr- und Gemeindestellen gestrichen (Link: BBC). Die so stolze einstige schottische Nationalkirche, in der ich dank lutherischem und schottisch-reformierten Examen habe arbeiten dürfen und deren Niedergang sich damals nur sehr vage am Horizont als zaghaftes Dämmern abzeichnete, wird schon bald als eine kleine religiöse Minorität existieren.

Was dort innerhalb von nicht einmal zwanzig Jahren geschehen ist, war nicht vorhergesehen und schließlich durch die Corona-Jahre beschleunigt worden – und langsam scheint es auch in meiner eigenen lutherischen Kirche in Bayern in das Bewusstsein zu rücken. Mit Bauchschmerzen beobachte ich schon lange die besorgniserregende Entwicklung der Mitgliedszahlen, die durch eine defizitäre Aufarbeitung der Missbrauchsfälle nun zusätzlich zu den Nachwirkungen der Pandemie beschleunigt wird. Ja, ich mache mir Sorgen. Sorgen um meinen Sehnsuchtsort Orkney, aber auch um meine bayerische Heimatkirche.

Wie nur können wir andere glaubwürdig von einer offenen und willkommen heißenden Kirche überzeugen? Vielleicht ist der Schlüssel hierzu, dass Gemeinden und kirchliche Gruppen ein Sehnsuchtsort sind, an dem Glauben und Himmel den Menschen entgegenkommen, die Gottes Nähe suchen.

Nachdenklich wendete ich die Karte, auf deren Rückseite das Vorderbild nur dezent abgedruckt worden war und hierdurch Platz für die Notierung des eigenen Sehnsuchtsortes geschaffen worden war. Viele weitere Orte fielen mir neben Orkney ein – zwei besondere Hauskreise, mehrere Gemeinden, die in aller Herren Länder mir ein Zuhause gewesen waren, aber auch ganz „weltliche“ Orte wie Carnegie Hall oder das Café meiner Kindheit und Jugend, und so viele mehr.

„Wo wohnt deine Sehnsucht?“, lieber Leser, liebe Leserin. Eine kleine Inspiration hierfür kann das Lied „Da wohnt ein Sehnen tief in uns“ sein, das die englische Komponistin Anne Quigley 1973 schrieb und wir selbstverständlich im Gottesdienst sangen. Ich freue mich, entweder per Email oder anhand dieser Umfrage von Ihnen zu hören.

Kleider machen Leute – oder: von Erfahrungen innerhalb eines vielfältigen Amtslebens

Ein Beitrag zur Debatte um Kleidungskultur bei Pfarrpersonen

Kleider machen Leute. Dank des deutschen Lehrplans sind wohl die meisten von uns in der Schulzeit in die Geschichte des Schneidergesellen Wenzel Strapinski eingetaucht, der sich trotz Armut gut kleidete. Gottfried Keller gelang mit seiner Novelle „Die Leute von Sedwyla“ 1874 nicht nur eine der bekanntesten deutschen Erzählungen zu verfassen, sondern greift ein zentrales Thema auf, an dem keiner von uns vorbei kann: Kleidung und, dass wir mit ihr (bewusst oder unbewusst) Signale aussenden, die unter Umständen etwas über unseren Beruf, unsere Lebens- oder politische Einstellung, finanziellen Status und so vieles mehr aussagen.

Kleider machen oberflächlich betrachtet Leute.

Doch die Emotionalität, die auf ein Posting der Kirchlichen Studienbegleitung Bayern (KSB) folgte, in der sich Regionalbischöfin i. R. Susanne Breit-Keßler zu der Frage positionierte, was Pfarrpersonen anziehen sollten, verließ meiner Meinung nach jegliche Netikette. Das Sonntagsblatt. 360 Grad Evangelisch berichtete hierzu.

Die darauffolgenden Diskussionen haben mich angeregt, das Thema „Kleidung“ innerhalb meines beruflichen Lebensweges als Theologin und Pfarrerin näher zu betrachten. Daher öffne ich nun für euch meinen „dienstlichen“ Kleiderschrank, wie er sich veränderte und welche Gedanken damit verbunden sind.

