Im Zeichen von „Schutz und Fürsorge“

Vertrauensvoll folgte ich einer durch mehrere Telefonate und Online-Meetings bekannten Stimme, die mich durch den Beton-Dschungle des hannoverschen Messegelände lotste. Zugegebenermaßen aufgeregt öffnete ich die schwere Glastür zu einem langen lichtdurchfluteten Gang, von dem in pragmatischer Weise verschiedene Büroräume betretbar waren. Am Ende des Ganges kam mir Lea D. lächelnd entgegen und begrüßte mich herzlich. Endlich war ich am Kirchentag angekommen.

(Bild: James Mucha)

Ende April war ich aufgebrochen, um als Teil der Gruppe „Schutz und Fürsorge“ mit anderen Fachkräften am Kirchentag ehrenamtlich mitzuarbeiten. 1949 war der Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) als Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus und den fehlenden Widerstand der Amtskirche in seiner jetzigen Form gegründet worden. Mit dieser Gruppe begann bereits am vorhergehenden 38. Kirchentag in Nürnberg in kleiner, engagierten Weise, nun aber noch mutiger, starker und beherzter am 39. DEKT in Hannover eine aus meiner Sicht längst überfällige Reaktion auf ein schlimmes kirchliches und gesellschaftliches Thema, das viel zu lange verschwiegen, verdrängt und tabuisiert wurde: Straftaten sexualisierter Gewalt fanden und finden in Schutzumgebungen wie Kirche und Gemeinde statt. Hiergegen muss rigoros vorgegangen und Betroffene mit Schutz und Fürsorge umgeben werden. Ich bin dankbar, dass Detlev Zander mit solcher Kraft auf die bittere Realität sexualisierter Gewalt hinweist, mahnt und trotz vieler schmerzhafter Gegenreaktionen nicht müde wird, dagegen seine Stimme zu erheben.

Das nunmehr zweite Mal war diese besondere Gruppe unter der Leitung von Lea D. als hauptamtliche, sowie Alina und Ari als ehrenamtliche Leitungspersonen an diesem besonderen kirchlichen Ereignis für Betroffene sexualisierter Gewalt da. In diesem Jahr in Hannover mit einem größeren Team von Fachkräften aus unterschiedlichen kirchlichen, sozialen und staatlichen Bereichen, die sie zusammengerufen hatten.

Als ich unsere Einsatzräumlichkeiten betrat, begrüßten mich die anwesenden Kolleginnen und Kollegen herzlich. Die liebevolle Dekoration an unseren Arbeitsplätzen strahlte so viel Liebe und Fürsorge aus.

Umgehend wusste ich, dass nach Jahren als Teilnehmerin nun mein Ort „hinter den Kulissen“ als Einsatzkraft für „Schutz und Fürsorge“ der richtige war. Meine Aufregung ebbte langsam ab und machte großer Dankbarkeit Raum während ich den Erklärungen und der Einführung in Dienst und Technik folgte.

Das Motto des Kirchentages – mutig, stark, beherzt – war spürbar das Motto dieser besonderen Gruppe, die Personen während der Veranstaltungstage mit Schutz und Fürsorge umgaben. Ob 24/7-Hotline, Schutzraum, Veranstaltungsbegleitung, Einzelgespräche oder Einsatz – in allem atmeten diese intensiven Tage das biblische Wort, unter dem der 39. DEKT stand:

Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark! Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen!

1. Kor 16,13-14

Während ich in diese besondere ehrenamtliche Tätigkeit eintauchte, geschah still und unaufgeregt ein für mich einschneidender Übergang, indem die letzten offiziellen Diensttage bei der Bundespolizei verstrichen und ich wieder in den Dienst meiner Landeskirche zurückkehrte. So wurde auch ich ohne große Aufregung eingebettet in dieses Netz der Fürsorge, das meinen Schmerz über nunmehr Vergangenes linderte und meine Freude auf eine neue, besondere berufliche Aufgabe wachsen ließ. Eine tiefgreifende Erfahrung, in der ein Team nicht nur für andere sorgte, sondern füreinander da war. Dies steht und fällt mit der Leitung solcher Gruppen – durch Lea, Alina und Ari waren wir stets von fürsorglichen, engagierten Fachkräften umgeben.

Ich wünschte, es wäre auch anderorts so selbstverständlich, dass man auf Betroffene sexualisierter Gewalt achtet, sie mit Schutz und Fürsorge bei einem eventuellen Vorkommnis umgibt. Die Landeskirchen müssen noch sehr viel lernen und Schutzmaßnahmen etablieren, damit zum Selbstverständnis wird, was ich es am 39. DEKT in dieser Gruppe erleben und mit begleiten durfte.

Lasst uns mutig, stark, beherzt gegen sexualisierte Gewalt vorgehen. In Kirche, Staat und Gesellschaft. Den Opfern und den uns anvertrauten Personen sind wir dies in schuldig!

Sechs Tage später war mir der Beton-Dschungel der hannoverschen Messe sehr vertraut. Die Wege, Gebäude und Büros strahlten nach sehr geschäftigen Veranstaltungstagen ungewohnte Ruhe aus. Als eine der wenigen waren Teile unseres Teams noch im Einsatz und steuerten als eine der letzten Gruppen mit schwerem Gepäck beladen die Rückgabe der Kirchentags-Technik an. Als wir uns später verabschiedeten, erfüllte mich tiefe Dankbarkeit für eine besondere Zeit. Ich war froh, Teil eines größeren Engagements gegen sexualisierte Gewalt gewesen zu sein, dass sich hoffentlich an den darauf folgenden Kirchentagen als Selbstverständlichkeit etablieren wird. Zu verdanken ist es dem Mut unseres Dreier-Führungsteams und den inspirierenden Kolleginnen und Kollegen, die ich dort kennenlernen durfte.

Lasst uns, egal wo wir uns gerade ehren- oder hauptamtlich engagieren, mutig, stark, beherzt gegen sexualisierte Gewalt einsetzen!

„0013 meldet sich ab vom Dienst.“

Mit hängendem Kopf stand ich mit einer Kollegin vor meinem Fahrrad und hantierte mit einer Schere an einer dunkelblauen Plakette, die mit einem Kabelbinder am Lenkrad festgemacht worden war. Der Kabelbinder wehrte sich gegen mein Bemühen gewaltig, aber nach einigem Hin und Her sowie einigen leichten Kratzern an der dunkelgrauen Lenkstange konnte ich die Verbindung endlich durchschneiden. Ich seufzte und atmete tief ein und aus.

Vor einigen Monaten staunte ich nicht schlecht als ich die Plakette für mein Fahrrad aus meinem Postfach nahm. Für die dienstliche Verwendung meines Fahrrades war mir die Nummer 0013 zugewiesen worden.

Damals ging mir etwas scherzhaft der von Daniel Craig alias James Bond bekannte Satz durch den Kopf, den er nach längerer Abwesenheit gegenüber M aussprach: „007 meldet sich zum Dienst.“ (Hier der Videoausschnitt – in Minute 2:16) Adaptiert hätte es beim Anbringen der Plakette heißen müssen: „0013 meldet sich zum Dienst.“ … Doch weder war meine Personalnummer 007, noch war ich Geheimagentin. Die Lizenz zum Töten, die die Doppelnull symbolisierte, hatte ich selbstverständlich auch nicht – bis dato habe ich keine Schusswaffe in Händen gehalten. Aber dennoch war ich amüsiert über diesen numerischen Anklang an die berühmten britischen Agententhriller, die ich durchaus schätze. Die Zahl 13 fügte in ihrer Ambivalenz noch ihr Eigenes hinzu, denn sie kann als Glücks- oder Unglückszahl gedeutet werden.

