Von Orangen, Sedertellern und neuen Traditionen

Die Schale der kleinen Frucht wurde in einem festlichen Moment des Innehaltens vorsichtig von Yael geöffnet. Zum Vorschein kamen in den Händen von Rabbinerin Dr. Yael Deusel zarte Fruchtsegmente einer im heimischen Zuhause gewachsenen Orange, die gemeinsam mit dem Sroa in einer im Porzellan eingebetteten Kuhle gelegen hatte. Traditionell steht der Knochen auf dem Sederteller für das Pessachlamm, das am ersten Abend des Auszugs der Israeliten aus Ägypten geopfert wurde. Manche meinen sogar, dass dieser Knochen, geformt wie ein Arm, Gottes „ausgestreckten Arm“ bei der Befreiung des jüdischen Volkes aus der Knechtschaft in Ägypten symbolisiert.

Voller Faszination betrachtete ich den Sederteller in seinem für mich ungewohnten Ensemble. Schlomo Weißenfels, der mir schräg gegenüber saß und der Vorsitzende der Bamberger liberalen Gemeinde Mischkan ha-Tfila ist, sah mein Erstaunen und erklärte mir, dass die Orange ein relativ neue Addition zur jüdisch-liberalen Tradition sei. Im Volksmund habe ein Mann gesagt: „Die Idee von Rabbinerinnen macht so wenig Sinn, wie eine Orange auf dem Sederteller.“ Seitdem sei die Orange ein feministisches Symbol im Pessach.

Keine Geringere als Prof. Susannah Heschel, die Tochter des Rabbiners Abraham Joshua Heschel, war das Gegenüber dieser verbalen Äußerung. In New York hatte ich die Ehre, mit ihr aufgrund meiner Kooperation mit dem Leo Baeck Institut zusammen arbeiten zu dürfen. Die jüdische Feministin hat mich in dieser Zeit sehr inspiriert, da sie nicht nur für Frauenrechte einstand, sondern ihre Stimme für Marginalisierte erhob. Dass dieser neuzeitliche jüdische Brauch von ihr stammte, wärmte mein Herz an diesem Abend des Pessachfestes.

In einer Korrespondenz berichtete Susannah Heschel, wie die Zitrusfrucht ihren Weg in das wichtige jüdische Fest fand:

Anfang der 1980er Jahre lud mich die Hillel Foundation ein, an einem Podiumsgespräch am Oberlin College zu sprechen. Auf dem Campus stieß ich auf eine Haggada, die von einigen Oberlin-Studentinnen verfasst worden war, um feministische Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Ein von ihnen entwickeltes Ritual bestand darin, eine Brotkruste auf den Sederteller zu legen – als Zeichen der Solidarität mit jüdischen Lesben, ein Zeichen des Widerstands gegen die Aussage einer Rebbezin: „Im Judentum ist für eine Lesbe genauso viel Platz wie für eine Brotkruste auf dem Sederteller.“

Beim nächsten Pessach legte ich eine Orange auf den Sederteller unserer Familie. Während des ersten Teils des Seder bat ich alle, sich eine Orangenspalte zu nehmen, den Segen über die Frucht zu sprechen und sie als Zeichen der Solidarität mit jüdischen Lesben und Schwulen sowie anderen, die innerhalb der jüdischen Gemeinde marginalisiert sind, zu essen.

Brot auf dem Sederteller beendet Pessach – es macht alles chametz. Und es suggeriert, Lesbischsein sei transgressiv und verletze das Judentum. Ich hatte das Gefühl, dass eine Orange noch etwas anderes symbolisierte: die Fruchtbarkeit für alle Juden, wenn Lesben und Schwule sich aktiv am jüdischen Leben beteiligen. Außerdem enthielt jedes Orangenstück ein paar Kerne, die ausgespuckt werden mussten – eine Geste des Ausspuckens, die die Homophobie des Judentums ablehnte.

In Vorträgen erwähnte ich meinen Brauch oft als eines von vielen neuen feministischen Ritualen, die sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt haben. Doch irgendwie kam es zu dem typisch patriarchalischen Manöver:

Meine Vorstellung von einer Orange und meine Absicht, Lesben und Schwule zu bekräftigen, veränderten sich. Nun kursiert die Geschichte, ein Mann habe zu mir gesagt, eine Frau gehöre auf die Bima wie eine Orange auf den Sederteller. Die Worte einer Frau werden einem Mann zugeschrieben, und die Bekräftigung von Lesben und Schwulen wird schlichtweg ausgelöscht.

Ist nicht genau das im Laufe der Jahrhunderte mit den Ideen von Frauen geschehen? Und ist es nicht genau diese Auslöschung ihrer Existenz, die schwule und lesbische Juden bis heute ertragen müssen?