Praxisjahr für Theologiestudierende – von Uniformen und Serviceorientierung

Nach vier Semestern Grundstudium und der damit akquirierten „Sprachenreife“ kam ich der damals üblichen Verpflichtung nach, mindestens ein Jahr außerhalb des kirchlichen Dienstes zu arbeiten. Eineinhalb Jahre arbeitete ich als Flugbegleiterin bei Japan Airlines (JAL) und war das erste Mal mit Fragen bezüglich Uniform konfrontiert worden. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Wahl der Kleidung zumeist eine individuelle Entscheidung gewesen, die sich teilweise an vermuteten Erwartungen (wie z.B. öffentlichen Veranstaltungen) orientierte. Nun wurde im Beruflichen der Maßstab von der Fluglinie vorgegeben, in dem nur wenig eigener Spielraum für Individualismus war.

Im „Style Book for Cabin Attendants“ (dt. „Stilbuch für Flugbegleiter“, Üs. MG) schrieb der damalige Geschäftsführer Yoshiro Ashiba:

Keep in mind that customers are always looking at you.

Naturally, the uniforms you wear are important for projecting the proper image to our customers but, as always, we should reconfirm now that it is you as an individual who determines wether your customers receive an impression of a caring, dependable and professional attendant when they encounter you.

Japan Airlines, Cabin Services Dep.: Style Book for Cabin Attendants, p. 1

(Übersetzung: siehe Anmerkung 1)

Hierbei war alles genau geregelt: Ob Hierarchie, Schuhwerk, Frisur, Nagellack oder Make-Up. Alles unterlag den Vorschriften der Fluggesellschaft.

Die Uniform hatte zum Ziel die Serviceorientierung der Fluggesellschaft, ein attraktives Äußeres und Funktionalität zu vereinen, um JAL als erstklassigen Dienstleister darzustellen. Die Individualität der Person und die Freiheit zur eigenen Gestaltung fand hierbei nur in engen Grenzen einen Raum.

Kleider machen Leute und Flugbegleiter in ihrer Rolle als Dienstleistende transparent.

Auslandsdienst in der Church of Scotland – von Individualität und Freiheit

Nach erfolgreichen bayerischen Examen und Ordination ging es zum Auslandsdienst in der Church of Scotland. Hier legte ich das dortige reformierte Examen ebenso ab und durfte drei Jahre als Inselpfarrerin auf Orkney arbeiten.

Während in den deutschen Landeskirchen unterschiedliche Kleiderordnungen herrschen, schreibt die Church of Scotland als sogenannte „Broad Church“, die verschiedene Frömmigkeitsformen in sich versucht zu vereinen, keine solche vor. Aufgrund der schmerzhaften Geschichte, die von Streitigkeiten und Kirchenspaltungen dominiert worden war, stellte die freiheitliche Gestaltung des Amtes auf dem Boden der eigenen innerprotestantischen Glaubensrichtung ein hohes Gut da. Ich durfte dort ebenso meinen bayerischen Talar mit Samtsattel tragen, wie Kollegen einen Cassock, der seinen Ursprung in der römisch-katholischen Kirche hat. Manch ein Kollege trug durchaus sehr farbenprächtige Gewänder und mit etwas Neid schielte ich ab und an zum Kollegen, der in „Kirchenlila“ einen wunderschönen Cassock trug – eine Farbe, die in Bayern Regionalbischöfinnen und -bischöfen vorbehalten ist und mir als einfacher Pfarrerin wohl immer verwehrt bleiben würde. Nach erfolgreich bestandenen schottischen Examen schenkte mir meine Gemeinde eine Stola, die mich nicht nur als „Menschenfischerin“ sichtbar werden ließ, sondern auch durch das maritime Bild meinen damaligen Tätigkeitsort anklingen ließ.

Kleidung war in der Church of Scotland eine Frage der eigenen freiheitlichen Entscheidung und konnte als Spiegel der persönlichen religiösen Verortung diese öffentlich sichtbar werden lassen.

Kleider machen Leute, schenken Freiheit und können unter Umständen ein äußerer Ausdruck religiöser Verortung der Pfarrperson sein.

Gemeindepfarramt in Bayern – von der Frage nach Freiheit und Vorschriften

Wieder in die bayerische Landeskirche zurückgekehrt, musste ich die gestalterische optische Freiheit abrupt hinter mir lassen. Zwar hatte ich nie meinen bayerischen Talar mit Samtsattel abgelegt, was ich jedoch unter dieser Amtskleidung trug, hatte ich stets in Eigenverantwortung gewählt.