In vielen Kulturkreisen trägt die Dreizehn eine negative, manchmal sogar unheilvolle Bedeutung. So wird in manchen römisch-katholischen Traditionen Judas Iscariot, der Jesus verraten hatte, als 13. Jünger bezeichnet. Die Zahl scheint vor allem durch einen subjektiv-assoziierten Aberglauben zu einigen interessanten Ausprägungen im Alltag zu führen: so gibt es Gebäude, die kein 13. Stockwerk haben, einige Passagierflugzeuge verfügen nicht über die 13. Sitzreihe und im Sozialgesetzbuch (SGB) wird auf die Benennung des 13. Buches verzichtet.

Im Gegensatz dazu schreibt so mancher der Dreizehn eine positive Konnotation zu: Ich kenne eine Reihe von Personen, die sie als persönliche Glückszahl sehen. Einige Prominente, wie Taylor Swift, sehen sie als Glücksbringer. Im Judentum findet am 13. Geburtstag mit der Bar Mitzwa bzw. Bat Mitzwa der Übergang zum Erwachsenwerden für Jugendliche statt und stellt ein positives Ereignis dar, das mit dieser Zahl verbunden ist.

Ob man mit der 13 Gutes oder Schlechtes in Verbindung bringen würde, war mir gelinde geschrieben, völlig egal. Darüber hinaus war die Plakette neben meiner „Segensklingel“ angebracht, die mich an den Segen erinnerte, den eine Freundin für meinen Fahrradgebrauch und jeden privat oder dienstlich zurückgelegten Kilometer ausgesprochen hatte.

Mit meinem dienstlichen Ausscheiden aus der Bundespolizei und der Rückkehr in den kirchlichen Dienst der Bayerischen Landeskirche musste auch diese Plakette zurückgegeben werden. Durch einen kräftigen Schnitt mit der Schere war das letzte Stück Verbindung zu einem liebgewonnen Arbeitsbereich durchtrennt. Die Kollegin legte die Plakette nochmals kurz auf die Segensklingel, umarmte mich herzlich als sie meinen traurigen Gesichtsausdruck sah und verschwand schweigend mit der Plakette in der Hand in das Verwaltungsgebäude.

Während ich auf das Rad stieg und in die Pedale trat einer neuen beruflichen Zukunft entgegen, sagte ich leise traurig, aber auch dankbar für die zurückliegende Dienstzeit vor mich hin: „0013 meldet sich ab vom Dienst einer Polizeiseelsorgerin.


Mein herzlicher Dank gilt allen im AFZ Bamberg und darüber hinaus in der Bundespolizei, die ich in den letzten viereinhalb Jahren begleiten und kennenlernen durfte. Mögen es Polizeimeisteranwärterinnen und – anwärter, Polizeikommissarsanwärterinnen und -anwärter, Stamm-, Abordnungs- oder Rahmenpersonal gewesen sein. Mein Dank sei auch denen gegenüber ausgesprochen, die mich in dieser Dienstzeit unterstützt und mit mir kollegial zusammengearbeitet haben.

Das AFZ Bamberg wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Und seien Sie und ihr euch gewiss: Da „draußen“ ist eine Pfarrerin, die für euch betet und anderen die Augen für euren wichtigen Dienst öffnet.

Von Orangen, Sedertellern und neuen Traditionen

Die Schale der kleinen Frucht wurde in einem festlichen Moment des Innehaltens vorsichtig von Yael geöffnet. Zum Vorschein kamen in den Händen von Rabbinerin Dr. Yael Deusel zarte Fruchtsegmente einer im heimischen Zuhause gewachsenen Orange, die gemeinsam mit dem Sroa in einer im Porzellan eingebetteten Kuhle gelegen hatte. Traditionell steht der Knochen auf dem Sederteller für das Pessachlamm, das am ersten Abend des Auszugs der Israeliten aus Ägypten geopfert wurde. Manche meinen sogar, dass dieser Knochen, geformt wie ein Arm, Gottes „ausgestreckten Arm“ bei der Befreiung des jüdischen Volkes aus der Knechtschaft in Ägypten symbolisiert.

Voller Faszination betrachtete ich den Sederteller in seinem für mich ungewohnten Ensemble. Schlomo Weißenfels, der mir schräg gegenüber saß und der Vorsitzende der Bamberger liberalen Gemeinde Mischkan ha-Tfila ist, sah mein Erstaunen und erklärte mir, dass die Orange ein relativ neue Addition zur jüdisch-liberalen Tradition sei. Im Volksmund habe ein Mann gesagt: „Die Idee von Rabbinerinnen macht so wenig Sinn, wie eine Orange auf dem Sederteller.“ Seitdem sei die Orange ein feministisches Symbol im Pessach.

Keine Geringere als Prof. Susannah Heschel, die Tochter des Rabbiners Abraham Joshua Heschel, war das Gegenüber dieser verbalen Äußerung. In New York hatte ich die Ehre, mit ihr aufgrund meiner Kooperation mit dem Leo Baeck Institut zusammen arbeiten zu dürfen. Die jüdische Feministin hat mich in dieser Zeit sehr inspiriert, da sie nicht nur für Frauenrechte einstand, sondern ihre Stimme für Marginalisierte erhob. Dass dieser neuzeitliche jüdische Brauch von ihr stammte, wärmte mein Herz an diesem Abend des Pessachfestes.

In einer Korrespondenz berichtete Susannah Heschel, wie die Zitrusfrucht ihren Weg in das wichtige jüdische Fest fand:

Anfang der 1980er Jahre lud mich die Hillel Foundation ein, an einem Podiumsgespräch am Oberlin College zu sprechen. Auf dem Campus stieß ich auf eine Haggada, die von einigen Oberlin-Studentinnen verfasst worden war, um feministische Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Ein von ihnen entwickeltes Ritual bestand darin, eine Brotkruste auf den Sederteller zu legen – als Zeichen der Solidarität mit jüdischen Lesben, ein Zeichen des Widerstands gegen die Aussage einer Rebbezin: „Im Judentum ist für eine Lesbe genauso viel Platz wie für eine Brotkruste auf dem Sederteller.“

Beim nächsten Pessach legte ich eine Orange auf den Sederteller unserer Familie. Während des ersten Teils des Seder bat ich alle, sich eine Orangenspalte zu nehmen, den Segen über die Frucht zu sprechen und sie als Zeichen der Solidarität mit jüdischen Lesben und Schwulen sowie anderen, die innerhalb der jüdischen Gemeinde marginalisiert sind, zu essen.

Brot auf dem Sederteller beendet Pessach – es macht alles chametz. Und es suggeriert, Lesbischsein sei transgressiv und verletze das Judentum. Ich hatte das Gefühl, dass eine Orange noch etwas anderes symbolisierte: die Fruchtbarkeit für alle Juden, wenn Lesben und Schwule sich aktiv am jüdischen Leben beteiligen. Außerdem enthielt jedes Orangenstück ein paar Kerne, die ausgespuckt werden mussten – eine Geste des Ausspuckens, die die Homophobie des Judentums ablehnte.

In Vorträgen erwähnte ich meinen Brauch oft als eines von vielen neuen feministischen Ritualen, die sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt haben. Doch irgendwie kam es zu dem typisch patriarchalischen Manöver:

Meine Vorstellung von einer Orange und meine Absicht, Lesben und Schwule zu bekräftigen, veränderten sich. Nun kursiert die Geschichte, ein Mann habe zu mir gesagt, eine Frau gehöre auf die Bima wie eine Orange auf den Sederteller. Die Worte einer Frau werden einem Mann zugeschrieben, und die Bekräftigung von Lesben und Schwulen wird schlichtweg ausgelöscht.

Ist nicht genau das im Laufe der Jahrhunderte mit den Ideen von Frauen geschehen? Und ist es nicht genau diese Auslöschung ihrer Existenz, die schwule und lesbische Juden bis heute ertragen müssen?

