Von Zeichen der Zeit und einem möglichen Menetekel

Nicht selten sehe ich auf grauen Flächen, an Bahnhöfen und offenen Betonmauern so manche „Graffiti-Verzierung“. Die erste, die mich auf meinem Nachhauseweg von der Kirche begrüßte, war eine graues, voluminöses Etwas, das weiß umrandet worden war. Schmunzelnd musste ich an das berühmte Gemälde Rembrandts „Das Gastmahl des Belsazars“ denken, das er 1635 gemalt hatte. Hier waren es eine weiße hebräische Schrift, die dem Betrachter auf dem Dunkel der Wand entgegen strahlt: מְנֵ֥א מְנֵ֖א תְּקֵ֥ל וּפַרְסִֽין –mənēʾ mənēʾ təqēl ûp̄arsîn in Lautschrift.

Laut biblischer Geschichte (Dan 5) konnte keiner der Anwesenden dem erschrockenen König Belsazar die wie aus dem Nichts erschienene göttliche Schrift übersetzen und erklären. Hieraufhin wurde der Prophet Daniel gerufen, der für seine Weisheit und sein wahrsagerliches Können berühmt war, um die Schrift zu entziffern.

„Menetekel“ – „the writing on the wall“ (engl.) wird oft im Deutschen als „Zeichen der Zeit“ wiedergegeben. Dabei wurde das Wort „Menetekel“ der biblischen Geschichte zum Inbegriff eines drohenden Unheils.

Die Zeichen der Zeit schnellstmöglich erkennen und entziffern. Das haben die evangelischen Landeskirchen dringend notwendig. Die Bedrohung ist bereits deutlich sichtbar und in der Mitte vieler Landeskirchen angekommen. So muss sich die Evangelische Kirche von Westfalen mit massiven Problemen auseinandersetzen, die von einer Nachfolge ihrer Präsens bis hin zu massiven Einsparmaßnahmen, Stellenkürzungen und komplette -streichungen, Gebäudeschließungen und -verkäufen reichen.

Solch massive Einschnitte habe ich in meinen drei Jahren Auslandsverwendung ab 2007 in einer konkreten Gemeinde in Orkney begleitet, als die Church of Scotland massive Einsparungen aufgrund der Immobilien- und Wirtschaftskrise und einer erodierenden Mitgliederzahl vornehmen musste. Als ich meinen Dienst in der schottischen Kirche begann, waren es über eine Millionen Mitglieder. Bei meinem letzten Besuch in 121 George Street, Edinburgh (dem dortigen Landeskirchenamt) erzählte man mir 2023 von massiven Sorgen, da die Mitgliedszahlen nunmehr 260.000 betrugen und man genau überlegen müsse, welche Gemeinden, Gebäude und Angebote man erhalten könne. (Davon berichtete ich im Blogeintrag „Church of Scotland: Eine Kirche im freien Fall“.) Vor kurzem wurden die neuesten, bitteren Zahlen bekannt: bis 2027 plant die Church of Scotland aufgrund einer prognostizierten Zahl von 36.000 Mitgliedern die Zahl der Pfarrstellen um die Hälfte auf 47 zu reduzieren. Schlicht und schmerzhaft wage ich zu schreiben: die einstige stolze schottische Nationalkirche befindet sich in einem Auflösungsprozess. Seit nunmehr fast zwanzig Jahren beobachte ich diese rasante Entwicklung mit viel Sorge.

Haben wir in Deutschland das Menetekel gesehen? Haben wir die Zeichen der Zeit erkannt? In der Evangelischen Kirche in Westfalen sicherlich. Auch anderorts scheint es manchen zu dämmern. Andere entgegnen mir schlicht, dass wir keine anglikanischen Verhältnisse hätten und zum Beispiel in den skandinavischen Ländern dies ganz anders aussähe.

Ich kann es nur hoffen, aber die rasante Entwicklung der Church of Scotland und auch die erlebte Realität in USA lässt mich anderes befürchten. In meiner Tätigkeit als Polizeiseelsorgerin, die vornehmlich in einem der größten Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrum tätig ist, erlebe ich, dass Religionszugehörigkeit die Ausnahme darstellt. Hierbei sind Musliminnen und Muslime eher auszumachen. Christinnen und Christen in der absoluten Minderheit. Der noch auszubildende polizeiliche Nachwuchs scheint vornehmlich ohne religiöse Affinität zu sein. Hier erlebe ich, was in der Mitte der Gesellschaft schon sehr bald Normalität darstellen und kirchliche Strukturen massiv in Frage stellen wird.