Recustom (Übersetzung: Miriam Groß) https://www.recustom.com/clips/4054948

Betrachtet man die Geschichten, die am Abend des Pessachfestes erzählt werden, so sind sie dominiert von männlichen „Zentralpersonen“ – von Mose, Aaron, der Pharao und vielen anderen. Frauen nehmen hier eher eine Randstellung ein. Erschreckend ist für mich als Frau, dass in einigen Haggadot in der Darstellung der vier fragenden Kinder ausgerechnet das Einfältige (Tam) und das, welches noch nicht zu fragen versteht (Ejno Jodea LiSchol) in einigen Illustrationen der Pessach-Erzählungen als Mädchen oder Frau dargestellt werden.

Wir sind noch lange in Sachen Geschlechterberechtigung nicht an einem Punkt der Gleichheit angekommen. In einer meiner ehemaligen Dienstgemeinden habe ich dies schmerzhaft erleben müssen als eine Reihe von Gemeindegliedern und Gottesdienstbesuchern mich regelmäßig und direkt damit konfrontierten, dass eine Frau nicht auf die Kanzel gehöre. Dies setzt sich bedauerlicher Weise in vielen anderen Tätigkeitsbereichen fort, wenn auch eher subkutan.

Die Orange am Sederteller hat mich an diesem Abend daran erinnert, dass die Geschichten der mutigen Frauen erzählt werden sollten, die für den Glauben einstanden und z.B. am Exodus teilnahmen. An diesem Abend wieß mich die Orange nicht nur auf Frauen auf der Bima hin, sondern auf alle Marginalisierten, die einer Befreiung und atemschenkender Freiheit bedürfen. Sie sticht als Erinnerung an all die Menschen hervor, die sich irgendwann in ihrem Leben nicht dazugehörig fühlen.

Die deplatziert aussehende Orange auf dem Sederteller ist ein Zeichen dafür, dass wir uns stets bemühen sollten, für Ausgegrenzte und Marginalisierte einzustehen, damit sie sich einbezogen werden – Freiheit für alle, so wie es dieses jüdische Freiheitsfest verspricht. Wie die Kerne der Orange ausgespuckt werden, so soll alles, was der Freiheit hinderlich ist, zurückgewiesen werden. Mir gefällt, dass meine jüdischen Geschwister um einen Platz für die Orange kämpfen. Ja, die Orange passt nie ganz hinein … und ja! Genau darum geht es.

Ich nahm das zarte Fruchtblatt aus der Hand meiner Freundin, der Rabbinern, an diesem Abend dankbar entgegen. Als ich auf das kleine Fruchtblatt biss, füllte ein bitter-beißender Geschmack meinen Mund und ich spuckte die Kerne auf den Essensteller. Möge die Orange auf vielen anderen Sedertellern ihren diskutablen Platz erhalten, der an den Kampf und das Engagement um Freiheit erinnert.

Vom Schrecken eines immer sichtbarer werdenden Antisemitismus

Eine lebhafte Unterhaltung voller Vorfreude auf die kommende Fortbildung entspann sich zwischen uns, während mein Mitarbeiter routiniert das Dienstauto durch den schnellen und manchmal dichten Verkehr der Autobahn in Richtung Dresden lenkte. Währenddessen schweifte mein Blick an anderen Autos vorbei und blieb an einem gelben Lieferwagen haften, dessen Laderaumtüren aufgrund des schlechten Wetters verschmutzt waren. Ein traurig dreinblickender Smiley, der in den Schmutz mit schneller Hand hinein gemalt worden war, sah mir mit großen Augen entgegen. Als unser Dienst-Kfz langsam an dem Lieferwagen vorbeizog, betrachtete ich das Gemalte näher und erschrak schrecklich. Neben dem Smiley prangte ein kleineres, aber durchaus sichtbares Hakenkreuz! Man mag vielleicht aufgrund des traurigen Smileys eine Opposition in dem Aufgemalten erahnen wollen. Aber wann und wie die Zeichenabfolge war oder wie das Beschriebene entstand, entzieht sich meinem Wissen. DASS ein Hakenkreuz auf Deutschlands Autobahnen an uns vorüberfuhr aber war ein großer Schrecken.

Mir wurde umgehend schlecht und die Luft fühlte sich plötzlich stickig und abgestanden an. Unsere freudige Unterhaltung nahm ein jähes Ende während ich meinen Mitarbeiter auf das Gesehene hinwies.

Der Antisemitismus ist inzwischen wieder sichtbar in unserer deutschen Gesellschaft angekommen. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nehmen die antisemitischen Hasstaten in besorgniserregender Weise zu. Was bis vor kurzem vielleicht in Randgruppen, unter vorgehaltener Hand oder im Verdeckten geäußert wurde, wird nun in Deutschland immer sichtbarer.

Auf dem Praxisschild einer befreundeten Rabbinern, die als Ärztin praktiziert, prangt ein Hakenkreuz, das mit einem scharfen Gegenstand in die Oberfläche geritzt worden war. Das Praxisschild befindet sich an einem Ärztehaus mit viel Publikumsverkehr und einer gut befahrenen Straße mitten in der beschaulichen Stadt Bamberg.