Recustom (Übersetzung: Miriam Groß) https://www.recustom.com/clips/4054948

Betrachtet man die Geschichten, die am Abend des Pessachfestes erzählt werden, so sind sie dominiert von männlichen „Zentralpersonen“ – von Mose, Aaron, der Pharao und vielen anderen. Frauen nehmen hier eher eine Randstellung ein. Erschreckend ist für mich als Frau, dass in einigen Haggadot in der Darstellung der vier fragenden Kinder ausgerechnet das Einfältige (Tam) und das, welches noch nicht zu fragen versteht (Ejno Jodea LiSchol) in einigen Illustrationen der Pessach-Erzählungen als Mädchen oder Frau dargestellt werden.

Wir sind noch lange in Sachen Geschlechterberechtigung nicht an einem Punkt der Gleichheit angekommen. In einer meiner ehemaligen Dienstgemeinden habe ich dies schmerzhaft erleben müssen als eine Reihe von Gemeindegliedern und Gottesdienstbesuchern mich regelmäßig und direkt damit konfrontierten, dass eine Frau nicht auf die Kanzel gehöre. Dies setzt sich bedauerlicher Weise in vielen anderen Tätigkeitsbereichen fort, wenn auch eher subkutan.

Die Orange am Sederteller hat mich an diesem Abend daran erinnert, dass die Geschichten der mutigen Frauen erzählt werden sollten, die für den Glauben einstanden und z.B. am Exodus teilnahmen. An diesem Abend wieß mich die Orange nicht nur auf Frauen auf der Bima hin, sondern auf alle Marginalisierten, die einer Befreiung und atemschenkender Freiheit bedürfen. Sie sticht als Erinnerung an all die Menschen hervor, die sich irgendwann in ihrem Leben nicht dazugehörig fühlen.

Die deplatziert aussehende Orange auf dem Sederteller ist ein Zeichen dafür, dass wir uns stets bemühen sollten, für Ausgegrenzte und Marginalisierte einzustehen, damit sie sich einbezogen werden – Freiheit für alle, so wie es dieses jüdische Freiheitsfest verspricht. Wie die Kerne der Orange ausgespuckt werden, so soll alles, was der Freiheit hinderlich ist, zurückgewiesen werden. Mir gefällt, dass meine jüdischen Geschwister um einen Platz für die Orange kämpfen. Ja, die Orange passt nie ganz hinein … und ja! Genau darum geht es.

Ich nahm das zarte Fruchtblatt aus der Hand meiner Freundin, der Rabbinern, an diesem Abend dankbar entgegen. Als ich auf das kleine Fruchtblatt biss, füllte ein bitter-beißender Geschmack meinen Mund und ich spuckte die Kerne auf den Essensteller. Möge die Orange auf vielen anderen Sedertellern ihren diskutablen Platz erhalten, der an den Kampf und das Engagement um Freiheit erinnert.

Lesen gegen Hass (7) : Visuelle und sprachliche Mahnung mit ironischer Würze

Sehen, hören, riechen, schmecken und tasten – mit diesen fünf Sinnen nehmen wir Menschen physiologisch zumeist unsere Umwelt wahr. In diesem Blogeintrag möchte ich drei Bücher vorstellen, die Sie und euch wappnen soll gegen Hass, wie er im Nationalsozialismus in verheerender Weise Deutschland, Europa und die ganze Welt erfasst hat.

Visuell durch das Betrachten eines grafischen Romans.

Auditiv durch die Reflexion von Sprache anhand eines berühmten Notizbuchs.

Gustatorisch und olfaktorisch durch ein ironisch-makaberes Kochbuch.

„Die letzten 100 Tage Hitlers“ von Jean-Pierre Pécau, Filip Andronik, Senad Mavric und Jean Verney, erschienen in der deutschen Ausgabe bei Knesebeck 2025

Die Graphic Novel führt die letzten hundert Tage des grausamen NS-Regimes in all seiner Brutalität visuell vor Augen und zeigt das erbarmungslose und wahnhafte Festhalten an einer krankhaften Ideologie. Eine Mahnung gegen das Erstarken rechtsextremer Strömungen und die Gefahren der „Neuen Rechten“, die sich gleicher Mittel bedienen und die Menschenwürde mit Füßen treten.

Wenn auch aufgrund des Umfangs verkürzt, so ist diese packende Graphic Novel historisch gut fundiert vom Stauffenberg-Attentat bis zum Nerobefehl und künstlerisch beeindruckend mit interessanten Details ausgestaltet. Die Brutalität des mörderischen Regimes wird in eindrücklich bewegender Weise dargestellt und zeigt auf, das sich diese in einer makaberen Zuspitzung selbst gegen das eigene Land und dessen Bewohnter richtete als eine Niederlage abzusehen war:

„Was sagt Hitler dazu?“ … „Ich zitiere wortwörtlich: „Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil. Es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrig bleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen.“

S. 61

Die betrachtenden Personen begleiten den Wahnsinn, die Ängste und die tiefen Abgründe des Naziregimes bis in die letzten Stunden im Berliner Führerbunker. Eine visuelle Chronik einer grausamen Zeit, die die Betrachter vehement anregt über das Geschehene nachzudenken, damit es nie wieder in dieser oder anderer brutaler Weise geschehe.

„LTI – Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer, erschienen bei Reclam 1975 (Erstveröffentlichung 1947)

Eine auditive Wahrnehmung ist für unseren Alltag grundlegend. Sprache umgibt uns als Hörende und Sprechende. Nicht immer reflektieren wir unseren eigenen Wortschatz oder das uns entgegenkommende Wort. Victor Klemperer hat uns durch seine tiefsinnige Dokumentation ein Sprachwissen überliefert, das uns in einer Zeit erstarkendem Extremismus hellhörig werden lassen sollte.

Bereits der Titel des Notizbuchs enthält den ersten massiven Seitenhieb gegen ein mörderisches Regime, das zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung zwei Jahre zuvor brutal zu Ende gegangen ist. Victor Klemperer als Autor dieses wichtigen Buches nimmt uns persönlich beschreibend in fachlich tiefer Reflexion mit in das wohl wirkungsreichste Mittel des mörderischen Nationalsozialismus: die deutsche Sprache.

Victor Klemperer (1881-1960) als Jude geboren, zum Protestantismus konvertiert und Professor der Sprachwissenschaft, war durch die Rassengesetze der NS-Diktatur von dessen Auswirkungen direkt betroffen. 1947 veröffentlichte er die vorliegende Sprach-Analyse des Dritten Reiches, „LTI“ (Lingua Tertii Imperii), um vor den Gefahren von Sprache als Waffe zu warnen.

Die Sprache des Nationalsozialismus wurde „… 1933 aus einer Gruppen- zu einer Volkssprache…“ (S. 25) und bemächtigte sich „… auch, und sogar mit besonderer Energie, des Heeres; aber zwischen Heeressprache und LTI liegt eine Wechselwirkung vor, genauer: erst hat die Heeressprache auf die LTI gewirkt, und dann ist die Heeressprache von der LTI korrigiert worden.“ (S. 25)

Der Sprachwissenschaftler dokumentierte die um sich greifende Versachlichung und „Maschinisierung“ menschlicher Existenz und Identität, der sich als „Erlöserfigur“ darstellende Führer, Verniedlichung von massiven Eingriffen in Bürgerrechte und -pflichten und so vieles mehr.

[…] die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewußtem Denken oder bewußtem Fühlen in sich aufnehmen musste.

Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden.

S.21

Schnell wird dem Leser und der Leserin bewusst, welch eine Macht Sprache tagtäglich auf uns ausübt und wie sehr sie uns im Denken und Handeln lenken kann. Daher sei dieses Buch allen dringend zur Lektüre anempfohlen.

