Gedanken zum Weltfrauentag: von dem Wunsch, dass aus feministischer Utopie Wirklichkeit werde

Regalreihe um Regalreihe ließ ich hinter mir liegen. Ich wurde auf der Suche nach einem Artikel immer tiefer in den Drogerie-Markt gelockt bis ich schließlich diesen in seiner Gesamtheit fast vollständig bis in dessen Tiefen durchquert hatte. Während Produkte für Haarstyling, Duschen und Produkte für Männer wohl platziert im Eingangsbereich des Marktes ihren Ort gefunden hatten, waren Hygieneartikel für das weibliche Wohlbefinden weit hinten verortet. Meine ausgiebige Suche nach dem ersehnten Wunschprodukt löste in mir aus, dass ich genauer und aufmerksamer auf die Konzeption des Marktes achtete. Gegenüber der weiblichen Hygieneprodukte waren Artikel für Säuglinge und Kinder platziert worden. Im rechten äußeren Regal hingegen befanden sich Produkte für die Hausreinigung. Im linken äußeren Regal Kleidungsartikel für den familiären Nachwuchs.

Die Ausgestaltung des Drogerie-Marktes folgte einer ganz bestimmten Logik: nämlich Frauen auf der Suche nach für sie wichtigen Produkten ohne die sie ihren Alltag nicht gestalten könnten, in das Herz des Geschäftes zu locken. Vorbei an so mancher käuflich erhältlichen Verlockung- ob Parfüm, Gesichtspflegeprodukt oder kleinem Mitbringsel – hier konnte frau viel Attraktives erwerben. Für den Mann hingegen war in ganz anderer Weise „gesorgt“. Wenige Schritte nach dem Betreten des Drogerie-Marktes konnte er bequem seinen Wunschartikel finden und genauso schnell über die strategisch günstig positionierten Kassen das Geschäft mit seiner Beute zügig verlassen.

Worüber ich mir sonst wenig Gedanken gemacht hatte, wurde mir aufgrund deren grotesker Umsetzung in einer Woche, in der wir den Internationalen Frauentag feiern, umso bewusster: die Frau wurde aus wirtschaftlichen Erwägungen mit dem Kniff des unvermeidlich zu kaufenden Produktes in das Herz des Marktes gelockt. An Hygieneprodukten & Co. kann keine Frau vorbei – allein aus biologischen Gründen. Wie sehr würde ich mir wünschen, dass Frauen in die Mitte der Gesellschaft, nicht nur aus kapitalistischen Gründen in das Herz eines Geschäftes gelockt werden würden. Denn wie Männer, so gehören auch Frauen in alle Ebenen gesellschaftlicher Strukturen.

Doch was ich erlebe, ist oft ein anderes: viele Führungskreise sind vornehmlich männlich. Auch in den gegenwärtigen Strukturen, in denen ich mich bewege, sind zumeist Männer in entscheidenden Positionen und bestärken sich durch ihre Treffen und Besprechungen in Macht und Rollenverhalten.

Dabei geht es bei Gleichberechtigung nicht nur um bloßes Gehalt und Ansehen. Blicken wir doch daher kurz auf den Weltfrauentag. Seit über 100 Jahren wird dieser Tag nun unter das Thema der Gleichberechtigung gestellt. Was damals, am 28. Februar 1909 als erster Frauentag in den USA begann, wird nun jährlich wenige Tage später am 8. März in den Mittelpunkt gesellschaftlicher und sozialer Erwägungen gestellt. Die Vereinten Nationen sprechen hierbei von einer feministischen Utopie, die zum Wohle aller gemeinsam für eine gerechte Welt gelebt werden soll.