Nun war es nicht die Landeskirche, sondern ein Kirchenvorstand, der die Freiheit der Kleidung unter dem Talar festlegte: selbst die zu tragenden Schuhe und Strümpfe mussten eine gedeckte Farbe haben – und am besten schwarz sein. Für mich war dies nur eine vieler Ausdrucksformen eines Ringens um eine Sichtbarkeit von Kirche, wie sie z.B. durch diejenigen geschieht, die Gottesdienste leiten.

Noch heute empfinde ich die damalige Bekleidungsregelung als eine Einschränkung. Wahrscheinlich hätte ich von mir aus kein gewagtes Schuhwerk noch schrillbunte Socken unter meinem sehr schlichten bayerischen Talar getragen, aber es war der Inhalt, der mir zu schaffen machte: Wer durfte in welchem Maß bis hin zur selbstgewählten Bekleidung unter der Amtsrobe über eine Pfarrperson entscheiden, die eigentlich aufgrund des Evangelischem einer persönlichen Freiheit des Glaubens verpflichtet war? Aus einer freiheitlich orientierten Kirche wie der Church of Scotland kommend, war es für mich hartes Brot… Doch was Paulus damals über die Rücksicht auf das Gewissen schrieb, wurde mir Richtschnur: mag es Opferfleisch oder Socken sein.

Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient.

1. Kor 10,23-24

Kleider machen Leute, aber nicht alles ist hilfreich.

New York, New York – bunte Vielfalt als Spiegel der göttlichen Schöpfung

Mit meiner Tätigkeit als EKD-Auslandspfarrerin in New York öffneten sich für mich neue Welten: theologisch konnte ich in einer Vielfalt wachsen, derer ich in dieser turbulenten und vielfältigen Stadt auf Schritt und Tritt begegnete. Buntes Miteinander war der Erfahrungshorizont, der mich zutiefst prägte und durch die Multireligiösität, die mir in der interreligiösen Arbeit an der UN, aber auch innerhalb der NYPD entgegen kam, ein wunderbarer Schatz, der mir eine eigene Identität als lutherische Pfarrerin in einer vielgestaltigen, globalisierten Welt ermöglichte.

Spiegel hierfür war meine klerikale und durchaus feminine Kleidung, die ich bei einer Bekannten aus meiner schottischen Zeit erworben hatte: Kleider, Blusen und Röcke für Frauen im Pfarramt. Zugegebener Maßen ließ ich Lila aus besagten Gründen aus. Doch neben vielfachem, gedeckten Schwarz, gibt es auch in meinem Kleiderschrank klerikale Kleidung in Alltagsblau, Pfingstrot oder Trinitatisgrün. Dazu schönes Schuhwerk. Es bereitete mir Freude, feminine Aspekte in meine Berufskleidung zu integrieren, wobei ich die lebhafteren Farben nie unter meinem Talar, sondern zu Empfängen und wichtigen Ereignissen je nach Anlass und Kirchenjahr trug.

(Kleidung von „House of Ilona“. Leider stellt Camelle Ilona diese nicht mehr her.)

In dieser beruflichen Phase tat mir die Möglichkeit sehr gut, feminine geistliche Kleidung zu tragen, denn zumeist habe ich in einem schmerzhaft dominanten männlichen Umfeld erlebt, wie weibliche Sichtweisen wenig gehört und noch weniger gesehen wurden.

Kleider machen Leute und geben Frauen die Möglichkeit, einem traditionell männlichem Beruf eine feminine Note zu verleihen.

Im Einsatz der Bundespolizei – Uniform und äußere Uniformität

Mit dem Beginn meiner Tätigkeit als Polizeiseelsorgerin in der Bundespolizei wurde mir eine neue Verantwortung übertragen: mit der Uniform war ich in die doppelte Verantwortung gegenüber der Bundesrepublik und der Kirche gestellt. Bereits im Bewerbungsgespräch fragte mich mein jetziger Vorgesetzter, ob ich Vorbehalte gegen das Tragen einer Uniform hätte.

Ihren Ausdruck bekam die Doppelverantwortung durch eine polizeiliche Uniform auf deren Schultern ich sprichwörtlich mein Kreuz trug. So ließ ich äußerlich meine evangelische und feminine Gestaltungsfreiheit hinter mir und tauchte als Seelsorgerin in die Welt einer Sicherheitsbehörde ein.

