Church of Scotland: Eine Kirche im freien Fall

Die Sonnenstrahlen tauchten das große Symbol der Church of Scotland in gleißendes, helles Licht. In einem senkrechten Oval war ein brennender Dornbusch abgebildet, hinter dem die schottische Flagge ersichtlich war. Der weiße Rahmen mit der Aufschrift „Nec tamen consumebatur“ („und er wurde nicht verzehrt“) unterstrich die Abbildung der biblischen Berufungsgeschichte des Mose (Ex 3,2).

Ich stand vor dem Kirchenamt der reformierten Church of Scotland und betrachtete das Symbol mit gemischten Gefühlen. Seit meiner ersten Auslandsverwendung (2007-2010) als Pfarrerin in Orkney, einer kleinen schottischen Inselgruppe, war mir die reformierte Kirche sehr ans Herz gewachsen. Das Symbol begleitet mich seitdem als Erinnerung an wichtige Erfahrungen, die mich beruflich und privat tief geprägt haben. Doch heute sah ich zum ersten Mal mit großer Sorge auf das wunderschöne Emblem der schottischen reformierten Kirche, während die soeben gehörten Worte einer Kollegin in meinen Ohren widerhallten. In ihnen schwang viel Trauer und gleichzeitig Wehmut als wir uns über die vergangene gemeinsame Zeit unterhielten. Und fast hatte ich den Eindruck als ob kirchliche Dornbusch lichterloh brannte…

„New tamen consumebatur“ – „und er wurde nicht verzehrt“

Das im Emblem der Church of Scotland verwendet Symbol des brennenden Busches führt uns zum Buch Exodus und der Geschichte von Moses. Moses war einem Leben in unvorstellbarem Luxus und Wohlstand in Ägypten entflohen, nachdem er einen ägyptischen Sklaventreiber aus Empörung über dessen Brutalität getötet hatte. Nun war er Schafhirte in der Wildnis. Der biblischen Geschichte zufolge trifft Moses eines Tages beim Hüten seiner Schafe auf einen Busch, der seine Aufmerksamkeit erregt, weil er zu brennen scheint, aber noch nicht verzehrt ist. Als er näher kommt, hört er eine Stimme, die ihm sagt, er solle seine Schuhe ausziehen, weil er auf heiligem Boden stehe. Dort vor dem brennenden Dornbusch begegnet er dem lebendigen Gott, der ihm den göttlichen Namen offenbart und Moses in eine neue Berufung ruft: er soll die hebräischen Sklaven Ägyptens in die Freiheit führen.

Diese biblische Geschichte ist von solch großer Faszination und Kraft, das sie viele Menschen inspiriert hat.

„New tamen consumebatur“ – „und er wurde nicht verzehrt“

So kam es mit der Reformation zu einer Neuinterpretation des Bildes vom brennenden Dornbusch. Insbesondere Johannes Calvin interpretierte das Bild des brennenden Dornbuschs als Symbol der Kirche auf Erden, die mit vielen Schwierigkeiten und Nöten konfrontiert war und dennoch vom Geist Gottes getragen und am Leben erhalten wurde. In diesem Sinne glaubte er, dass die Kirche für immer brannte und doch nicht vom Feuer verzehrt wurde.

Als die Verfolgung reformierter Christen, insbesondere in Frankreich, zuzunehmen begann, wurde dieses Bild des brennenden Dornbuschs immer deutlicher. Die französisch-reformierte Kirche der Hugenotten war im 16. Jahrhundert unter besonderem Druck, und doch eine Kirche, die nicht ausgelöscht, sondern, wie sie glaubten, von Gottes Gegenwart getragen und ihr Glaube an Gottes Gnade kundgetan werden konnte Christus.

Eines der größten Massaker der Reformation fand in Frankreich statt, bekannt als das Massaker am Tag des Heiligen Bartholomäus am 24. August 1572. Es fand während der Feierlichkeiten zur Hochzeit der Schwester des Königs, Margarete, mit dem protestantischen Heinrich von Navarra (dem späteren Heinrich IV. von Frankreich) statt. Viele der reichsten und prominentesten Hugenotten hatten sich im weitgehend katholischen Paris versammelt, um an der Hochzeit teilzunehmen. In der darauf folgenden Tragödie wurden etwa 2000 Protestanten auf den Straßen von Paris ermordet. Diesem Massaker folgten unzählige weitere in anderen französischen Städten.

Das Massaker am Tag des heiligen Bartholomäus im Jahr 1572 erschütterte die reformierte Kirche Frankreichs zitierst und verursachte Auswanderungswellen von Hugenotten in andere umliegende Länder, aber auch Nordirland und Schottland bis hin nach Südafrika.

Die reformierte Kirche war unglaublichem Leid ausgesetzt worden, doch die Botschaft Gottes war weitergetragen und diese Kirchengemeinschaft vom politischen Feuer und Hass nicht verzehrt worden.

„New tamen consumebatur“ – „und er wurde nicht verzehrt“

Das Emblem des Dornbusches fand erstmals 1685 durch William Mure auf der Titelseite seines Buches „The Joy of Tears“ Verwendung, das die Probleme der schottischen Kirche thematisierte. Ab 1691 fand man es auf offiziellen Dokumenten der Church of Scotland und ist seitdem in Verwendung. Das Symbol hat nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil, denn die schottische Kirche befindet sich unter hohem Druck und dessen Zukunft steht massiv auf dem Spiel.