„Eine feministische Utopie ist eine (Ideal-)Vorstellung einer gerechten, menschenfreundlichen Welt, frei von Sexismus, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, Klassismus, Altersdiskriminierung und anderen Unterdrückungsformen. […] Es geht um die Wünsche und Idealvorstellungen von Menschen in all ihrer Vielfalt, mit all ihren Bedürfnissen und Lebensrealitäten. Feministische Utopien können uns zu mutigen Ideen und neuen Wegen inspirieren, wie wir zusammen eine gerechte Welt gestalten können.“

UN Women Deutschland

Für mich sind diese Worte mehr als blumige Sätze. Seit dem Beginn meiner beruflichen Tätigkeit habe ich versucht eine feministische Utopie zu leben. Dank der liebevollen Unterstützung meines Mannes, der für meine Berufung seine eigenen beruflichen Wünsche hintenanstellte und als Hauptansprechpartner unsere vier Kinder begleitete, konnte ich mich voll meinem Beruf einer Pfarrerin widmen. Es ist jedoch meine bittere Erfahrung, dass Bemühen, Ausbildung und Engagement oft an einer Wand männlicher Strukturen scheitert. Manches bleibt mir verwehrt, weil männlich dominierte Netzwerke bereits Gestaltung und Entscheidungen in kleinen informellen Strukturen und Besprechungen vorweggenommen haben.

Die Gedanken der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock und deren Forderung einer feministischen Außenpolitik, in der die Bedürfnisse und Sichtweisen der Frauen in Entscheidungsprozessen gleichberechtigt wahr und ernst genommen werden, sind gut nachvollziehbar. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und eine feministische Innenpolitik fordern, die Frauen stärkt und altgediente Machtzirkel überholter Männlichkeit aufbricht.

Als Pfarrerin lebe seit Beginn meiner seelsorgerischen Tätigkeit die von der UN benannte feministische Utopie trotz aller Herausforderungen, weil ich es meinen Kindern schuldig bin. Nicht nur meinen Töchtern, sondern auch meinen Söhnen. Den eigenen, und denen, die ich nun als Polizeiseelsorgerin in der Ausbildung begleiten darf. Doch zugegebenermaßen ist mein Enthusiasmus inzwischen einer realistischen Sichtweise gewichen: bis diese Strukturen aufgebrochen und Menschen nicht aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer Herkunft oder finanziellen Leistungsfähigkeit beurteilt werden, sondern aufgrund ihrer Person, wird noch viel zu tun sein. Packen wir es an und lassen aus Utopie Wirklichkeit werden! Schritt für Schritt.

Die Waffe der Frau – von Bildung, Gleichberechtigung und eigenen Erfahrungen

Erstaunt sah ich auf die Werbung, die im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt enthalten war. Normalerweise warf ich diese mit einem beherzten Schwung umgehend ins Altpapier. Doch heute stutzte ich, denn angeblich war dem monatlichen Blatt des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrervereins in großen weißen Lettern auf einem pinken Umschlag ein wichtiger Inhalt angekündigt:

DIE WAFFE DER FRAU.

Als Adressatinnen waren im durchsichtigen Sichtfeld als „alle Frauen in Deutschland“ angegeben – abgesandt von Senta Berger, Birgit Schrowange und Marion Knecht.

Nun war meine Neugierde geweckt, denn das monatliche Blatt war nicht unbedingt dafür bekannt, dass dort Frauen ihre Stimme erhoben. In der gegenwärtigen Ausgabe stammte einer von insgesamt zwölf Artikeln aus der Feder einer Frau.

Die Post warb für eine Patenschaft eines Mädchens in einem Schwellenland. Zurecht hob man dort die Wichtigkeit von Bildung hervor, die eine essentielle Voraussetzung für Gleichberechtigung ist. Ich pflichte den drei Verfasserinnen des Briefes bei, dass Bildung von großer Wichtigkeit ist, damit Frauen ihr Potential erreichen und ein besseres Leben zugänglich wird.

Ich hatte das Glück in einem reichen Land geboren worden zu sein, in dem viele Bildungschancen zugänglich sind. Schule, Abitur, Studium, Vikariat, Examen in Bayern und Schottland, Dissertation in USA. Ich hatte das Privileg, mehrere Sprachen lernen zu dürfen und einige weitere Zusatzqualifikationen zu erwerben. Schon immer war ich davon überzeugt, dass Bildung ein wichtiger Schlüssel zur Gleichberechtigung darstellt – oder wie die Autorinnen schrieben, die Waffe einer Frau darstellen.

Also erweiterte ich ständig meinen fachlichen Horizont. In allem wurde ich von meinem Mann unterstützt, der den Mut besaß, mir den Vorrang im beruflichen Werdegang zu schenken. Er wurde Familienmanager. Ich kehrte nach dem damals durchaus kurzen Mutterschutz stets umgehend in den Beruf zurück. Elternzeit oder ähnliches hatte ich nie in Anspruch genommen.