Beim Tragen der Uniform ist Genauigkeit nicht nur in der Tätigkeit gefordert, sondern im Dienst und verleiht diesem Anspruch den äußeren Ausdruck durch das richtige Tragen der Uniform. Die Polizeidienstvorschrift (PDV) 014 regelt die Bestimmungen zum Erscheinungsbild und das Tragen der Dienstkleidung in der Bundespolizei. Hierin werden die Grundformen aller zu tragender Dienstkleidung sowie die zur jeweiligen polizeilichen Aufgabe und aus verschiedenen Anlässen notwendigen Abweichungen geregelt. Ein mir sehr wertgeschätzter Kollege, wies mich in die Regularien ein und half mir damit manche dienstliche Klippe zu umschiffen.

Ich lernte durch meine Tätigkeit als Seelsorgerin in der Bundespolizei, dass das Tragen einer bestimmten Form von Kleidung – nämlich der Uniform einer Sicherheitsbehörde – mit viel Verantwortung einhergeht.

Kleider machen Leute und machen unter Umständen die Verantwortung des Amtes transparent.

Eine kleine Reflexion zu Dienstkleidung anhand meiner eigenen dienstlichen Stationen als Pfarrerin und Seelsorgerin.

Gottfried Keller hatte Recht: Kleider machen Leute. Aber wir sollten Aspekte, die mit ihr in unserer Tätigkeit als Pfarrpersonen transportiert und vielleicht sogar dadurch vielschichtig diskutiert werden, nicht vergessen: Dienstleistung, Freiheit, Hierarchie, Einschränkung, Identität, Gleichberechtigung und Verantwortung.

Kleider machen Leute und machen Aspekte von Dienstleistung, Freiheit, Hierarchie, Einschränkung, Identität und Verantwortung sichtbar.

Ich wünsche mir so sehr, dass die von Frau Breit-Keßler begonnene Diskussion in evangelischer Freiheit, aber auch Würde geführt wird. Denn eine Antwort ist ebenso schwer zu geben, wie Kleidung vielgestaltig ist – eine adäquate Umsetzung kann wohl nur im jeweiligen Umfeld verantwortlich getroffen werden und erfordert eine gewisse Flexibilität im Denken, Reden und Agieren.


(1) Denken Sie daran, dass Kunden Sie immer ansehen. Natürlich sind die Uniformen, die Sie tragen, wichtig, um bei unseren Kunden den richtigen Eindruck zu vermitteln, aber wir wollen ebenso bekräftigen, dass Sie als Einzelperson darüber entscheiden, ob Ihre Kunden den Eindruck eines fürsorglichen, zuverlässigen und professionellen Flugpersonals haben, wenn sie Ihnen begegnen. (Üs. MG)

Lesen gegen Hass 3: Vergesst den Ukraine-Krieg nicht!

Während ich den in Orange-, Grün- und Gelbtönen gehaltenen Graphic-Novel las, umgab mich leise Begleitmusik. Als ich zur nächsten Seite umblätterte, musste ich erstaunt innehalten.

I’m gonna lay down my burden, 
Down by the riverside,  
Down by the riverside,  
Down by the riverside.  
Gonna lay down my burden,  
Down by the riverside,  
Down by the riverside. 


I ain’t go study war no more,  
study war no more, 
ain’t go study war no more. 
I ain’t go study war no more, 
study war no more, 
ain’t go study oh war no more.

Gospel „Down by the riverside“

Ich erhöhte die Lautstärke während ich verdutzt die nächste Seite des Graphic Novel umblätterte. In der elften Kalenderwoche erzählten eine ukrainische Journalistin und ein russischer Künstler jeweils von der sie umgebenden Traurigkeit über einen Krieg, der beide zutiefst betraf. In dieser Woche hatte der russische Künstler ein Konzert des ukrainischen Sängers Ivan Dorn besucht, währenddessen dieser Aufnahmen aus dem Krieg zeigte, die zu Tränen rührten.