Als ich 2007 nach Orkney entsandt wurde, um die damals neue ökumenische Partnerschaft zwischen der Evangelischen Kirche in Bayern (ELKB) und der Church of Scotland (CoS) einen praktischen Ausdruck zu verleihen und in einigen Jahren Impulse für meine Heimatkirche mit nach Hause zu bringen, erlebte ich die ersten großen Wellen dieser massiven Veränderung. Damals verstand sich die Church of Scotland noch als Nationalkirche. Doch bereits in meiner dreijährigen Amtszeit war diese aufgrund der Bankenkrise, die von Amerika aus auch Europa und damit Schottland erschüttert hatte, vor große finanzielle Probleme gestellt worden. Die finanzielle Verflochtenheit mit Übersee hatte der CoS viel finanziellen Schaden eingebracht, der nun eingespart werden musste. Neben Pfarrstellenkürzungen waren es besonders Kirchengebäude und Pfarrhäuser, die veräußert werden mussten, um die schlimmsten Auswirkungen zu lindern. Ich selbst habe im Auftrag meiner damaligen Gemeinde drei Kirchengebäude veräußert – eine diffizile Aufgabe, die bis dorthin nicht auf dem Horizont meiner Vorstellungen von pfarramtlichen Tätigkeiten gewesen war. Nun musste ich als junge Pfarrerin meine Gemeinde durch diesen Trauerprozess und durch juristische Tiefen begleiten, während ich gleichzeitig versuchte, ihnen beim Heilen und Zusammenwachsen zu helfen.

„New tamen consumebatur“ – „und er wurde nicht verzehrt“

An diesem Apriltag in 2023 war ich erschüttert wieder vor die Türe des Kirchenamtes in Edinburgh getreten. Die gehörten Worte mussten verarbeitet werden. Seit meines Weggangs in 2010 hatten sich die Mitgliedszahlen in dramatischer Weise verändert. Seit 2011 waren die Mitgliederzahlen laut des Berichts der General Assembly von 2022 um 34% gefallen. Ab 2017 befand sich die CoS im freien Fall.

“See, I make all things new”: Report Church of Scotland General Assembly 2022, S. 08 Supplementary Report of the Assembly Trustees, S. 14.

Dr. John Chalmers, Moderator der Church of Scotland 2022, sieht laut Glasgow Times den Grund vor allem im Kontaktverlust mit Millenials bis Generation Z. Diese seien weiterhin auf der Suche nach spiritueller Heimat, würden aber nicht in der Kirche fündig. Daher würde viel Engagement nun in diesen Bereich investiert werden, um die Kirche wieder zukunftsfähig machen zu können.

„Our contact with children and our reach to millennials and Generation Z are marginal. These missing generations are our children and our children’s children. They are not without a desire for spiritual nourishment. They are still in search for meaning and they share many of our values. But all evidence suggests the ways in which these generations will pursue their search for meaning will not be through a top-heavy religious institution. We must invest seriously in new ventures, pioneer ministry and church planting. The time has come for us to cast our bread upon the water before the last one of us finds it is time to switch off the lights and redistribute what is left to other charities with similar aims.“

The Very Rev. Dr. John Chalmers

Meine Kollegin berichtete mir von schmerzhaften Zusammenlegungen, Stellenstreichungen und harten Sparmaßnahmen, die die gesamte Kirche in Sorge um die Zukunft versetzte. Die schiere Zahl an zum Kauf zur Verfügung stehende Kirchen erschreckte mich in den kommenden Tagen meines Schottlandaufenthaltes. Und hinterließ einen bitteren Geschmack beim Betrachten des Emblems. Würde der Dornbusch doch dem Austritts- und Finanzfeuer nicht mehr standhalten können und bald nichts mehr als etwas Asche von der einst so stolzen Nationalkirche, die ich am Beginn meiner Amtszeit kennenlernen durfte, übrig bleiben?

Es sind solche Erfahrungen, die uns in Deutschland hellhörig machen sollten, wenn wir die eigene Mitgliederentwicklung betrachten. Auch hier stehen schmerzhafte Einsparungen an und ein spürbarer Mitgliederschwund wird schon bald nicht nur in Verkäufen von Gebäuden, Schließungen von Einrichtungen und Zusammenlegungen von Gemeinden resultieren. Vielmehr sehe ich auch hier die Zukunft unserer Kirche schneller als gedacht in Frage gestellt. Wenn wir hierauf nicht mit unseren Kernkompetenzen wie Seelsorge und Diakonie auf der einen Seite, und einem Bemühen um die jüngeren Generationen auf der anderen Seite reagieren, fürchte ich um einen ähnlichen Verlauf wie in der Church of Scotland.

Trotz des gleißenden Sonnenlichts war es mir an diesem sonnigen Apriltag eiskalt über den Rücken gelaufen. Bei meinem Besuch hatte ich mit vielem gerechnet, aber nicht damit, eine einst stolze Kirche als eine Kirche in Not wieder aufzufinden. Ich hoffe sehr, dass die inzwischen kleine Church of Scotland Wege aus dieser Not mit Gottvertrauen und Engagement finden wird.

Gedanken am Rand von Kirche 2: Gegenwart und Zukunft der Kirche

Schwer lag die kleine, schwere Glocke in meiner Hand. Ich wog sie nachdenklich hin und her, bevor ich sie zum Läuten brachte, um meine Familie an den reich gedeckten Abendessenstisch zu rufen. Wie unsere Familienglocke, so war es mir als ob die Institution Kirche in die Jahre gekommen war. Der Glanz ist weg und seit kurzem einem durchaus schmerzhaften Realismus gewichen. Seit gut eineinhalb Jahren arbeite ich nach vielen Jahren Gemeindedienst nicht mehr im Pfarramt und tauche nicht nur beruflich als Seelsorgerin bei der Bundespolizei in ein anderes Tätigkeitsfeld ein, sondern bin gemeinsam mit meiner Familie das erste Mal seit langer Zeit ein einfaches Gemeindeglied. Wochentag und Wochenende. Arbeitszeit und Freizeit. Es sind unbekannte Rhythmen, die mir neue, wertvolle Einblicke in die Realität eines Kirchenmitgliedes schenken. Ich sehne mich nach einer Gemeinschaft, die Freud und Leid, Höhen und Tiefen des Lebens mit uns teilt. Erleben darf ich sie an ganz anderer Stelle: im Bereich der Bundespolizei. Vereidigungen, Festtage, aber auch Tod und Trauer vereinen uns über Religions- und Konfesssionsgrenzen hinweg.