Nazi Goreng. 33 urdeutsche Rezepte – ganz ohne Fremdobst, Exotik und Geschmack von Horst Kessel, erschienen bei riva 2023

Mit dem vorliegenden „Kochbuch“ wird es nun gustatorisch und olfaktorisch (bei dessen Durchführung) interessant für jeden, der sich gegen Hass auch in der Küche „wappnen“ möchte. Denn die Grundsätzlichkeit und Wichtigkeit des Essens ist uns allen gut bekannt.

Mit scharfem, dunklen Humor warnt der Autor durch seine dreiunddreißig Rezepte sprachlich tiefgründig vor Rechtsextremismus. Nach einem Grundrezept der „braunen Soße“ wird Kochwissen in Vor-, Haupt-, Süß- und Nachspeisen weitergegeben. „Deutsche Buchstabensuppe“, „Himmleermarmelade“, „Leckeres Apfelmussolini“ sind nur einige der vielen Rezepte, die durch geschickte Wortspiele dunkelste NS-Zeit bissig aufs Korn nehmen.

Zu „Heilbutt in Dill-Senf-Soße“ schreibt der Autor:

Das besondere an diesem Gericht ist, dass man es selbstverständlich ausschließlich mit der linken Hand zubereiten kann, da die rechte ja beschäftigt ist.

S. 29

Im Buchgeschäft wurde ich beim Kauf darauf hingewiesen, dass die Rezepte auch tatsächlich zubereitet werden könnten. Das Lesen derselbigen war erhellend und führt die Macht der Sprache in praktischer Weise vor Augen. Ein „Nachkochen“ überlasse ich lieber anderen, doch die Warnung wirkt nachhaltig und sensibilisierend.

Ein Herz für den Nachwuchs: von Blaulichtparties und Gebeten

Ein kalter Wind pfiff durch die schmale Straße. Ich rieb mir die Hände und zog die blaue Weihnachtsmütze tiefer ins Gesicht während ich in die erwartungsvoll-freudigen Gesichter meines polizeilichen Nachwuchs blickte, der auf den Einlass in der Diskothek im Herzen Bambergs geduldig wartete.

Als Polizeiseelsorgerin versuche ich so oft wie möglich an „Blaulichtparties“ präsent zu sein, um gemeinsam mit Ehrenamtlichen der Gewerkschaft der Polizei als Ansprechpartnerin verfügbar zu sein. Denn der Nachwuchs, dessen Sicherheit und ihre Anliegen liegen uns – Seelsorge und Gewerkschaft – sehr am Herzen. Hand in Hand zeigen Kirche und Gewerkschaft durch Personen vor Ort ein gemeinsames Gesicht.

Und das ist notwendig, denn die nächste Generation von Beamtinnen und Beamten ist unsere Zukunft. Ob dies Polizistinnen und Polizisten, oder Pfarrerinnen und Pfarrer sind, so sollten wir uns bewusst sein, dass diese Berufsgruppen vieles begleiten, was ein Bürger oder eine Bürgerin hoffentlich nur selten oder nie erleben muss. Beide Berufsgruppen machen diese Erfahrungen sehr früh in ihrer beruflichen Laufbahn – meine Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter beginnen ihre Ausbildung teilweise mit sechzehn Jahren.

Unser Nachwuchs benötigt daher unsere Begleitung und unser unablässiges Gebet. Paulus schreibt weise Worte über die Gestaltung unseres Lebens und das Gebet in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Thessaloniki, die auch wir zu Herzen nehmen sollten:

Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch.

1. Thess 5,16

Fröhlichkeit stand an diesem Dezemberabend kurz vor dem Weihnachtsurlaub meiner Auszubildenden im Mittelpunkt derer, die dorthin gekommen waren. Inzwischen war mir vom Stehen neben der Security am Eingang der Diskothek in der zugigen Straße kalt geworden. Ich entschuldigte mich bei meinem Gewerkschafts-Kollegen und stieg die Treppe hinunter in den dunklen und warmen Gastraum, während ich in die rhythmische Musik der Feierenden eintauchte. Obwohl ich am Rande der Tanzfläche in meiner Leuchtweste stand, wurde ich in den fröhlichen Sog mit hineingetragen und lies mich einige Minuten vom Rhythmus tragen.

Seid allezeit fröhlich!, fordert Paulus auf.

Doch jenseits all des Feierns erwartet unseren Nachwuchs ein schwerer beruflicher Alltag. Das wusste ich durch meine eigene Ausbildung, aber auch durch meine Erfahrungen in der Begleitung von polizeilichen Einsatzkräften und kirchlichen Seelsorgenden. Sie sind eingestellt in ein weites berufliches und privates Spannungsfeld. Dabei dankbar zu sein, ist eine große, ja fast lebenslange Herausforderung.

Seid dankbar in allen Dingen!, fordert Paulus auf.

Tod, Trauer, Verlust, Übergriffe und Extreme prasseln auf diese zumeist jungen Menschen ein. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich meine ersten beruflichen Erfahrungen mit Sterben, Tod und Endlichkeit mit Mitte zwanzig gesammelt hatte. Prägende Momente, die sich teilweise in die Seelen der jungen Menschen einbrennen. „Die erste Leiche, den ersten Toten vergißt du nie“, hatte man mir damals in der Seelsorgeausbildung gesagt. Diese und andere Erfahrungen hinterlassen ihren unauslöschlichen Eindruck, der unseren Nachwuchs während seiner Ausbildung verändert und formt. Als Lehrende, Mentorinnen und Mentoren können wir nicht immer vor Ort sein. Daher braucht es etwas, worauf Paulus zu recht hinweist:

Betet ohne Unterlass!, fordert Paulus.

Gott hört. Er ist da. Und manchmal braucht es andere, die für einen beten, wenn man selbst keine Worte mehr findet oder sich mitten im Geschehen befindet. Kein Wunder also, dass Dekanin Kerstin Baderschneider aus Kitzingen die Synode aufgefordert hatte, den Gemeinden eine Bitte um den Nachwuchs in die Fürbittengebete aufzunehmen (siehe Artikel Sonntagsblatt). „Es liegt Kraft im gemeinsamen Gebet“, so Dekanin Baderschneider. Dem kann ich nur zustimmen! Für mich kommen dabei als Seelsorgerin der kirchliche und der polizeiliche Nachwuchs in den Blick, der so viel erleben und schon während seiner Ausbildung begleiten muss – Gebet ist neben einer guten Ausbildung das, was wir alle für sie tun können. Als die Synode diese Eingabe abgelehnt hat, war es für mich ein bitterer Moment. Aber vielleicht überlegt es sich die Synode nochmals, wenn sie im neuen Kalenderjahr sich mit der sechs Verse später stehenden Jahreslosung auseinandersetzen wird?

Prüft aber alles und das Gute behaltet. So rät es Paulus.

Zu hoffen ist es allemal, dass die Synode dies ernst nimmt und nochmals diese Eingabe als geistliches Gremium prüft.

Inzwischen war es kurz nach Mitternacht. Nachdem die letzten unter Sechzehn sich auf den Weg zurück zur Ausbildungsstätte gemacht hatten, konnte auch ich in den Feierabend gehen. Ich verabschiedete mich von meinem Kollegen und tauchte mit Leuchtweste in die dunkle Nacht ein. Nur wenige Fenster waren noch beleuchtet als ich durch die Kälte nach Hause radelte, aber eins wusste ich gewiss: Mein Engagement und unablässiges Gebet als Polizeiseelsorgerin würde meine Auszubildenden begleiten, denn das war notwendig.