Sich mit Krieg nicht auseinanderzusetzen wie dies im alten Gospel beschrieben wird, ist gegenwärtig unmöglich. Hilfreich ist es zu wissen, dass dieser höchstwahrscheinlich im Anschluss an den Sezessionskrieg im Juni 1865 bzw. des ersten Weltkrieges als Ausdruck einer Kriegsmüdigkeit entstand. Die Gospel-Lyrik von „Down by the Riverside“ hat biblische Wurzeln, die in vielfacher menschlicher Ungerechtigkeitserfahrung und dem Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit ihre sehnsuchtsvolle Quelle haben. Grundlage für diesen Gospel waren Bibelabschnitte wie Mi 4-5 und die zu Tage tretende Diskrepanz zwischen Sehnsucht nach einem Friedensreich und harter, ja manchmal sogar brutaler Realität in Auseinandersetzung, Gewalt und Tod.

Als Christin und Theologin sehne ich mich ebenso nach einem solchen Friedensreich, aber angesichts der vielen Kriege, vor allem des Ukraine- und Israel-Gaza-Krieges werde ich ratlos. Was soll ich meinen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern sagen? Welchen Deutungshorizont kann ich ihnen in dieser schwierigen Zeit geben? Selbstverständlich könnte ich multiple Lehren wie sie beim biblischen Pazifismus, bei Augustin, Thomas von Aquin und Kant zu finden sind, im Unterricht ausbreiten. Aber reichen diese ethischen Modelle und postulierten Handlungsmaximen? Sind sie nicht vielmehr überheblich, wenn auf sie allein zurück gegriffen wird – noch dazu wenn die lehrende Person, die in einem sicheren Land lebt, keine Kriegserfahrung und – betroffenheit hat?

Daher werde ich in meinem berufsethischen Unterricht andere zu Wort kommen lassen und hierdurch einen Anknüpfungspunkt für einen Umgang mit Krieg und Frieden suchen, der in einer persönlichen Perspektive Betroffener liegt. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass Polizistinnen und Polizisten in ihrer Handlungskompetenz eine ganz konkrete Schlüsselkompetenz für unsere Demokratie und Gesellschaft übertragen bekommen, die sich in der Wahrung der Menschen- und Grundrechte im Umgang mit dem Einzelnen ausdrückt.

Einen Zugang zu einer persönlichen Perspektive kann der Graphic Novel „Im Krieg“ von Nora Krug schenken. Nach „Heimat: ein deutsches Familienalbum“ und „Über Tyrannei – zwanzig Lektionen für den Widerstand“ ist dies der dritte Graphic Novel von Nora Krug, den ich in meiner Reihe „Lesen gegen Hass“ vorstelle. Dieser ist in Englisch, Deutsch und Koreanisch erschienen.

In diesem Bildroman begleitet die deutsch-amerikanische Illustratorin eine ukrainische Journalistin und einen russischen Künstler. Aus einem persönlichen Blickwinkel werden zwei Leben im Krieg portraitiert und zwei Tagebücher über ein Jahr nebeneinander Woche um Woche dargestellt. Hierzu hatte Nora Krug wenige Tage nach der russischen Invasion der Ukraine zu einer ukrainischen Journalistin in Kiew und einem russischen Künstler in Sankt Petersburg aufgenommen. Es sind persönliche Einblicke, die dem Leser und der Leserin in deren Leben geschenkt wird. Wir begleiten sie in ihrem Kriegserleben zu ihren Familien und Freunden, zu ihrer Arbeit und dem Meistern eines Lebens, das durch den Krieg komplett auf den Kopf gestellt wurde.

Der Bildroman schafft eine persönliche Ebene, die Betroffenheit und Nähe schenkt und damit einen Zugang für einen Unterricht jenseits abstrakter Kriegs- und Friedenstheorie ermöglicht. Dies ist wichtig, denn Polizistinnen und Polizisten handeln stets im Konkreten und beeinflussen unter Umständen Leben nachhaltig in deren Verlauf.

Ich gebe zu, dass auch ich manchmal angesichts der vielen Kriege, vor allem des Überfalls der Hamas auf Israel und Russlands auf die Ukraine trotz meiner Lebenswirklichkeit in einem demokratischen Land zu leben, in dem Frieden herrscht, kriegsmüde werde. Gerne würde ich mit in den Gospel einstimmen und singen: „I ain’t go study war no more“. Aber ich bin es denen schuldig, die konkret unter Krieg, Gewalt und Tod leiden, dass die gestärkt werden, die für unsere Demokratie einstehen werden. Gegenwärtigen und zukünftige Generationen, die durch Bildung und Unterricht zugerüstet werden.