Doch leider fügt sich zu all dem „westlichen“ Privileg mit etwas Bitterkeit die gesammelte Erfahrung über die Grenzen dieses Systems hinzu. Es ist wie ein roter Faden, der sich durch meinen beruflichen Werdegang zieht: die Grenzen des Systems stellen oftmals nicht die für eine Position notwendigen Qualifikationen und Abschlüsse da, sondern Männer in Schlüsselpositionen. Manchmal scheint es mir, so als ob es sich hierbei um Männer handelt, die ungern auf Augenhöhe zusammenarbeiten wollen. Oder Männer, die von der ihnen zugesprochenen Macht wenig abgeben wollen und einer Frau dieselbe Funktion nicht zutrauen.

Liebe Leserin, lieber Leser dieses Blogeintrags, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich spreche nicht für eine Frauenquote, sondern dafür, dass ich anhand meiner Qualifikationen und Fähigkeiten mein ganz persönliches berufliches Potential leben darf. Aber leider ist es meine Erfahrung, dass ich aufgrund der simplen Tatsache meines Geschlechts doppelt so hart arbeiten muss, um eine annähernde Anerkennung zu erhalten. Und manchmal ist es sogar noch bitterer: vor geraumer Zeit musste ich miterleben, wie ein Mann eine Funktion erhielt, obwohl er offensichtlich die dafür notwendige fachliche Eignung nicht vorweisen konnte – einfach weil er ein besseres (Männer-)Netzwerk hatte. In ökumenischen Kontexten habe ich sogar noch schlimmeres erlebt. Da wurde ich von einer Mitwirkung in einem Gottesdienst ausgeschlossen, WEIL ich eine Frau war.

Erfahrungen, die nachdenklich machen.

Zustimmend und dennoch mit einem bitteren Geschmack auf den Lippen steckte ich den Werbebrief zurück in seinen pinkfarbenen Umschlag. Ja, Bildung ist die Waffe einer Frau. Aber sie öffnet nicht von sich aus Türen und gibt Zutritt zu größerem Potential. Das geht nur, wenn die Männer, die diese Türen der beruflichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten bewachen, es auch zulassen.

Von gefährdeten Lebensträumen, Gleichberechtigung und Personalmangel im Pfarramt

Ich atmete tief durch während meine Hand über die alten Ordner strich. Es musste sein – der Kalender hatte aufgrund einer unfreiwilligen Pause Platz für ungeliebte Tätigkeiten geschaffen. Als wir vor fast zwei Jahren aus USA wieder nach Bayern zurückkehrten, war wenig Zeit für Sichten und Aussortieren der alten Aktenbestände gewesen. Während der Staub leise unter meinen Fingern aufstob, hielt ich mitten in der Bewegung an. Mein Auge hatte sich an den Großbuchstaben eines Ordners festgesogen. E X A M E N stand dort in großen schwarzen Lettern als ob ich damals die Gewichtigkeit dieser Lebensstation hatte hervorheben wollen.

Ich seufzte als ich den in die Jahre gekommenen Ordner langsam und bedächtig herauszog. Noch vor wenigen Tagen hatte das evangelische Internet- und Nachrichtenportal Evangelisch.de von Ruhestandswelle und dem bevorstehenden Pastorinnen- und Pastorenmangel berichtet. Jede Person werde gebraucht. Man denke darüber nach, wie man junge Menschen für diesen Beruf begeistern könne. Als ich Studentin mit Mitte Zwanzig war, stellte sich die grundlegende Situation völlig anders da. Es gab Phasen in landeskirchlichen Personalplanungen, in denen man versuchte möglichst vielen von einem Ergreifen dieses vielseitigen Berufes abzuraten. Meine Erfahrungen in dieser Phase sind aufgrund meines Geschlechts geprägt – ich weiß von vielen anderen bitteren Geschichten, wo wunderbare, visionäre Menschen einen anderen beruflichen Weg jenseits von Kirche einschlugen.