… Und liebe Leserin und lieber Leser, wenn Sie etwas Zeit haben, beten Sie für unseren Nachwuchs, den polizeilichen und kirchlichen. Denn wir brauchen sie in ihrer jeweils eigenen beruflichen Kompetenz, damit Gerechtigkeit und Hoffnung in diese Welt einziehen möge.

My dear Jewish friend 22: Hot-water bottle prayer against stomach ache and fears

I pulled the hot-water bottle towards my aching body. A strong stomach ache had its grip on me since days. As the warmth started to ease my pain, my thoughts wandered towards you, my dear Jewish friend.

When the job opportunity to become a chaplain at the largest training facility for the German Federal Police became a reality, we were ripped apart and I was torn from the comfort of our unlikely friendship. The world was a different one back then. With strong democracies, which had stood strong against right-extremist thoughts, pandemic and a crisis in world economy on this and the other side of the Atlantic.

Protect me, o G´d, for I seek refuge in you.

The first words of psalm 16 resonated deeply within me. Protection and refuge from the quickly changing political and societal tides is what we need these days. While I was pondering about the beautiful words of the psalm, the antique pink heating pad in shape of an old hot-water bottle gave me some extra comfort. Presently, it seems as though the only thing left for me is to find warmth from outwit myself. Four years after I moved back to Germany it feels as if the world is falling apart. A shift to the extremes is apparently happening in your home country and I am fearing for the upcoming early elections in mine.

Protect me, o G´d, for I seek refuge in you.

Four years of teaching young Police cadets about democracy, enabling them to stand up for human rights – in contrary to the murderous Nazi regime, where police have been complicit with the unspeakable evil. This was the reason, why I had left New York to go to the center of power and make an impact to hinder such a murderous system from establishing itself again through education. May such hate and unspeakable crime never happen again. I gave it all. Teaching how to combat the rise of Antisemitism, combating Racist activities and standing up against hate in the name of human dignity and robust democratic basic rights.

Protect me, o G´d, for I seek refuge in you.

But numbers of Antisemitic hate are rising around the globe. The numbers in Germany alone are staggering! 2023 the huge number of 5.164 antisemitic hate crimes. 2024 until to the end of September 3.370 (see below).

Protect me, o G´d, for I seek refuge in you.

On Feb 23 the lower house of the Federal German Parliament will have an untimely election as our German government is falling apart. Some of it seems hurtfully familiar in history – no, I want to push back this terrible thought as far as possible…

But if worst comes to worse, will I have equipped my young police cadets to stand up for our basic rights and for human dignity? With any elected government they will have the duty to obey their commands and to enforce the legislation. No matter, if it is from the center, or G´d help us!, extremist right or left winged. Will they be courageous enough to stand strong and firm against their superiors or politicians, if their commands, their laws and regulations are against human dignity? This is what they promise in their oath. Time and time again I have outlined in lessons for numerous classes before their oath how important it is that they protect our laws and human dignity. I always remind them that the murderous Nazi-Regime had despised human dignity and murdered 6 million Jews and numerous others.

Protect me, o G´d, for I seek refuge in you…

… is a prayer I am saying many times a day. For you and for me as we brace for impact of what might come. I wish, I could flee into the arms of our unlikely and precious friendship – but we are miles and oceans apart. Therefore, it is this hot-water bottle prayer that eases some of the stomach and heart ache:

Lord and creator of all,

Baruch Atah Hashem,

our world is changing so fast. Antisemitism and hate is on the rise. Wars are raging in the Holy Land and Ukraine. Politics are leaning to the extremes and no one wants to reach across the isle.

I am scared and turn to you seeking your warmth that will soothe my pain like a hot-water bottle.

Protect us, o G´d, for we seek refuge in you.

Amen.

Every time I pull my antique pink hot-water bottle towards me, I will say this prayer and think of you, my dear Jewish friend.


(https://mediendienst-integration.de/desintegration/antisemitismus.html )

Von Zeichen der Zeit und einem möglichen Menetekel

Nicht selten sehe ich auf grauen Flächen, an Bahnhöfen und offenen Betonmauern so manche „Graffiti-Verzierung“. Die erste, die mich auf meinem Nachhauseweg von der Kirche begrüßte, war eine graues, voluminöses Etwas, das weiß umrandet worden war. Schmunzelnd musste ich an das berühmte Gemälde Rembrandts „Das Gastmahl des Belsazars“ denken, das er 1635 gemalt hatte. Hier waren es eine weiße hebräische Schrift, die dem Betrachter auf dem Dunkel der Wand entgegen strahlt: מְנֵ֥א מְנֵ֖א תְּקֵ֥ל וּפַרְסִֽין –mənēʾ mənēʾ təqēl ûp̄arsîn in Lautschrift.

Laut biblischer Geschichte (Dan 5) konnte keiner der Anwesenden dem erschrockenen König Belsazar die wie aus dem Nichts erschienene göttliche Schrift übersetzen und erklären. Hieraufhin wurde der Prophet Daniel gerufen, der für seine Weisheit und sein wahrsagerliches Können berühmt war, um die Schrift zu entziffern.

„Menetekel“ – „the writing on the wall“ (engl.) wird oft im Deutschen als „Zeichen der Zeit“ wiedergegeben. Dabei wurde das Wort „Menetekel“ der biblischen Geschichte zum Inbegriff eines drohenden Unheils.

Die Zeichen der Zeit schnellstmöglich erkennen und entziffern. Das haben die evangelischen Landeskirchen dringend notwendig. Die Bedrohung ist bereits deutlich sichtbar und in der Mitte vieler Landeskirchen angekommen. So muss sich die Evangelische Kirche von Westfalen mit massiven Problemen auseinandersetzen, die von einer Nachfolge ihrer Präsens bis hin zu massiven Einsparmaßnahmen, Stellenkürzungen und komplette -streichungen, Gebäudeschließungen und -verkäufen reichen.

Solch massive Einschnitte habe ich in meinen drei Jahren Auslandsverwendung ab 2007 in einer konkreten Gemeinde in Orkney begleitet, als die Church of Scotland massive Einsparungen aufgrund der Immobilien- und Wirtschaftskrise und einer erodierenden Mitgliederzahl vornehmen musste. Als ich meinen Dienst in der schottischen Kirche begann, waren es über eine Millionen Mitglieder. Bei meinem letzten Besuch in 121 George Street, Edinburgh (dem dortigen Landeskirchenamt) erzählte man mir 2023 von massiven Sorgen, da die Mitgliedszahlen nunmehr 260.000 betrugen und man genau überlegen müsse, welche Gemeinden, Gebäude und Angebote man erhalten könne. (Davon berichtete ich im Blogeintrag „Church of Scotland: Eine Kirche im freien Fall“.) Vor kurzem wurden die neuesten, bitteren Zahlen bekannt: bis 2027 plant die Church of Scotland aufgrund einer prognostizierten Zahl von 36.000 Mitgliedern die Zahl der Pfarrstellen um die Hälfte auf 47 zu reduzieren. Schlicht und schmerzhaft wage ich zu schreiben: die einstige stolze schottische Nationalkirche befindet sich in einem Auflösungsprozess. Seit nunmehr fast zwanzig Jahren beobachte ich diese rasante Entwicklung mit viel Sorge.

Haben wir in Deutschland das Menetekel gesehen? Haben wir die Zeichen der Zeit erkannt? In der Evangelischen Kirche in Westfalen sicherlich. Auch anderorts scheint es manchen zu dämmern. Andere entgegnen mir schlicht, dass wir keine anglikanischen Verhältnisse hätten und zum Beispiel in den skandinavischen Ländern dies ganz anders aussähe.