Kurze Zeit später lief ich an einer weiteren „Graffiti-Verzierung“ vorbei. In großen bunten Lettern prangte hier „SICK“ (engl. „krank“) deutlich lesbar an der grauen Wand der Parkgarage. Vielleicht müssen wir die Zeichen der Zeit schlicht erkennen und an dem gesunden, an dem unsere Kirche krankt?

Als kleine Pfarrerin hoffe ich, dass die Zeichen der Zeit von denen in Macht und Einfluss erkannt, Maßnahmen ergriffen, von Unnötigem (Exnovation) Abstand genommen und neue Wege (Innovation) versucht werden. Damit die Zeichen der Zeit nicht zu einem wahren biblischen Menetekel für Landeskirchen werden, wie sie bereits andernorts auf europäischen Boden sind.


Anempfohlen sei hierbei die Lektüre eines wichtigen Buches:

Sandra Bils und Gudrun Töpfer: Exnovation und Innovation: Synergie von Ende und Anfang in Veränderungen (Systemisches Management)

Das wunderbar trotzige Prinzip Hoffnung

Mein schwarzes Schälmesser trennte die dünne Schale vom frisch erworbenen Ingwer. Die Knolle dieses besonderen Gewächses, das seit Jahrhunderten als Gewürz und Arznei Verwendung findet, stammte aus dem fränkischen Knoblauchsland und hatte nicht, wie die meisten Ingwerknollen einen meilenweiten Weg hinter sich. Lokal. Frisch. Gesund. Einen Ingwer-Shot hatte ich heute sehr nötig, um die in mir aufsteigende Übelkeit an diesem Sonntagmorgen zu bekämpfen.

Flutkatastrophe in Valencia, Spanien.

Bevorstehende US-Wahlen voller Streit und Entzweiung.

Eine zerrissene deutsche Politik.

Krieg in der Ukraine.

Nordkoreanische Truppen in Russland.

Krieg im Heiligen Land.

Moldaus Ringen um Demokratie.

Machtkampf in Bolivien.

Beim Hören der Nachrichten war mir schlecht geworden. Trotz des strahlenden Novembermorgens hatten sich trübe Gedanken in den Vordergrund geschlichen. An der Hoffnung an solch einem Morgen festzuhalten, war gar nicht so einfach. Die Nachrichten überfluteten meine Gedanken und machten einem grollenden Bauchweh Platz.

Ich schnitt den geschälten Ingwer in kleine Stücke, ließ sie in den Zerkleinerer fallen und zerkleinerte das Ganze mit Zitronensaft und Honig angereichert zu einem dickflüssigen Getränk.

Die Gemüsebetriebe, die diesen Ingwer erfolgreich im Nürnberger Knoblauchsland angebaut hatten, hatten die Hoffnung nicht aufgegeben. Trotz spürbaren Klimawandel und massiven Herausforderungen stellten sie sich den neuen Gegebenheiten. Eigentlich wäre es so leicht, die Hände in den Schoß zu legen und nach einer Betriebsamkeit voller Tradition alles aufzugeben, weil die seit langem gewohnten Gemüsesorten nicht mehr oder schlechter reifen, die Energiepreise massiv angestiegen und Fachkräfte nur schwer zu finden waren. Aber sechzehn landwirtschaftliche Betriebe aus dem Nürnberger Norden gehen andere, innovative Wege, denn Gemüseanbau ist ihre Berufung. Ein aktiver und bewusster Schritt, der das Gewohnte an vielen Stellen verlässt, um neue Wege zu finden, die in die Zukunft weisen. Innovation gekoppelt mit Exnovation („Aktives Aufhören einer Tätigkeit“).

Eine exnovierende Grundhaltung hilft, das System auszumisten und dadurch handlungsfähig zu bleiben.

Bils/Töpfer: Exnovation und Innovation, S. 137.