Während ich den in verstaubten Ordner mit seinen abgenutzten Ecken öffnete, saß ich plötzlich wieder in einem mittelgroßen Konferenzraum in Erlangen. Ich spürte die damals mich umgebende Nervosität, die gepaart war mit einer Art Vorfreude auf den wichtigen Studienabschnitt der Examensvorbereitung. Die Ziellinie schien nach vielen Jahren Studium, Hebräisch, Griechisch und Lateinauffrischung, einem Praxisjahr, ungezählten Stunden in Vorlesungen, Seminar- und Hausarbeiten zum Greifen nah. Die Landeskirche hatte für eine Informationsveranstaltung über die kirchlichen Examen einen Vertreter aus München gesandt, der uns Theologiestudierende mit bedeutungsschwerer Stimme begrüßte und dann wie oft in Kirche üblich zu einer kleinen Vorstellungsrunde einlud, in der wir uns persönlich kurz vorstellen und von unserem Studienstand sowie das anvisierte Datum des Examens erzählen sollten. Als ich an der Reihe war, wich die anfängliche Nervosität der Freude über die Möglichkeit kurz von meiner Person, meinem Familienstand sowie dem Studienstand einem wichtigen Vertreter meiner Landeskirche zu berichten. Der Kirchenrat räusperte sich nach meinem Beitrag und blickte mir in die Augen: „Danke, Frau Groß. Leider muss ich Sie darauf hinweisen, dass ein Kind in der Examensvorbereitung hinderlich ist. Nur selten schaffen Frauen die Doppelbelastung von Kindern und Examen. Ich gebe Ihnen den wohl gemeinten Rat, zuhause bei Ihrem Kind zu bleiben.“ Ich spürte, wie mein Gesicht heiß anlief während alle Blicke der Kommilitoninnen und Kommilitonen auf mir lagen. Nach vielen Dienstjahren und Herausforderungen waren die Gefühle dieses Tages in meinem kleinen Arbeitszimmer in Bamberg noch so präsent als ob sie gestern gewesen wären.

Mein Blick schweifte über den Inhalt des Ordners, der das erste und zweite lutherische Examen in Bayern, sowie mein „drittes“ reformiertes Examen in der Church of Scotland dokumentierte. Ein breites Grinsen huschte über mein Gesicht und vertrieb die trübe Erinnerung. Wenn der Kirchenrat heute wüsste, dass ich zu jedem Examen ein Kind bekommen hatte, und jedes durchaus sehr passabel bestanden hatte. Zwischen Windelwechseln, Stillen und kurzen Nächten das notwendige Wissen aneignete, um meinen Berufswunsch einer Pfarrerin zu erreichen. Beim „dritten“ Examen war ich sogar zwei Tage vor meinem eigentlichen Flugverbot aufgrund der Schwangerschaft mit dem Frühflug nach Edinburgh geflogen, hatte mittags meine mündliche Prüfung abgelegt und war mit dem Abendflug zurück nach Orkney geflogen. Eine kleine Ausnahme stellte meine Dissertation da – aber zu diesem Zeitpunkt war unsere Familie bereits komplett gewesen…

Ich bin dankbar, dass meine jungen Kolleginnen dies nicht mehr erleben müssen. Während man im Vikariat keine Ausnahme zum ersten Geburtstag meines zweiten Kindes genehmigte und mich anwies stattdessen an einem Ausflug zu einem Krematorium teilzunehmen, sorgt man sich nun in guter Weise um junge Eltern, die Familie, Studium und Vikariat unter einen Hut bringen wollen. Mit Stolz kann ich sagen, dass meine bayerische Landeskirche in meiner bisherigen Amtszeit segensreiche Lern- und Veränderungswege der Gleichberechtigung und Wertschätzung innerhalb der Ausbildung beschritten hat. Junge Vikarinnen und Vikare werden herzlich in der Mitte unserer Landeskirche begrüßt und willkommen geheißen. Inzwischen gibt es Dekaninnen, Regionalbischöfinnen, Kirchenrätinnen und Frauen in zahlreichen Führungspositionen. Man muss nur mutig sein und nach gut evangelischem Prinzip stetig einen Weg der Erneuerung gehen. Dann können wir trotz aller Herausforderungen und Veränderungen dennoch hoffnungsvoll in eine Zukunft mit und in Kirche blicken.