Ich kann es nur hoffen, aber die rasante Entwicklung der Church of Scotland und auch die erlebte Realität in USA lässt mich anderes befürchten. In meiner Tätigkeit als Polizeiseelsorgerin, die vornehmlich in einem der größten Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrum tätig ist, erlebe ich, dass Religionszugehörigkeit die Ausnahme darstellt. Hierbei sind Musliminnen und Muslime eher auszumachen. Christinnen und Christen in der absoluten Minderheit. Der noch auszubildende polizeiliche Nachwuchs scheint vornehmlich ohne religiöse Affinität zu sein. Hier erlebe ich, was in der Mitte der Gesellschaft schon sehr bald Normalität darstellen und kirchliche Strukturen massiv in Frage stellen wird.

Kurze Zeit später lief ich an einer weiteren „Graffiti-Verzierung“ vorbei. In großen bunten Lettern prangte hier „SICK“ (engl. „krank“) deutlich lesbar an der grauen Wand der Parkgarage. Vielleicht müssen wir die Zeichen der Zeit schlicht erkennen und an dem gesunden, an dem unsere Kirche krankt?

Als kleine Pfarrerin hoffe ich, dass die Zeichen der Zeit von denen in Macht und Einfluss erkannt, Maßnahmen ergriffen, von Unnötigem (Exnovation) Abstand genommen und neue Wege (Innovation) versucht werden. Damit die Zeichen der Zeit nicht zu einem wahren biblischen Menetekel für Landeskirchen werden, wie sie bereits andernorts auf europäischen Boden sind.


Anempfohlen sei hierbei die Lektüre eines wichtigen Buches:

Sandra Bils und Gudrun Töpfer: Exnovation und Innovation: Synergie von Ende und Anfang in Veränderungen (Systemisches Management)

Das wunderbar trotzige Prinzip Hoffnung

Mein schwarzes Schälmesser trennte die dünne Schale vom frisch erworbenen Ingwer. Die Knolle dieses besonderen Gewächses, das seit Jahrhunderten als Gewürz und Arznei Verwendung findet, stammte aus dem fränkischen Knoblauchsland und hatte nicht, wie die meisten Ingwerknollen einen meilenweiten Weg hinter sich. Lokal. Frisch. Gesund. Einen Ingwer-Shot hatte ich heute sehr nötig, um die in mir aufsteigende Übelkeit an diesem Sonntagmorgen zu bekämpfen.

Flutkatastrophe in Valencia, Spanien.

Bevorstehende US-Wahlen voller Streit und Entzweiung.

Eine zerrissene deutsche Politik.

Krieg in der Ukraine.

Nordkoreanische Truppen in Russland.

Krieg im Heiligen Land.

Moldaus Ringen um Demokratie.

Machtkampf in Bolivien.

Beim Hören der Nachrichten war mir schlecht geworden. Trotz des strahlenden Novembermorgens hatten sich trübe Gedanken in den Vordergrund geschlichen. An der Hoffnung an solch einem Morgen festzuhalten, war gar nicht so einfach. Die Nachrichten überfluteten meine Gedanken und machten einem grollenden Bauchweh Platz.

Ich schnitt den geschälten Ingwer in kleine Stücke, ließ sie in den Zerkleinerer fallen und zerkleinerte das Ganze mit Zitronensaft und Honig angereichert zu einem dickflüssigen Getränk.

Die Gemüsebetriebe, die diesen Ingwer erfolgreich im Nürnberger Knoblauchsland angebaut hatten, hatten die Hoffnung nicht aufgegeben. Trotz spürbaren Klimawandel und massiven Herausforderungen stellten sie sich den neuen Gegebenheiten. Eigentlich wäre es so leicht, die Hände in den Schoß zu legen und nach einer Betriebsamkeit voller Tradition alles aufzugeben, weil die seit langem gewohnten Gemüsesorten nicht mehr oder schlechter reifen, die Energiepreise massiv angestiegen und Fachkräfte nur schwer zu finden waren. Aber sechzehn landwirtschaftliche Betriebe aus dem Nürnberger Norden gehen andere, innovative Wege, denn Gemüseanbau ist ihre Berufung. Ein aktiver und bewusster Schritt, der das Gewohnte an vielen Stellen verlässt, um neue Wege zu finden, die in die Zukunft weisen. Innovation gekoppelt mit Exnovation („Aktives Aufhören einer Tätigkeit“).

Eine exnovierende Grundhaltung hilft, das System auszumisten und dadurch handlungsfähig zu bleiben.

Bils/Töpfer: Exnovation und Innovation, S. 137.

Loslassen macht Platz für Neues. Dieser Prozess setzt die notwendige Energie frei, die Hoffnung und Mut für Gegenwart und Zukunft schenkt. Das zeigen die neuesten Studien zu systemischen Management. Der fränkische Ingwer ist ein solches hoffnungsvolles Produkt im Angesicht massiver Veränderungen, die wir uns alle nicht wünschen, aber in bitterer Weise unumgänglich sind. Der fränkische Ingwer ist umweltfreundlicher, frischer und bekömmlicher als jeglicher Ingwer aus Fernost, der tausende von Transportkilometern und so manches nicht kontrollierbares Spritzmittel mit im Gepäck hat.

Mich hat der Nürnberger Ingwer angesichts der Herausforderungen in Kirche sehr nachdenklich gemacht, denn auch die Kirchen stehen vor großen Herausforderungen. Der sonntägliche Gottesdienst wird zunehmend weniger besucht, die Mitgliedszahlen sind massiv am sinken und selbst zentrale Angebote stehen vielleicht schon bald aufgrund fehlender finanzieller Mittel auf dem Prüfstand. Was können wir als Kirche der Gesellschaft anbieten, das zeitgemäß und gleichzeitig relevant ist?

Was also können wir im kirchlichen Bereich an Exnovationen vornehmen, damit eine Gegenwart und Zukunft möglich wird? Sandra Bils schreibt weiter:

Im kirchlichen Bereich könnte sie [die Exnovation] unterstützen, dem traditionellen Erbe gerecht zu werden, indem durch Läuterungsprozesse eine gewisse Patina an Folklore und Gewohnheit kritisch hinterfragt wird und dadurch eine spezifischere Profilierung möglich wäre. Die zusätzlich damit einhergehende Ressourcenersparnis wird in den anstehenden Veränderungsprozessen dringend benötigt. (Bils, ebd.)

Unser Erbe und kostbare Verantwortung als Kirche liegt tief im Evangelium Jesu Christi verankert, das hoffnungsvoll durch Tod und Auferstehung über sich hinausweist. Ich würde es als das wunderbar trotzige Prinzip Hoffnung bezeichnen, das wir leben und anderen schenken können. 117 mal kommt „Hoffnung“ in der Bibel vor. Es gibt eine diesseitige, aber auch eine über das irdische Leben hinausragende Hoffnung, die in den Schmerzen der Zeit über die gegenwärtige Situation hinausweist. Wahlen. Kriege. Streit. Zwist. Sie alle werden nicht das letzte Wort haben, sagt uns der christliche Glaube.

Darum sollten wir als Kirchen eben nicht aufgeben oder die Situation eines Rückganges einfach resigniert annehmen, sondern wie die Gemüseanbaubetriebe des fränkischen Knoblauchslandes uns auf unsere Berufung konzentrieren und neue Wege suchen. Für mich ist dies das wunderbar trotzige Prinzip Hoffnung, das uns durch Jesus Christus geschenkt wurde, das wir weitergeben und durch Wort und Tat weiterschenken können. Darum:

Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat.