Kirchenmitgliedschaft ist dort alles andere als selbstverständlich. Durch meine Lehrtätigkeit als Polizeiseelsorgerin weiß ich, dass die meisten meiner Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter keiner verfassten Kirche angehören und sich sehr selten einer Religion zugehörig fühlen. Kirchenskepsis und starke Kirchenkritik prägen diese Generation von Auszubildenden, die zwischen 16 und Ende 30 sind. Der von Till Reiners kirchlich viel kritisierte Beitrag im Rahmen der „Heute-Show“ findet begeisterte Aufnahme. Man mag die Inhalte so viel diskutieren, wie man will- für viele ist das nur eine Bestätigung ihrer bereits geformten Meinung über Kirche und Glaube.

Ich erlebe nun in meiner Tätigkeit als Seelsorgerin die Zukunft dessen, was Kirchengemeinden erwarten wird: dass Kirche und Gläubige in der Minorität sein werden. Eher die Ausnahme als die Regel. Das sollte zumindest unsere evangelische Kirche wachrütteln. Für mich stellt sich angesichts meiner langjährigen Erfahrungen im In- und Ausland die Frage, was Kirche eigentlich ausmacht und wie sie trotz der bereits immanenten Krise sich als Botschafterin des Glaubens bewähren kann. Eine glaubwürdige Zeugin sollte sie wieder sein, die nach Innen und Außen wirkt und sich an ihre Berufung durch Jesus Christus orientiert. Von der Nabelschau auf unterschiedlichen kirchlichen Ebenen habe ich leider mehr als genug miterleben dürfen. Eine freudige Glaubensgemeinschaft wünsche ich mir, die in der Ambivalenz des Lebens nach Innen und Außen die hoffnungsvolle Zuversicht des Glaubens weiter schenkt.

Freude – wahre Freude. Keine durch Konsum evozierte, vergängliche, sondern eine Freude, die in den Höhen und Tiefen zusammenhält und trägt, weil sie aus der tiefen Quelle des Glaubens gespeist wird.

In New York und Bamberg durfte ich mehrere Schabbat-Gottesdienste besuchen. Ich war jedes Mal überwältigt von der Freude, die am Freitagabend in die gottesdienstlich versammelte Gemeinde einzog als der Schabbat wie eine geschmückte Braut freudig willkommen geheißen wurde. Nachdem wir aufstanden und sie symbolisch begrüßten, ging der Gesang in einen Jubel über, der uns alle erfasste. Ich vermisse solch eine überschwängliche, überfließende, sich anderen schenkende Freude in unseren lutherischen Gottesdiensten.

Die Theologin Angela Williams Gorrell hat ähnliche Erfahrungen rund um den Schabbat machen dürfen. Während ich offizielle Gottesdienste zum Beginn des Feiertages in New York und Bamberg mehrfach besucht habe, berichtet sie in ihrem Buch „The Gravity of Joy“ von einer anschließenden Einladung in einen Privathaushalt:

„After the worship service, we gathered in a dining hall that had been specially prepared for hours before sundown so that no work would be done during the dinner. The tables were set, the candles were lit, and the food had been cooked.

Our only job was to eat course after course and talk about life as we enjoyed the meal and conversation with one another.

About an hour into the dinner, a man stood up on a chair and started clapping and singing loudly – no instruments, just his energy and voice and hands sounding together. He invited everyone in the room to join hin.

We need other people to invite us to rejoice as much as we need other people to invite us to befriend anger and fear and open lament.

We need to be trained in crisis care, and we need to witness pain and respond meaningfully to suffering – but we need joy too. At different points in our lives, our capacity for joy is enhanced or restricted by what we are facing. People have different capacities of joy.“

Angela Williams Gorrell: The Gravity of Joy, Grand Rapids, Michigan, USA 2021, p. 174.

Es wäre doch schon mal ein gelingender Anfang, wenn wir diese Freude ausstrahlen würden, anstatt durch einen oftmals traditionellen Gottesdienst abzuschrecken, der nur noch von denen verstanden wird, die dessen Sprache gelernt haben zu sprechen. (Der kritische Leser wird anmerken, dass es durchaus moderne Formate gäbe. Dem kann ich nur zustimmen, wobei die meisten besuchbaren Gottesdienste klassisch gestaltet sind und moderne Formate die Ausnahme darstellen. Und welcher Jugendliche oder junge Erwachsene besucht schon gern um 9:30 Uhr oder 10 Uhr nach durchfeierter Nacht einen Gottesdienst?)

Ich läutete ungeduldig unsere kleine Essensglocke. Doch der Glockenklöppel verhakte sich immer wieder und gab nur einen dumpfen leisen Klopfton ab, der sicherlich nur schwer durch die Zimmertüren dringen würde. Ob es mir gelingen würde, meine eigenen Kinder für Kirche zu begeistern? Seit eineinhalb Jahren lag das nicht mehr in meiner Hand. Ich hatte über viele Jahre versucht, die Grundlagen dafür zu schaffen. Würde die Kirche als glaubhafte, zugewandte Glaubenszeugin, die Gemeinschaft stiftete und Sinn schenkte, zu ihnen durchdringen oder ihr Rufen vor deren Tür wie dumpfe Glockenschläge verklingen?