In meinem Falle sind es die angehenden Polizistinnen und Polizisten der Bundespolizei. Wie diese Frieden und Gerechtigkeit umsetzen, kann im Rahmen des geltenden Gesetzes und des eigenen Gewissens nur jeweils die einzelne Person entscheiden und in ihrem Handeln transparent werden lassen. Und bei anderen sind es die jeweiligen Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten, Kinder, Enkel oder Patenkinder, die ihnen anvertraut sind.

Ich drehte die Musik noch etwas lauter – meine Gedanken verloren sich im sehnsuchtsvollen Klang des Gospels und Bildern von Musikerinnen und Musikern rund um den Globus, die diesem Sehnen vielgestaltig Ausdruck verliehen.

#WeRemember : Bildung als wichtigste „Waffe“ gegen Antisemitismus

Gedanken einer Polizeiseelsorgerin

Grußwort zum Internationalen Tag des Holocaust-Gedenken, Israelitische Kultursgemeinde Bamberg

Das folgende Grußwort habe ich im Rahmen der Gedenkveranstaltung anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocausts in der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg gesprochen. Es sind persönliche Perspektiven, einer Polizeiseelsorgerin, die nicht nur das Gedenken, sondern auch die Tätigkeit angesichts schwieriger gesellschaftspolitischer Entwicklungen in den Mittelpunkt stellt:

(Es gilt das gesprochene Wort)

Die Zeit vergeht wie im Flug. Vor drei Jahren saß ich im Flugzeug und sah gespannt aus dem Fenster während meine alte Heimat New York immer kleiner wurde und schließlich unter den Wolken verschwand. Unendlich viele Gedanken gingen mir durch den Kopf während ich eine Stadt und ein Land hinter mich ließ, das fast sieben Jahre meine Heimat war.

Besonders schmerzhaft war es, meine jüdische Freundin Pam, ihre so wunderbar engagierte jüdische Tafel und ihre Synagoge, die mir eine geistliche Heimat geworden war, zurücklassen zu müssen.

Tröstlich für uns beide war der Grund meines Rückzuges nach Deutschland – ein Auftrag, zu dem ich berufen worden war: im größten bundespolizeilichen Aus- und Fortbildungszentrum als Seelsorgerin die nächsten Generationen von Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärterinnen nicht nur zu begleiten, sondern sie innerhalb des Faches Berufsethik zu wappnen, um gegen Antisemitismus, Rassismus und jegliche Form des Extremismus vorzugehen und als Hüterinnen und Hüter unser Grundgesetz gegen jedweder Angriffe tätig zu schützen.

Es waren Tränen der Trauer, aber auch der Zuversicht, die damals flossen, denn wir beide wussten aufgrund der Geschehnisse in USA, wie notwendig dies war. Dort hatten wir gemeinsam die sehr diskutable Trump-Administration durchlebt, gingen gemeinsam zu hunderttausenden aufgrund eines antisemitischen Anschlages in New Jersey auf die Straßen und setzten Zeichen gegen diese schlimme, mörderische Irrlehre, die unverhohlen in einer der ältesten Demokratien zu Tage trat, durch Wort und Tat. Damals war ich froh und dankbar, dass dies in Deutschland nicht so war. Doch um dem vorzuschützen drang ich zu einer Rückkehr, um im Herzen der Demokratie die zu wappnen, die für sie im Extremfall einzustehen hätten: Polizistinnen und Polizisten in der Bundespolizei.

Aber die Zeit vergeht wie im Flug. Drei Jahre sind so schnell ins Land gegangen und was ich vorher als Prävention betrachtete, die eine weit weg stehende, vielleicht sogar in Deutschland eher unwahrscheinliche Variante von besorgniserregenden Geschehnissen betrachtete, trat nun sichtbar in unserem Land die Öffentlichkeit:

mit der Enthüllung einer Zusammenkunft rechter Kräfte in der Villa Adlon am Lehnitzsee in Potsdam am 25. November 2023 wurde bittere Realität, was ich befürchtet hatte und daher mit Bildung dagegen vorgehen wollte.