Loslassen macht Platz für Neues. Dieser Prozess setzt die notwendige Energie frei, die Hoffnung und Mut für Gegenwart und Zukunft schenkt. Das zeigen die neuesten Studien zu systemischen Management. Der fränkische Ingwer ist ein solches hoffnungsvolles Produkt im Angesicht massiver Veränderungen, die wir uns alle nicht wünschen, aber in bitterer Weise unumgänglich sind. Der fränkische Ingwer ist umweltfreundlicher, frischer und bekömmlicher als jeglicher Ingwer aus Fernost, der tausende von Transportkilometern und so manches nicht kontrollierbares Spritzmittel mit im Gepäck hat.

Mich hat der Nürnberger Ingwer angesichts der Herausforderungen in Kirche sehr nachdenklich gemacht, denn auch die Kirchen stehen vor großen Herausforderungen. Der sonntägliche Gottesdienst wird zunehmend weniger besucht, die Mitgliedszahlen sind massiv am sinken und selbst zentrale Angebote stehen vielleicht schon bald aufgrund fehlender finanzieller Mittel auf dem Prüfstand. Was können wir als Kirche der Gesellschaft anbieten, das zeitgemäß und gleichzeitig relevant ist?

Was also können wir im kirchlichen Bereich an Exnovationen vornehmen, damit eine Gegenwart und Zukunft möglich wird? Sandra Bils schreibt weiter:

Im kirchlichen Bereich könnte sie [die Exnovation] unterstützen, dem traditionellen Erbe gerecht zu werden, indem durch Läuterungsprozesse eine gewisse Patina an Folklore und Gewohnheit kritisch hinterfragt wird und dadurch eine spezifischere Profilierung möglich wäre. Die zusätzlich damit einhergehende Ressourcenersparnis wird in den anstehenden Veränderungsprozessen dringend benötigt. (Bils, ebd.)

Unser Erbe und kostbare Verantwortung als Kirche liegt tief im Evangelium Jesu Christi verankert, das hoffnungsvoll durch Tod und Auferstehung über sich hinausweist. Ich würde es als das wunderbar trotzige Prinzip Hoffnung bezeichnen, das wir leben und anderen schenken können. 117 mal kommt „Hoffnung“ in der Bibel vor. Es gibt eine diesseitige, aber auch eine über das irdische Leben hinausragende Hoffnung, die in den Schmerzen der Zeit über die gegenwärtige Situation hinausweist. Wahlen. Kriege. Streit. Zwist. Sie alle werden nicht das letzte Wort haben, sagt uns der christliche Glaube.

Darum sollten wir als Kirchen eben nicht aufgeben oder die Situation eines Rückganges einfach resigniert annehmen, sondern wie die Gemüseanbaubetriebe des fränkischen Knoblauchslandes uns auf unsere Berufung konzentrieren und neue Wege suchen. Für mich ist dies das wunderbar trotzige Prinzip Hoffnung, das uns durch Jesus Christus geschenkt wurde, das wir weitergeben und durch Wort und Tat weiterschenken können. Darum:

Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat.

Heb 10,23

Die Gemüsebauer im Knoblauchsland halten an ihrer Berufung zum Gemüseanbau fest, der eine Region stärken und gesund nähren soll. Wir als Kirche sollten an dem Bekenntnis der Hoffnung festhalten. Auch oder gerade im Angesicht massiver Veränderungen, in denen wir so manches vielleicht Liebgewonnenes oder traditionell Gewohntes hinter uns lassen müssen. Bleibt für mich die Frage: Was könnte für uns als Kirche der scharfe, gesundmachende Ingwer als Vehikel unserer Kernbotschaft sein, den wir anbauen, ernten und weitergeben? Das kann wohl nur jeweils lokal entschieden werden. Was dem Knoblauchsland der ungewohnt neue Ingwer ist, mag im Bamberger Zwiebelland etwas ganz anderes, vielleicht die Süßkartoffel (?) sein. Was durch die MUT-Projekte im Münchner Raum der Flughafen Chor ist, mag im Dekanat Naila „OVERFLOW – die junge Kirche im Frankenwald“ sein.

Ein erster Schluck des Ingwer-Shots ran in meiner Kehle süß und scharf hinunter. Im Nu war mein von Bauchweh geplagter Leib von einem wohlig warmen Gefühl erfüllt. Gedankt sei es dem wunderbar trotzigen Prinzip Hoffnung.


Unbedingte Literaturempfehlung:

Sandra Bils und Gudrun Töpfer: Exnovation und Innovation: Synergie von Ende und Anfang in Veränderungen (Systemisches Management)