Gedanken am Rand von Kirche

Als ich die kleine Knopfschublade öffnete, begrüßte mich buntes Durcheinander. Während ich den einen oder anderen Knopf in die Hand nahm, erinnerte ich mich an manches Kleidungsstück und Situationen, in denen ich es trug. Wie z.B. meinen beigen Regenmantel, der im Frühling und Herbst in New York mein treuer Begleiter gewesen war. (1) Mit einigem Erstaunen entdeckte ich mitten im Knöpfechaos die Teile meiner Ü-Ei-Kirche, die mich seid fast zwanzig Jahren begleitete. Ich fischte die Einzelteile aus der Schublade. Vor vielen Jahren war ich zum Dank zu einem sonntäglichen Mittagessen bei meinem Religionslehrer, der Pfarrer war, eingeladen worden. Über Monate hinweg hatte ich für ihn als Prädikantin im Alter von 19 Jahren Gottesdienste übernommen, da seine Arbeitslast hoch und eine Entlastung nicht in Sicht war. Zum Nachtisch gab es für dessen Kinder und mich jeweils ein Ü-Ei. Als ich dieses öffnete und eine kleine Kirche aus dem Inneren der süßen Verpackung schälte, war mein Erstaunen groß. Ob dies wohl ein Zeichen sei?, hatten wir uns damals gefragt, als mein Berufswunsch noch nicht festgestanden war.

So wie diese kleine Ü-Ei-Kirche zerstreut und in ihren Einzelteilen im Chaos meiner Knöpfe lag, so befinden sich die großen kirchlichen Institutionen in einem sehr zerbrechlichen Status. Die Corona-Jahre haben an deren Relevanz stark gekratzt, die Mitgliederzahlen fallen lassen, und nun erschüttert der massive Missbrauchsskandal der römisch-katholischen Kirche nicht nur diese Institution, sondern ebenso die evangelischen Kirchen. Die Austrittszahlen sind so hoch wie nie zuvor.

Ich schüttelte den Kopf, während ich den kleinen dunkelbraunen Hahn, der auf der Spitze des Kirchturms seinen Platz hatte, in meinen Händen drehte. Trotz vehementer Versicherungen hatte Petrus Jesus drei Mal verleugnet. (2) Wie die Glaubwürdigkeit des Paulus so steht nun die der Kirchen auf dem Spiel und ihre Relevanz für das soziale Gefüge. Als Pfarrerin, die am Rand von Kirche tätig ist, nämlich dort wo Kirche aufhört und durch die Bundespolizei der Dienst für die Bundesrepublik beginnt, darf ich angehende Polizistinnen und Polizisten im Fach Berufsethik unterrichten. Für mich ist es ein Privileg, diese jungen Menschen unterrichten und unterstützten zu dürfen. Wann hat man im Raum der Kirche eine solche Kontaktmöglichkeit, während die Gemeinden überaltern, wenige Jugendgruppen oder ähnliches haben? Die meisten meiner Anwärterinnen und Anwärter stammen aus „religions- und glaubensfernen“ Familien. Die wenigsten haben eine direkte Erfahrung mit einer Glaubensinstitution gemacht und noch weniger sind praktizierende Gläubige. Schon vor der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie innerhalb der römisch-katholischen Kirche war deren Vertrauen in „Kirche“ auf einem der letzten Plätze – schlechter schnitten zumeist nur noch die privaten Rundfunksender ab. Als Pfarrerin und Theologin, die vor vielen Jahren sich für eine berufliche Tätigkeit in der evangelischen Kirche entschieden hat, ist dies schmerzhaft. Es ist ein direktes, ungeschminktes Bild, das bereits jetzt die Zukunft von Kirche zeigt- und zwar die einer religiösen Minderheit, der eine Mehrheit religionsneutraler bzw. distanzierter Personen gegenübersteht.

Aber sollten sich Kirchen dem Chaos des Zersetzungs- und Verkleinerungsprozesses ergeben? Eine durchaus interessante Frage, denn schon bald werden sich noch drängendere Fragen der Finanzierbarkeit und personelle Engpässe aufgrund von hohen Ruhestandszahlen und fallender Nachwuchszahlen stellen. In Schottland hatte ich 2007-2010 erlebt, wie die damalige Church of Scotland, die sich als Nationalkirche verstand, massiv verkleinern, Kirchengebäude abstoßen und auch mit personellem Mangel umgehen musste. Doch diese reformierte ging den schmerzhaften Prozess mutig und proaktiv an, um weiterhin ihrem Ruf als Stimme für Gerechtigkeit und Frieden im Norden Europas gerecht werden zu können und sich durch aufgebrauchte Ressourcen nicht ganz aufzulösen.

Es gibt Theologen, die dieses Verständnis einer öffentlichen Stimme und Berufung nicht unterstützen. Der methodistische Theologe Stanley Hauerwas postuliert, dass Gemeinden wie ein sicherer Hafen seien sollten, die Gedanken Jesu separiert von jeglicher Umwelt erhalten und pflegen sollten bis einst der jüngste Tag eintreten sollte. (3) Doch was der Theologe übersieht ist die grundsätzliche Ausrichtung am höchsten Gebot, das Christen aufgetragen ist:

Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft«. Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.

Mk 12,29-31

Wenn die Kirchen dieses Gebot in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stellen, anstatt wie leider oft erlebt, sich um ihre exklusive Entität der Stagnation zu kümmern und um sich selbst zu kreisen, dann besteht Hoffnung und Glaubwürdigkeit, die über die eigene Institution hinausstahlt. Solche Gemeinden, die wie z.B. Vesperkirchen oder Kirchen mit Tafeln um Bedürftige kümmern. Die durch die Unterhaltung einer Pflegeeinrichtung diakonisch tätig sind, kommen dem Ruf Jesu nach. Dietrich Bonhoeffer hat einst zur Zeit der Diktatur des Nationalsozialismus, in der die Kirchen ihre Berufung zunehmend verloren und zu Mittätern wurden, hervorgehoben:

Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.

Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, S. 560.

Darin liegt die hoffnungsvolle Perspektive einer gegenwärtigen und zukünftigen Kirche, die sich neu findet, indem sie gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalt durch die Umsetzung des Doppelgebots der Liebe schenkt.

Nachdenklich setzte ich die kleine Kirche wieder zusammen. Ob meine Gedanken am Rand von Kirche innerhalb Gehör finden würden?


(1) Knopf rechts unten im Bild.

(2) Mk 14,30

(3) Stanley Hauerwas and William H. Willimon, Resident Aliens: A provocative Christian assessment of culture and ministry for people who know that something is wrong, 25th ed. (Nashville: Abingdon Press, 2014).

Mit der Osterkrippe die Kar- und Osterzeit erleben

Wie können wir die Kar- und Osterwoche in dieser turbulenten Zeit der Pandemie begehen? Gerade in der gegenwärtigen Situation braucht es liebgewonnene Rituale, die zu uns sprechen und die tief in unserer Erinnerung verankert sind.

Solch ein Ritual ist unsere Osterkrippe, die sich in der Kar- und Osterwoche vielfach verändert und uns die Geschichte von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi vor Augen führt. Ich wünsche euch viel Freude beim Betrachten der Bilder und Videos und grüße herzlich aus Bamberg.

Palmsonntag

Video mit Osterkrippe und Bibeltext:

Joh 12,12-19:
Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.
Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.

Gründonnerstag: Garten Gethsemane

Video mit Bibeltext:

Mk 14,43-52:

Und alsbald, während er noch redete, kam herzu Judas, einer von den Zwölfen, und mit ihm eine Schar mit Schwertern und mit Stangen, von den Hohenpriestern und Schriftgelehrten und Ältesten. Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen genannt und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist’s; den ergreift und führt ihn sicher ab. Und als er kam, trat er alsbald zu ihm und sprach: Rabbi!, und küsste ihn. Die aber legten Hand an ihn und ergriffen ihn. Einer aber von denen, die dabeistanden, zog sein Schwert und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm ein Ohr ab.
Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Seid ihr ausgezogen wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen, mich gefangen zu nehmen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und habe gelehrt, und ihr habt mich nicht ergriffen. Aber so muss die Schrift erfüllt werden. Da verließen ihn alle und flohen.
Und ein junger Mann folgte ihm nach, der war mit einem Leinengewand bekleidet auf der bloßen Haut; und sie griffen nach ihm. Er aber ließ das Gewand fahren und floh nackt.

Karfreitag

Video mit Bibeltext:

Mk 15, 20-41

Und sie führten ihn hinaus, dass sie ihn kreuzigten. Und zwangen einen, der vorüberging, Simon von Kyrene, der vom Feld kam, den Vater des Alexander und des Rufus, dass er ihm das Kreuz trage. Und sie brachten ihn zu der Stätte Golgatha, das heißt übersetzt: Schädelstätte. Und sie gaben ihm Myrrhe im Wein zu trinken; aber er nahm’s nicht.
Und sie kreuzigten ihn. Und sie teilten seine Kleider und warfen das Los darum, wer was bekommen sollte. Und es war die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigten. Und es stand geschrieben, welche Schuld man ihm gab, nämlich: Der König der Juden. Und sie kreuzigten mit ihm zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken.
Und die vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Ha, der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir nun selber und steig herab vom Kreuz! Desgleichen verspotteten ihn auch die Hohenpriester untereinander samt den Schriftgelehrten und sprachen: Er hat andern geholfen und kann sich selber nicht helfen. Der Christus, der König von Israel, er steige nun vom Kreuz, damit wir sehen und glauben. Und die mit ihm gekreuzigt waren, schmähten ihn auch.
Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Und einige, die dabeistanden, als sie das hörten, sprachen sie: Siehe, er ruft den Elia. Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, gab ihm zu trinken und sprach: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihn herabnehme!
Aber Jesus schrie laut und verschied.
Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so verschied, sprach: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!
Und es waren auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter ihnen Maria Magdalena und Maria, die Mutter Jakobus des Kleinen und des Joses, und Salome, die ihm nachgefolgt waren, als er in Galiläa war, und ihm gedient hatten, und viele andere Frauen, die mit ihm hinauf nach Jerusalem gegangen waren.

Karsamstag

Video mit Bibeltext:

Mk 15, 42-47

Und als es schon Abend wurde und weil Rüsttag war, das ist der Tag vor dem Sabbat, kam Josef von Arimathäa, ein angesehener Ratsherr, der auch auf das Reich Gottes wartete; der wagte es und ging hinein zu Pilatus und bat um den Leichnam Jesu. Pilatus aber wunderte sich, dass er schon tot war, und rief den Hauptmann und fragte ihn, ob er schon länger gestorben wäre. Und als er’s erkundet hatte von dem Hauptmann, überließ er Josef den Leichnam. Und der kaufte ein Leinentuch und nahm ihn ab vom Kreuz und wickelte ihn in das Tuch und legte ihn in ein Grab, das war in einen Felsen gehauen, und wälzte einen Stein vor des Grabes Tür. Aber Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Joses, sahen, wo er hingelegt war.

Ostersonntag

Video mit Bibeltext:

Mk 16, 1-10

Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß.
Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingeht nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas; denn sie fürchteten sich.
[Als aber Jesus auferstanden war früh am ersten Tag der Woche, erschien er zuerst Maria Magdalena, von der er sieben Dämonen ausgetrieben hatte. Und sie ging hin und verkündete es denen, die mit ihm gewesen waren, die da Leid trugen und weinten.]