Während ich den Berichterstattungen lauschte, wurde Anklänge an die lang vergangene Geschehnisse umgehend vor meinem inneren Auge wach. Vielleicht ging es Ihnen ja genau so wie mir?

Damals, am 20. Januar 1942, waren hochrangige Vertreter des NS-Regimes zu einer Besprechung in einer Villa in Berlin-Wannsee zusammengekommen, die als Wannsee-Konferenz in die Geschichte einging, um ihren mörderischen Plan zu vereinbaren, auszuarbeiten und schließlich umzusetzen.

Aus meiner Sicht ein wahrer Alptraum.

Die Analogien haben viele aufgeschreckt und zu Demonstrationen auf die Straßen Deutschlands gegen das menschenverachtende Gedankengut gesandt. Ich bin dankbar um diese wichtigen Zeichen der Demokratie – denn mit dem Grundgesetz ist das Demonstrationsrecht in Art. 8 GG gesichert. Ich kenne eine Reihe von Pfarrkolleginnen und -kollegen, die das erste Mal dieses Recht in Anspruch nahmen und an einer der Demonstrationen gegen rechts teilnahmen. Auch ich war selbstverständlich Teil dieser Zeichensetzung, so wie ich es in meiner New Yorker Zeit gegen Antisemitismus, Rassismus und andere Formen des Hasses war. Noch gut erinnere ich mich an eine Demonstration, wo wir zu hunderttausenden über die Brooklyn Bridge marschierten, um gegen den unverhohlenen Antisemitismus, der in der Amerikanischen Gesellschaft zu Tage getreten war, mit meiner Partnerorganisation American Jewish Committee ein unübersehbares Zeichen zu setzen: wir sind viele und eine Mauer gegen Hass! Was damals so war, erlebte ich nun hier in Bamberg ebenso.

Dennoch bin ich als Pädagogin, Ethikerin und Pfarrerin der Meinung, dass es mehr bedarf als Zeichen der Solidarität. Bildung ist die wichtigste Waffe, die wir haben, um die gegenwärtigen und kommenden Generationen zu stärken und für unseren Kampf um Demokratie, Menschenrechte und ein Grundgesetz, das alle schützt, zu gewinnen.

Nie wieder darf geschehen, was im damaligen mörderischen NS-Regime geschah. Über 6 Millionen Menschen wurden brutal ermordet. Aber auch dies ist nicht nur das dunkelste Kapitel unserer Menschheitsgeschichte, sondern es wird seit dem 7. Oktober weitergeschrieben!

Nie wieder darf geschehen, was am 7. Oktober durch den brutalen Überfall der Hamas und deren Morden geschehen ist. Ich habe keine Worte für diese Geschehnisse – aber für mich sind sie eine Fortsetzung des Holocaust und zwar auf dem Boden des Heiligen Landes, das eigentlich ein Schutzort und eine sichere Heimat für Jüdinnen und Juden sein soll.

Die evangelische Seelsorge in der Bundespolizei steht mit ihren Seelsorgerinnen und Seelsorgerinnen im gesamten Bundesgebiet und wir als Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrum vor Ort hier in Bamberg dafür ein,

dass Menschenhass mit keinem Wimpernschlag, keiner Geste geduldet wird,

dass Mord und Qual aufgrund von Religion, Abstammung und Nationalität keinen Ort in unserem Land hat,

dass unser Grundgesetz, das zum Mittelpunkt die Menschenwürde hat, geschützt und als für alle gleichermaßen gültig umgesetzt wird.

Dies habe ich nicht nur damals als ich New York verließ, meiner jüdischen Freundin versprochen, sondern dem bin ich als deutsche Staatsbürgerin zutiefst verpflichtet. Wir stehen mit Israel und verurteilen jegliche Form des Antisemitismus, Rassismus und Extremismus. Unsere Hauptwaffe hierbei ist Bildung, die jeder angehende Polizist und Polizistin erhält.

Lassen Sie uns daher zusammenstehen – Zeichen der Solidarität und der aktiven Geschwisterlichkeit nicht nur punktuell setzen, sondern es durch unser Leben und Handeln weben.