Heb 10,23

Die Gemüsebauer im Knoblauchsland halten an ihrer Berufung zum Gemüseanbau fest, der eine Region stärken und gesund nähren soll. Wir als Kirche sollten an dem Bekenntnis der Hoffnung festhalten. Auch oder gerade im Angesicht massiver Veränderungen, in denen wir so manches vielleicht Liebgewonnenes oder traditionell Gewohntes hinter uns lassen müssen. Bleibt für mich die Frage: Was könnte für uns als Kirche der scharfe, gesundmachende Ingwer als Vehikel unserer Kernbotschaft sein, den wir anbauen, ernten und weitergeben? Das kann wohl nur jeweils lokal entschieden werden. Was dem Knoblauchsland der ungewohnt neue Ingwer ist, mag im Bamberger Zwiebelland etwas ganz anderes, vielleicht die Süßkartoffel (?) sein. Was durch die MUT-Projekte im Münchner Raum der Flughafen Chor ist, mag im Dekanat Naila „OVERFLOW – die junge Kirche im Frankenwald“ sein.

Ein erster Schluck des Ingwer-Shots ran in meiner Kehle süß und scharf hinunter. Im Nu war mein von Bauchweh geplagter Leib von einem wohlig warmen Gefühl erfüllt. Gedankt sei es dem wunderbar trotzigen Prinzip Hoffnung.


Unbedingte Literaturempfehlung:

Sandra Bils und Gudrun Töpfer: Exnovation und Innovation: Synergie von Ende und Anfang in Veränderungen (Systemisches Management)

Lesen gegen Hass 6: Nie wieder, schon wieder, immer noch!

Voller Erstaunen drückte ich auf den rot beleuchteten Knopf in meinem iPhone-Display und starrte auf die bunte Vielfalt der verschiedenen Apps. Das kann doch jetzt nicht wahr sein. Der Hörer hatte frech, aber kokett danach gefragt, warum ich immer wieder Partei für Jüdinnen und Juden ergreifen würde. Ich sei doch Christin und gehörte einer anderen Religion an. Das alles ginge mich nichts an. Und ob es dies tut!, hatte ich gekontert. Wenn er als sogenannter Christ wirklich Bibel lesen würde, wüsste er um die tiefe Verbundenheit, die wir als Christen mit dem Judentum haben.

Plötzlich war das „Nie wieder“, das ich immer wieder betonte, vor meinen Augen zu einem „Schon wieder“ geworden.

Jesus war Jude, entgegnete ich. Und Paulus schrieb davon, dass nicht wir die Wurzel tragen, sondern die Wurzel uns. (Röm 11,18; siehe Anmerkung 1) In den darauf folgenden Versen führte der Völkerapostel an die Gemeinde in Rom aus, dass ganz Israel erwählt und erlöst sei.

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Und just wurde aus dem „Schon wieder“, das eigentlich ein „Nie wieder“ sein sollte, ein „Immer noch“.

Daher ist es mir wichtig, in diesem Blogeintrag für Pädagoginnen und Pädagogen, Lehrende und Interessierte zwei wichtige Bücher zu dieser Auseinandersetzung vorzustellen. Er ist einzureihen in eine Folge von Leseempfehlungen gegen den Hass, die ich vor geraumer Zeit begann. Die weiteren Einträge seien ebenso ans Herz gelegt.

Der 7. Oktober mit dem Hamas-Terroranschlag auf Israel erscheint mir wie eine Zeitenwende – wie ein tiefer Einschnitt in der gesellschaftlichen und politischen Struktur, der Antisemitismus unverhohlen hervortreten lässt. Es geht um nichts weniger als um unsere Demokratie, die damit auf dem Spiel steht. Aus dem „Nie wieder“, scheint ein „Schon wieder“ geworden zu sein – vielleicht aber handelt es sich, wie Philipp Peyman Engel bitter betrachtet, um ein „Immer noch“.

Daher sei Ihnen, liebe Blogleserin, lieber Blogleser, die beiden folgenden Bücher besonders sehr ans Herz gelegt.

„Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus“ von Michael Wolffsohn, erschienen 2024 bei Herder

Wie oft betonen viele, dass nie wieder geschehen darf, was einst durch ein mörderisches NS-System geschah. Dieses Bekenntnis scheint aber vielfach leicht ausgesprochen, nun aber aufgrund des blutigen Angriffs der Hamas ins Wanken zu geraten. Im vorliegenden Buch geht der bekannte Historiker Michael Wolffsohn auf den menschenverachtenden Hass des Antisemitismus ein.

Antisemitismus, genauer: Antisemitismen, gibt es seit 3000 Jahren. […] Unsere nun wieder auch zunehmend – freilich nicht ausschließlich – sichtbar antisemitische Gegenwart knüpft an die Vergangenheit an. Sie ist ein reaktionärer Rückfall, auch wenn einige seiner Träger sich als Vorreiter des Fortschritts verstehen und präsentieren.

Wolffsohn: Nie wieder? Schon wieder! S. 12.

Nach diesen Ausführungen sind im Buch zum einen die nicht gehaltene Rede „Der deutsche 9. November – Gedanken zum Gedenken“ sowie die gehaltene Rede „85 Jahre „danach“ – Antisemitismus, hausgemacht und importiert“ enthalten.

Die erste Rede atmet vor dem 7. Oktober 2023 einen gewissen „Optimismus“, wage ich zu schreiben, der an eine Herzensbildung glaubt:

Das dringend notwendige neue deutsche Gedenken an Kristallnacht, Judenmorde und andere NS-Verbrechen muss nicht nur am oder zum Jahrestag des 9. November zielgruppengerechte Gedanken und vor allem eine Ethik entwickeln, sprich: Herzensbildung für die Sicherung und Festigung unserer humanen und notwendigerweise wehrhaften Demokratie.

Wolffsohn, Nie wieder? Schon wieder!, S. 46

Die zweite Rede wurde von Herrn Wolffsohn nach dem dem Hamas-Terrorüberfall auf Israel verfasst. In ihr schlägt er wichtige und deutliche Töne an, die uns alle nicht nur nachdenklich machen sollte, sondern uns zum Handeln bringen sollten. Deutschland steht auf einem sehr gefährlichen Grad.

Die Jüdische Weltgeschichte zeigt: Wo und wenn es Juden gut geht, geht es dem Land gut. Deutschland hatte bis 1933 die Wahl. Es entschied falsch, und es erging ihm schlecht. Es hatte ab 1949 wieder die Wahl – und entschied richtig. Deutschland ging es bestens. Heute steht Deutschland wieder vor der Wahl. Wie wird es entscheiden? So wie die zahlreichen echten Freunde, die Juden und Israel in Deutschland haben? Hoffen wir es.

Wolffsohn, Nie wieder? Schon wieder!, S. 67

„Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ von Philipp Peyman Engel, erschienen 2024 bei dtv

Philipp Peyman Engel zeigt in seinem Buch „Deutsche Lebenslügen“ die schmerzhafte Realität des Antisemitismus in Deutschland auf und rechnet mit denen ab, die zum Terror schweigen. Hierbei zeigt er auf, dass sich unser Land in einer tiefen moralischen Krise befindet, die nichts weniger als unsere Demokratie gefährdet.

Dabei greift er ein Tabuthema auf: Islamistischer Antisemitismus, dessen Entstehung und Verbreitung in Deutschland.

[…] Noch immer ist es in Deutschland ein Tabu, den enthemmten Hass auf Juden unter muslimischen Migranten anzusprechen.

Engel, Deutsche Lebenslügen, S. 11

Ein schmerzhaft ehrliches und direktes Buch, das mich als Leserin hineingenommen hat in eine unglaubliche Welt des Hasses. Ich bin sehr dankbar um den Mut, den der Autor hier erwiesen hat, um uns die Augen für die Vorgänge in Deutschland zu öffnen. Denn der Zyklus dieses Hasses wurde von Deutschen im Nationalsozialismus begonnen und kehrt nun in Gestalt des islamistischen Antisemitismus zu uns zurück.