Überlebenskampf der anderen Art

Wie Kirchen in USA in Zeiten von Corona um ihr Bestehen kämpfen

Betroffenes Schweigen breitete sich im digitalen Meeting der Pfarrkonferenz aus. Die sonst so fröhlichen und positiven Gesichter meiner Kolleginnen und Kollegen spiegelten den gemeinsamen Schmerz und die in ihnen aufkeimende Angst wieder. „Man! I am so sorry to hear that! We´ll be prayin` for you and your congregation.“ Während der sonst immer so fröhlichen Ankommensrunde, hatte ein Kollege von seiner gegenwärtigen Situation berichtet. Nachdem er selbst im Frühling mit COVID erkrankt war, musste er sich zusammen mit seiner Gemeinde nun einem Überlebenskampf der anderen Art stellen: Aufgrund der stark gefallenen Einnahmen seiner Gemeinde, die sich aus Mitgliedsbeiträgen und Vermietungen des Gebäudes speisten, hatte die Gemeindeleitung ihm mitgeteilt, dass sie in den kommenden Wochen sein Gehalt nicht mehr zahlen könne.

In den USA finanzieren sich protestantische Kirchengemeinden selbst. Sie speisen sich weder aus einer Kirchensteuer wie in Deutschland, noch einem Solidaritätsprinzip wie in Schottland. Sie sind dem Gesetz des Marktes ebenso ausgesetzt wie ein Geschäft oder ein Sportverein. Auf diesem religiösen Markt müssen sie sich mit ihrem Angebot behaupten und sind direkt auf die Unterstützung ihrer Mitglieder angewiesen. Im Zuge der Pandemie erleben die Vereinigten Staaten eine der schwersten dokumentierten wirtschaftlichen Krisen. Allein im Staat New York sind laut dem „Bureau for Labor Statistics“ 15.7 % der Arbeitnehmer im Juni 2020 arbeitslos. Diese Entwicklung betrifft umgehend Kirchen, die in direkter Weise von den Zuwendungen ihrer Mitglieder abhängig sind. Da aufgrund der Pandemie weitere Einnahmequellen wie Vermietungen und Veranstaltungen ebenso entfallen, haben zahlreiche Kirchengemeinden existenziellen Probleme, die selbst vor einem Pfarrgehalt nicht Halt machen.

Erste Initiativen wie „Churches helping Churches„, die von Justin Giboney gegründet worden war, versuchen basierend auf den biblischen Vorbild ein Solidaritätsangebot in dieser Notsituation bereitzustellen. Im Mittelpunkt steht hierbei ein Bericht aus der Apostelgeschichte:

Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.

Apg 2,45 (Lut 2017)

Inzwischen ist mit einer Pandemie, die über ein halbes Jahr die Vereinigten Staaten und deren ökonomische Talfahrt prägt, jede Form der Hilfe vor allem für kleine und mittlere Gemeinden überlebenswichtig, denn fast ein Fünftel der protestantischen Kirchen verfügt laut einer in 2017 durchgeführten Umfrage von LifeWay Research verfügt nur die Hälfte der Kirchen 2017 über lebensnotwendige Reserven, die ein Weiterbestehen im extremen Einnahmeausfall von höchstens 15 Wochen (sog. „Rainy Day Funds“) sichert. Besonders betroffen sind hierbei Minoritätskirchen, die auf eine besondere Zielgruppe zugehen und durch eine überschaubare, kleine Mitgliederschaft gekennzeichnet sind. Besonders kleine afro-amerikanische Kirchen seien hierbei laut Barna in großer Gefahr. Doch dieser Trend gilt ebenso für andere, kleine und vielleicht in ihrem Profil spezialisierte Kirchen.

Durch die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie wird sich in den USA die Vielfalt der religiösen Landschaft massiv verändern. Es ist davon auszugehen, dass manche Glaubensrichtung in gewissen Landstrichen unterversorgt sein wird, da schlicht ein adäquates und räumlich zugängliches Angebot fehlt. Selbstverständlich kann ein digitales Angebot Entfernungen überbrücken und Zugang zu gottesdienstlichen und geistlichen Veranstaltungen ermöglichen. Doch aus meiner Sicht zeichnet Kirche vor allem aus, dass sie mit Bonhoeffer gesprochen für andere da ist und sich um die Bedürfnisse derer kümmert, die sich am Rande der Gesellschaft befinden. Gerade in den USA, wo es keine vergleichbare Institution wie die Diakonie gibt, sind viele angewiesen auf greifbare Hilfe vor Ort durch Tafeln, Kleiderkamern und andere diakonische Initiativen, die bis dato von Kirchengemeinden übernommen wurden. Durch das Sterben kleiner Gemeinden wird auch die Hilfe für die Ärmsten der Armen weniger zahlreich und zugänglich werden. Eine weitere bittere Auswirkung der Pandemie.

Selbstverständlich spürt auch die Kirche in Deutschland die finanziellen Auswirkungen der Pandemie. Die neuesten Kirchenaustrittszahlen sind sicherlich auch dieser weltweiten Krise mit geschuldet. Doch nehme ich ein sehr besonnenes Handeln in Kirchenleitungsebenen wahr, die bereits vor der Pandemie wie der bayerische Zukunftsprozess „Profil und Konzentration“. Hier wird versucht, Zukunft nicht nur zu denken, sondern bereits in der Gegenwart durch Projekte und Umstrukturierung zu ermöglichen.

Vor allem in Zeiten wie Corona wäre ein etabliertes Solidaritätsprinzip und ein Reformprozess dringend notwendig, aber dieser aufgrund der losen Verbindung bzw. kompletten Eigenständigkeit von Kirchengemeinden undenkbar. Dafür trifft diese die ökonomischen Auswirkungen in oftmals existenzieller Weise.