Am Israel Chai.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 

Pfarrerin Miriam Groß, IKG Bamberg, 28.1.2024
(Bild: Patrick Nitzsche, Antisemitismusbeauftragter der Stadt Bamberg)

Von Erinnerungen an JAL, Extremsituationen und berufsethischem Unterricht

Ich rüttelte ungeduldig mit kleinen, aber bestimmten Bewegungen an der Besteckschublade. Mal um Mal verkeilte sie sich aufgrund der unterschiedlich großen Besteckteile: ob kleiner Espresso-Löffel, spitz-zulaufende Fleischgabel, Buttermesser oder Kinderbesteck, alles besondere aus der heimischen Bestecksammlung war hier verstaut. Ich seufzte als die Schublade sich endlich öffnete. Als „Übeltäter“ stellte sich ein kleiner Babylöffel in Flugzeugform heraus. Vorsichtig nahm ich den in die Jahre gekommenen Löffel heraus, auf dessen Oberfläche in bunter Schrift „JAL BABY CRUISE“ aufgedruckt war. Nachdenklich sah ich den Löffel an, mit dem so viele Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit bei Japan Airlines (JAL) verbunden war.

Gestern erst war ein Passagierflugzeug des Typs A350 meiner ehemaligen Fluggesellschaft am Flughafen Haneda mit einem Flugzeug der Küstenwache zusammengestoßen und vollkommen in Flammen aufgegangen. Alle 379 Passagiere überlebten dank des schnellen Reagierens der Besatzung. Welch eine große Leistung! Vor solchen und anderen Notfällen haben alle Crew großen Respekt – während meiner Fliegerzeit hatte ich keine größeren Notfälle mit begleiten müssen. Schlüssel, um diese und andere Extremsituationen zu überstehen, ist eine gründliche Ausbildung für diese Situationen.

Während meiner Ausbildung zur Flugbegleiterin bei JAL hatte ich daher gemeinsam mit meinen Kolleginnen ein ausführliches Notfalltraining in deren Trainingszentrum in Tokyo durchlaufen. In all dem Ernst machten all die Inhalte unglaublich viel Spaß, denn die Situationen wurden äußerst realistisch simuliert und so lange wiederholt, bis auch das kleinste Detail wie im Schlaf saß. Noch heute kann ich mich an die Kommandos in Japanisch und Englisch erinnern. Aus meiner Trainingszeit habe ich noch eine kleine Erinnerungskarte für die wichtigsten Punkte bei einer Notfall-Landung, die Crew zu beachten haben, um richtig reagieren zu können. Während Pausen habe ich immer wieder kurz die dunkelgrüne Karte herausgezogen und mich an die Stichpunkte wieder in Erinnerung gerufen. Man wusste ja nie… Bis heute bin ich dankbar, dass ich in den über 1200 Flugstunden dieses Wissen nie anwenden musste.

Was übrig lieb, sind wunderbare Erinnerungen an eine besondere Zeit – von manchem erzähle ich viele Jahre später meinen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern im berufsethischen Unterricht, wenn es um Extremsituationen geht. Von randalierenden Passagieren und Herzstillständen. Und von der Ausbildung für Extremsituationen in Tokyo. Sie reichte von Bränden an Bord über Notlandungen mit Evakuierung über Rutschen bis hin zu stürmischen Wasserlandungen und Rettungsbooten. Schlüssel für ein Meistern dieser und anderer Extremsituationen ist es, die Abläufe zu verstehen, in ihrer Abfolge einzustudieren bis sie automatisch ablaufen. In der polizeilichen Ausbildung sind dies zahllose Abläufe, die so in Extremsituationen das Leben der Betroffenen retten werden.

Die Crew der JAL-Maschine hatte die Ausbildung, die ich vor langem erhalten hatte sicherlich in derselben Intensität und Genauigkeit durchlaufen und hart geübt bis die Abläufe in Fleisch und Blut übergegangen waren, und so allen 379 Passagieren das Leben gerettet.

Der Babylöffel von JAL lag leicht in meiner Hand. Er schien so klein und die Erinnerungen an die längst vergangene Zeit so weit weg. Die verbleichende Schrift stimmte mich etwas wehmütig, da ich sicherlich nie wieder einen Umlauf fliegen würde oder für andere Extremsituationen ein Training in dieser Weise erhalten würde. Doch wenigstens meine Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter würden von den spannenden, etwas verrückten, aber für polizeiliche Perspektiven sehr praxisnahe Geschichten einer Polizeipfarrerin profitieren.