Folgt man der These von Jeffrey Herf, haben die Deutschen den muslimischen Antisemitismus in dieser Form überhaupt erst erschaffen – und er kehrt nun über Einwanderer und Migranten aus vielen arabischen und muslimischen Staaten zu uns zurück. In ihm verbindet sich das antijudaistische Element des Korans mit dem rassistisch-mörderischen des Nationalsozialismus.

Engel, Deutsche Lebenslügen, S. 160

Beide Bücher rütteln auf ihre jeweils eigene, aber direkte Sprache, klare Worte und Einblicke in das durch Antisemitismus ausgelöste Leid auf. Das Lesen beider Bücher wird nicht spurlos an den Lesenden vorüberziehen. Nun ist zu hoffen, dass darauf auch Taten in vielerlei Weise zum Schutz von Jüdinnen und Juden sowie unserer Demokratie darauf folgen mögen.


(1) Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.

Vom Schrecken eines immer sichtbarer werdenden Antisemitismus

Eine lebhafte Unterhaltung voller Vorfreude auf die kommende Fortbildung entspann sich zwischen uns, während mein Mitarbeiter routiniert das Dienstauto durch den schnellen und manchmal dichten Verkehr der Autobahn in Richtung Dresden lenkte. Währenddessen schweifte mein Blick an anderen Autos vorbei und blieb an einem gelben Lieferwagen haften, dessen Laderaumtüren aufgrund des schlechten Wetters verschmutzt waren. Ein traurig dreinblickender Smiley, der in den Schmutz mit schneller Hand hinein gemalt worden war, sah mir mit großen Augen entgegen. Als unser Dienst-Kfz langsam an dem Lieferwagen vorbeizog, betrachtete ich das Gemalte näher und erschrak schrecklich. Neben dem Smiley prangte ein kleineres, aber durchaus sichtbares Hakenkreuz! Man mag vielleicht aufgrund des traurigen Smileys eine Opposition in dem Aufgemalten erahnen wollen. Aber wann und wie die Zeichenabfolge war oder wie das Beschriebene entstand, entzieht sich meinem Wissen. DASS ein Hakenkreuz auf Deutschlands Autobahnen an uns vorüberfuhr aber war ein großer Schrecken.

Mir wurde umgehend schlecht und die Luft fühlte sich plötzlich stickig und abgestanden an. Unsere freudige Unterhaltung nahm ein jähes Ende während ich meinen Mitarbeiter auf das Gesehene hinwies.

Der Antisemitismus ist inzwischen wieder sichtbar in unserer deutschen Gesellschaft angekommen. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nehmen die antisemitischen Hasstaten in besorgniserregender Weise zu. Was bis vor kurzem vielleicht in Randgruppen, unter vorgehaltener Hand oder im Verdeckten geäußert wurde, wird nun in Deutschland immer sichtbarer.

Auf dem Praxisschild einer befreundeten Rabbinern, die als Ärztin praktiziert, prangt ein Hakenkreuz, das mit einem scharfen Gegenstand in die Oberfläche geritzt worden war. Das Praxisschild befindet sich an einem Ärztehaus mit viel Publikumsverkehr und einer gut befahrenen Straße mitten in der beschaulichen Stadt Bamberg.

Es ist dieser Schockzustand, der mich seit Wochen umgibt und mich sorgenvoll auf unser Land blicken läßt. Antisemitismus ist eine schlimme, menschenverachtende Irrlehre, die sich wie ein maligner Krebs in unsere Gesellschaft seit Jahrhunderten hineingefressen hat. Bei dieser Irrlehre geht es um das Ganze, nämlich um unsere Demokratie, die aus den Schmerzen und bitteren Lehren des zweiten Weltkrieges geboren wurde. Es geht um die Frage, ob wir dem alles vernichtenden Hass des Antisemitismus stand halten oder unsere Demokratie, die nach dem Disaster des Holocaust und der weiten Zerstörung Deutschlands ein Miteinander, Wohlstand und Versorgung hervorgebracht hat, diesem Hass zum Sterben hingeben?

Es geht um eine fundamentale Spaltung. Darum, ob wir für unsere gemeinsamen Werte des Friedens, der Freiheit, der Menschenrechte und der Gerechtigkeit – so wir denn mehr daran glauben als an einen liebenden oder strafenden Gott – einstehen wollen oder nicht.

Philipp Peyman Engel (1)

Bei Antisemitismus, einer immer deutlicher werdenden und menschenverachtenden Form des Hasses, geht es um unser gesellschaftliches Ganzes. Um unsere demokratischen Werte. Um Freiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit. Der Theologe Martin Niemöller, der selbst zunächst ein Befürworter des NS-Wahns gewesen war und aufgrund eines späteren Gesinnungswandels von diesem Hass abgewandt hatte, hatte dies in vortreffliche Worte gekleidet. Sie waren damals an primär an seine deutschen Mitbürger gerichtet. In seinen Vorträgen beklagte er, dass viele Deutsche sich weigerten, Verantwortung für den Nationalsozialismus, für die Gräueltaten in den besetzten Ländern und für den Holocaust zu übernehmen.

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Das sollten wir unbedingt im Blick haben. Wir mögen gegenwärtig vielleicht aufgrund unserer religiösen Verotung, unserer politischen Meinung o.ä. nicht betroffen sein, aber irgendwann werden die meisten in den Sog der Gefährdung hineingezogen werden. Es geht in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung um den Kern Deutschlands: Um unsere deutsche Demokratie, die in großer Gewahr ist. Als Polizeiseelsorgerin versuche ich diejenigen, die unser Grundgesetz verteidigen und für es einstehen, zu stärken. Im berufsethischen Unterricht spreche ich über Antisemitismus und warne vor den gefährlichen Gedanken, die inzwischen immer deutlicher kursieren, damit sie diese in Wort und Bild erkennen können und dann einschreiten. Ein besonderer Kooperationspartner ist die Europäische Janusz Korczak Akademie, die bei uns mit der Ausstellung „Mit Davidstern und Lederhose“ zu Gast war, und die Fortbildungen zur Antisemitismusprävention angeboten hat. Welch ein Segen, solche engagierten Personen kennengelernt zu haben und sie inzwischen gut zu kennen. Ab Herbst diesen Jahres biete ich Fahrten in das jüdische Museum Franken an. Für unser Stamm- und Rahmenpersonal veranstalte ich in Absprache mit der Leitung unseres Aus- und Fortbildungszentrums Begegnungen mit dem lebendigen Judentum an durch Rabbinerin Dr. Yael Deusel und Führungen durch Patrick Nitzsche, den Antisemitismusbeauftragten der Stadt Bamberg, der warnend die vergangene NS-Zeit Bambergs und ihre Auswirkungen auf die Stadt aufzeigt.

Doch an Tagen wie diesen fühle ich mich als ob mein Bemühen nur ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein ist. Als ob alles evaporieren würde in der Hitze der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. Meine jüdische Freundin kann ich in ihrem Wirken als Rabbinern nur stützen und mich als eine erkennen geben, die diesem Hass keinen Zentimeter weichen wird, sondern ihm die Stirn mit den mir gegebenen Mitteln bieten.

Inzwischen war die Übelkeit bis in mein Herz gekrochen während der gelbe Lieferwagen mit Hakenkreuz im Autobahnverkehr verschwunden war. Ich setzte mich aufrecht im Beifahrersitz auf. Auf keinen Fall wollte ich aufgeben, sondern weiter mich für Demokratie und Menschenwürde einsetzen, die Antisemitismus und anderen Hassformen keinen Raum schenken würde. Ich öffnete das Fenster einen Spalt und lies kalte Luft hereinströmen, die langsam mein aufgebrachtes Herz beruhigte und die Übelkeit vertrieb.


(1) Engel, Philipp Peyman: Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch, DTV 2024, S. 170.