Das spürt nun die Gemeinde des Kollegen in direkter Form. Nachdem er diese Nachricht an uns weitergegeben hatte, wich das Schweigen erst nach langen Schrecksekunden einer geschäftigen Runde von Fragen und Ratschlägen. Allen dämmerte sehr schnell, dass je länger die Pandemie anhalten würde, diese Situation keine einzelne bleiben würde.

Waffen der Gerechtigkeit

Es war wie ein New Yorker Tag aus dem Bilderbuch mit einem strahlen blauen Himmel. Ein leichter Wind wehte wohltuend durch die Häuserschluchten und erfrischte mich beim Gehen trotz der hochsommerlichen Temperaturen. Sie die berühmte 5th Avenue, auf der es von Fußgängern und dichtem Verkehr immer nur so wuselte, war fast ausgestorben. Die meisten Luxusgeschäfte, in der die Reichen und Sternchen dieser Welt ihren Kaufgelüsten nachgingen, waren geschlossen. Manche waren immer noch seit dem Beginn der Unruhen vor einigen Wochen mit Sperrholzplatten vernagelt.

Während PRADA & Co. und deren kaufkräftige Kunden nun ins „pademie-sichere“ Online-Geschäft migriert waren, ringt die USA mit diesem Dämon, der aus dem Ringen nach Profit, Konsum und Eigensucht geboren worden war: der Marginalisierung und Ausbeutung von Menschenleben und konkreten gesellschaftlichen Schichten.

Ich kehrte dem PRADA-Geschäft und seiner teuren Auslage den Rücken und konzentrierte mich auf den leuchtend gelben Schriftzug vor mir auf der 5th Avenue, der mir tröstend in großen Lettern BLACK LIVES MATTER entgegen strahlte.

BLACK LIVES MATTER, 5th Ave zw. 56. und 57. Street
BLACK LIVES MATTER, 5th Ave zw. 56. und 57. Street

Donnerstag vor einer Woche (9. Juli) hatten namhafte Vertreter New York Citys zusammen mit Bürgermeister Bill De Blasio vor Trump Tower diesen leuchtend gelben Schriftzug eigenhändig aufgezeichnet. Jeder Besucher und Bewohner dieses Luxusgebäudes auf einer der teuersten Straßen der Welt würde sich nun nicht mehr der „Black Lives Matter“-Bewegung und ihrem mahnenden Ruf gegen systemischen Rassismus entziehen können. Just nach Bekanntgabe des Plans sprach Präsident Trump via Twitter von einem Symbol des Hasses und einer Verunglimpfung der Luxusstraße. Eine Reaktion, die die Zeichenhandlung gegen ein ungerechtes kapitalistisches System nur noch mehr unterstrich.

Trump Tower, 5th Ave
Trump Tower, 5th Ave

Die Anbringung des Schriftzuges durch Vertreter New York Citys und Bürgermeister De Blasio erinnern mich an eine Reihe von Propheten, die die Botschaft Gottes durch ihre Handlungen sichtbar und erfahrbar werden ließen. So wird zum Beispiel von Jesaja berichtet, dass er drei Jahre nackt in Jerusalem herumgelaufen sei (Jes 20,3). Die Zeichenhandlungen der biblischen Propheten reichen von Haarescheeren (Ezechiel), über die Auferlegung eines Jochs (Jeremia) bis hin zur Heirat einer Prostituierten (Hosea) und Benennung von Söhnen mit Symbolnamen (Jesaja und Hosea).

Propheten waren dazu berufen, Gottes Botschaft zu den Menschen zu bringen und auf Ungerechtigkeiten in Gesellschaft und Politik hinzuweisen. So nahm der Prophet Amos kein Blatt vor den Mund als er auf die sozialen Zustände seiner Zeit hinwies und die Frauen der damaligen Oberschicht als „fette Kühe“ bezeichnete, deren Familien aufgrund der Ausbeutung von niederen Gesellschaftsschichten zu ihrem Wohlstand und Reichtum gelangt waren:

Hört dies Wort, ihr fetten Kühe auf dem Berge Samarias, die ihr den Geringen Gewalt antut und schindet die Armen und sprecht zu euren Herren: Bringt her, lasst uns saufen! Gott der Herr hat geschworen bei seiner Heiligkeit: Siehe, es kommt die Zeit über euch, dass man euch herausziehen wird mit Angeln und, was von euch übrig bleibt, mit Fischhaken. Und ihr werdet zu den Mauerlücken hinausmüssen, eine jede vor sich hin, und zum Hermon weggeschleppt werden, spricht der Herr.

Amos 4,1-3

Die prophetische Tradition die Wahrheit Gottes und dessen Wunsch nach einer gerechten Gesellschaft auszusprechen und nicht vor den Zentren der Macht noch deren Vertretern in Gesellschaft und Politik zurück zu schrecken, ist ebenso bei Jesus vorzufinden. Er scheute sich nicht vor Diskussionen mit Entscheidungsträgern und lies das Reich Gottes Realität werden, indem er Kranke heilte, Ausgestoßene Aufmerksamkeit und Straftätern eine Möglichkeit zur Rückkehr gewährte. Dabei wartete er nicht auf den Beschluss eines Gremiums noch seiner Jünger, sondern wendete sich denen am Rand der Gesellschaft Befindlichen zu. Den Schwächsten und Bedürftigen. Dies gab er auch seinen Jüngerinnen und Jüngern als Richtschnur für ihr eigenes Handeln auf.

Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.