Es ist dieser Schockzustand, der mich seit Wochen umgibt und mich sorgenvoll auf unser Land blicken läßt. Antisemitismus ist eine schlimme, menschenverachtende Irrlehre, die sich wie ein maligner Krebs in unsere Gesellschaft seit Jahrhunderten hineingefressen hat. Bei dieser Irrlehre geht es um das Ganze, nämlich um unsere Demokratie, die aus den Schmerzen und bitteren Lehren des zweiten Weltkrieges geboren wurde. Es geht um die Frage, ob wir dem alles vernichtenden Hass des Antisemitismus stand halten oder unsere Demokratie, die nach dem Disaster des Holocaust und der weiten Zerstörung Deutschlands ein Miteinander, Wohlstand und Versorgung hervorgebracht hat, diesem Hass zum Sterben hingeben?

Es geht um eine fundamentale Spaltung. Darum, ob wir für unsere gemeinsamen Werte des Friedens, der Freiheit, der Menschenrechte und der Gerechtigkeit – so wir denn mehr daran glauben als an einen liebenden oder strafenden Gott – einstehen wollen oder nicht.

Philipp Peyman Engel (1)

Bei Antisemitismus, einer immer deutlicher werdenden und menschenverachtenden Form des Hasses, geht es um unser gesellschaftliches Ganzes. Um unsere demokratischen Werte. Um Freiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit. Der Theologe Martin Niemöller, der selbst zunächst ein Befürworter des NS-Wahns gewesen war und aufgrund eines späteren Gesinnungswandels von diesem Hass abgewandt hatte, hatte dies in vortreffliche Worte gekleidet. Sie waren damals an primär an seine deutschen Mitbürger gerichtet. In seinen Vorträgen beklagte er, dass viele Deutsche sich weigerten, Verantwortung für den Nationalsozialismus, für die Gräueltaten in den besetzten Ländern und für den Holocaust zu übernehmen.

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Das sollten wir unbedingt im Blick haben. Wir mögen gegenwärtig vielleicht aufgrund unserer religiösen Verotung, unserer politischen Meinung o.ä. nicht betroffen sein, aber irgendwann werden die meisten in den Sog der Gefährdung hineingezogen werden. Es geht in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung um den Kern Deutschlands: Um unsere deutsche Demokratie, die in großer Gewahr ist. Als Polizeiseelsorgerin versuche ich diejenigen, die unser Grundgesetz verteidigen und für es einstehen, zu stärken. Im berufsethischen Unterricht spreche ich über Antisemitismus und warne vor den gefährlichen Gedanken, die inzwischen immer deutlicher kursieren, damit sie diese in Wort und Bild erkennen können und dann einschreiten. Ein besonderer Kooperationspartner ist die Europäische Janusz Korczak Akademie, die bei uns mit der Ausstellung „Mit Davidstern und Lederhose“ zu Gast war, und die Fortbildungen zur Antisemitismusprävention angeboten hat. Welch ein Segen, solche engagierten Personen kennengelernt zu haben und sie inzwischen gut zu kennen. Ab Herbst diesen Jahres biete ich Fahrten in das jüdische Museum Franken an. Für unser Stamm- und Rahmenpersonal veranstalte ich in Absprache mit der Leitung unseres Aus- und Fortbildungszentrums Begegnungen mit dem lebendigen Judentum an durch Rabbinerin Dr. Yael Deusel und Führungen durch Patrick Nitzsche, den Antisemitismusbeauftragten der Stadt Bamberg, der warnend die vergangene NS-Zeit Bambergs und ihre Auswirkungen auf die Stadt aufzeigt.

Doch an Tagen wie diesen fühle ich mich als ob mein Bemühen nur ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein ist. Als ob alles evaporieren würde in der Hitze der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. Meine jüdische Freundin kann ich in ihrem Wirken als Rabbinern nur stützen und mich als eine erkennen geben, die diesem Hass keinen Zentimeter weichen wird, sondern ihm die Stirn mit den mir gegebenen Mitteln bieten.

Inzwischen war die Übelkeit bis in mein Herz gekrochen während der gelbe Lieferwagen mit Hakenkreuz im Autobahnverkehr verschwunden war. Ich setzte mich aufrecht im Beifahrersitz auf. Auf keinen Fall wollte ich aufgeben, sondern weiter mich für Demokratie und Menschenwürde einsetzen, die Antisemitismus und anderen Hassformen keinen Raum schenken würde. Ich öffnete das Fenster einen Spalt und lies kalte Luft hereinströmen, die langsam mein aufgebrachtes Herz beruhigte und die Übelkeit vertrieb.


(1) Engel, Philipp Peyman: Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch, DTV 2024, S. 170.