Mt 25,35-36

Weiterverfolgen können wir diese Tradition beim Apostel Paulus, der in seinem ersten Brief an die Korinther darauf hinwies, dass wir als Gemeinschaft ein Ganzes darstellen. Hierfür nutzte er das verständliche Bild des Leibes. Jeder hat sicherlich schon einmal erlebt, dass ein Körperteil erkrankt war und dadurch die ganze Person leiden musste. Diese Gesamtheit lässt sich ebenso auf gesellschaftliche Strukturen übertragen (1. Kor 12,26). Martin Luther King Jr. aktualisierte diesen Gedanken in einem fiktiven Brief des Apostels an amerikanische Christen, den er am 4. November 1956 neun Tage bevor der oberste amerikanische Gerichtshof die Segregation im Bustransport Alabamas als verfassungswidrig erklärte:

Der Missbrauch des Kapitalismus kann auch zu tragischer Ausbeutung führen. Dies ist in eurer Nation so oft passiert. Sie sagen mir, dass ein Zehntel der Bevölkerung mehr als vierzig Prozent des Reichtums kontrolliert. Oh Amerika, wie oft hast du den Massen das Nötigste genommen, um den [höheren] Klassen Luxus zu geben. Wenn ihr eine wahrhaft christliche Nation sein wollt, müsst ihr dieses Problem lösen. […] Ihr könnt im Rahmen der Demokratie arbeiten, um eine bessere Verteilung des Wohlstands zu erreichen. Ihr könnt eure mächtigen wirtschaftlichen Ressourcen nutzen, um die Armut vom Erdboden zu wischen. Gott hatte nie vor, dass eine Gruppe von Menschen in überflüssigem, übermäßigem Reichtum lebt, während andere in bitterer, tödlicher Armut leben. Gott beabsichtigt, dass alle seine Kinder die Grundbedürfnisse des Lebens haben, und er hat in diesem Universum „genug und teilbares“ für diesen Zweck gegeben. Deshalb fordere ich euch auf, die Kluft zwischen bitterer Armut und überflüssigem Reichtum zu überwinden.“ (1)

Martin Luther King, Jr., Pauls Letter to American Christians

Unglaubliche 64 Jahre später, ringt die USA immer noch um ein gerechtes gesellschaftliches System, das durchwoben ist von einer Benachteiligung gegenüber farbigen Bevölkerungsgruppen und anderen Minoritäten am Rande der Gesellschaft. Es bedarf daher vieler mutiger Personen, die in prophetischer Tradition gegen diese Ungerechtigkeiten aufsprechen und ihre Stimme für die erheben, die keine Stimme haben. So wie dies gegenwärtig durch die Bewegung „Black Lives Matter“ geschieht. Ein biblische Erbe das Christinnen und Christen mutig annehmen sollten.

Eine Person äußerte mir gegenüber letztens ihre Erleichterung, dass Deutschland nicht mit den amerikanischen Problemen des Rassismus behaftet sei. Das ist zu einfach gedacht. Rassismus ist eine gesellschaftliche Realität in Europa. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Antisemitismus als dessen häretischer Zwilling unglaubliches Leid über Deutschland, Europa und weite Teile der westlichen Welt gebracht hat. (2) Während ich sprachlos in den Telefonhörer starrte und die Worte der Person ungehört an mir herunter perlten, zogen mich meine Gedanken in die Zeit des Nationalsozialismus: Was wäre gewesen, wenn man damals mutig aufgestanden wäre als Christen und als Kirche und vor die damaligen Zentren der Macht als deutsches Pendant „Jüdisches Leben Ist Wertvoll“ oder den Anglizismus „Jewish Lives Matter“ geschrieben hätte? Stattdessen wählten die großen Kirchen den Weg in die Mittäterschaft und unterstützten das mörderischste Hasssystem der Welt in seiner menschenverachtenden Politik. Gerade deshalb geht es Christ*innen in Deutschland besonders an! Sie müssen sich verpflichtet fühlen zu dem Jahrtausende alten Ruf der Propheten, der gegen Ungerechtigkeit von Benachteiligten und Menschen an den Rändern unserer Gesellschaft aufspricht. Weil andere Minoritäten sich in sozialer und finanzieller Not befinden, könnte zum Beispiel auch andere Rufe laut werden, wie…

„Jewish Lives Matter“

oder „Sinti Lives Matter“

oder „Homeless Lives Matter“

oder „Female Lives Matter“ und so viele mehr.

Ich träume von einer Kirche, die dem prophetischen Ruf Gottes folgt und tief in der Beauftragung Jesu Christi verwurzelt ist. Je mehr diesem Ruf folgen, umso größer wird das Reich Gottes bereits in dieser Welt. Ein Vorgeschmack auf den Himmel und wie Gott sich unsere Welt erhofft.


(1) Originaltext: „The misuse of Capitalism can also lead to tragic exploitation. This has so often happened in your nation. They tell me that one tenth of one percent of the population controls more than forty percent of the wealth. Oh America, how often have you taken necessities from the masses to give luxuries to the classes. If you are to be a truly Christian nation you must solve this problem. You cannot solve the problem by turning to communism, for communism is based on an ethical relativism and a metaphysical materialism that no Christian can accept. You can work within the framework of democracy to bring about a better distribution of wealth. You can use your powerful economic resources to wipe poverty from the face of the earth. God never intended for one group of people to live in superfluous inordinate wealth, while others live in abject deadening poverty. God intends for all of his children to have the basic necessities of life, and he has left in this universe „enough and to spare“ for that purpose. So I call upon you to bridge the gulf between abject poverty and superfluous wealth.

in: Martin Luther King Jr., A Knock at Midnight, 1998, S. 28.

(2) Auf diese Analogie hatte ich vor einiger Zeit in dem Artikel „Denk ich an Amerika“, Christ & Welt hingewiesen.

Blog „Church and Society“

I am delighted that you have found my blog about „Church and Society“. The different articles will try to discuss and process how Church can speak Gods truth into society.

They are all written from my personal perspective as a Lutheran Minister, who is called through the Evangelical Churches in Germany (EKD) to a German speaking congregation in New York. Some opinions might defer from the local setting, but they always reflect the official opinion of my home church body in Germany.