Das wunderbar trotzige Prinzip Hoffnung

Mein schwarzes Schälmesser trennte die dünne Schale vom frisch erworbenen Ingwer. Die Knolle dieses besonderen Gewächses, das seit Jahrhunderten als Gewürz und Arznei Verwendung findet, stammte aus dem fränkischen Knoblauchsland und hatte nicht, wie die meisten Ingwerknollen einen meilenweiten Weg hinter sich. Lokal. Frisch. Gesund. Einen Ingwer-Shot hatte ich heute sehr nötig, um die in mir aufsteigende Übelkeit an diesem Sonntagmorgen zu bekämpfen.

Flutkatastrophe in Valencia, Spanien.

Bevorstehende US-Wahlen voller Streit und Entzweiung.

Eine zerrissene deutsche Politik.

Krieg in der Ukraine.

Nordkoreanische Truppen in Russland.

Krieg im Heiligen Land.

Moldaus Ringen um Demokratie.

Machtkampf in Bolivien.

Beim Hören der Nachrichten war mir schlecht geworden. Trotz des strahlenden Novembermorgens hatten sich trübe Gedanken in den Vordergrund geschlichen. An der Hoffnung an solch einem Morgen festzuhalten, war gar nicht so einfach. Die Nachrichten überfluteten meine Gedanken und machten einem grollenden Bauchweh Platz.

Ich schnitt den geschälten Ingwer in kleine Stücke, ließ sie in den Zerkleinerer fallen und zerkleinerte das Ganze mit Zitronensaft und Honig angereichert zu einem dickflüssigen Getränk.

Die Gemüsebetriebe, die diesen Ingwer erfolgreich im Nürnberger Knoblauchsland angebaut hatten, hatten die Hoffnung nicht aufgegeben. Trotz spürbaren Klimawandel und massiven Herausforderungen stellten sie sich den neuen Gegebenheiten. Eigentlich wäre es so leicht, die Hände in den Schoß zu legen und nach einer Betriebsamkeit voller Tradition alles aufzugeben, weil die seit langem gewohnten Gemüsesorten nicht mehr oder schlechter reifen, die Energiepreise massiv angestiegen und Fachkräfte nur schwer zu finden waren. Aber sechzehn landwirtschaftliche Betriebe aus dem Nürnberger Norden gehen andere, innovative Wege, denn Gemüseanbau ist ihre Berufung. Ein aktiver und bewusster Schritt, der das Gewohnte an vielen Stellen verlässt, um neue Wege zu finden, die in die Zukunft weisen. Innovation gekoppelt mit Exnovation („Aktives Aufhören einer Tätigkeit“).

Eine exnovierende Grundhaltung hilft, das System auszumisten und dadurch handlungsfähig zu bleiben.

Bils/Töpfer: Exnovation und Innovation, S. 137.

Loslassen macht Platz für Neues. Dieser Prozess setzt die notwendige Energie frei, die Hoffnung und Mut für Gegenwart und Zukunft schenkt. Das zeigen die neuesten Studien zu systemischen Management. Der fränkische Ingwer ist ein solches hoffnungsvolles Produkt im Angesicht massiver Veränderungen, die wir uns alle nicht wünschen, aber in bitterer Weise unumgänglich sind. Der fränkische Ingwer ist umweltfreundlicher, frischer und bekömmlicher als jeglicher Ingwer aus Fernost, der tausende von Transportkilometern und so manches nicht kontrollierbares Spritzmittel mit im Gepäck hat.

Mich hat der Nürnberger Ingwer angesichts der Herausforderungen in Kirche sehr nachdenklich gemacht, denn auch die Kirchen stehen vor großen Herausforderungen. Der sonntägliche Gottesdienst wird zunehmend weniger besucht, die Mitgliedszahlen sind massiv am sinken und selbst zentrale Angebote stehen vielleicht schon bald aufgrund fehlender finanzieller Mittel auf dem Prüfstand. Was können wir als Kirche der Gesellschaft anbieten, das zeitgemäß und gleichzeitig relevant ist?

Was also können wir im kirchlichen Bereich an Exnovationen vornehmen, damit eine Gegenwart und Zukunft möglich wird? Sandra Bils schreibt weiter:

Im kirchlichen Bereich könnte sie [die Exnovation] unterstützen, dem traditionellen Erbe gerecht zu werden, indem durch Läuterungsprozesse eine gewisse Patina an Folklore und Gewohnheit kritisch hinterfragt wird und dadurch eine spezifischere Profilierung möglich wäre. Die zusätzlich damit einhergehende Ressourcenersparnis wird in den anstehenden Veränderungsprozessen dringend benötigt. (Bils, ebd.)

Unser Erbe und kostbare Verantwortung als Kirche liegt tief im Evangelium Jesu Christi verankert, das hoffnungsvoll durch Tod und Auferstehung über sich hinausweist. Ich würde es als das wunderbar trotzige Prinzip Hoffnung bezeichnen, das wir leben und anderen schenken können. 117 mal kommt „Hoffnung“ in der Bibel vor. Es gibt eine diesseitige, aber auch eine über das irdische Leben hinausragende Hoffnung, die in den Schmerzen der Zeit über die gegenwärtige Situation hinausweist. Wahlen. Kriege. Streit. Zwist. Sie alle werden nicht das letzte Wort haben, sagt uns der christliche Glaube.

Darum sollten wir als Kirchen eben nicht aufgeben oder die Situation eines Rückganges einfach resigniert annehmen, sondern wie die Gemüseanbaubetriebe des fränkischen Knoblauchslandes uns auf unsere Berufung konzentrieren und neue Wege suchen. Für mich ist dies das wunderbar trotzige Prinzip Hoffnung, das uns durch Jesus Christus geschenkt wurde, das wir weitergeben und durch Wort und Tat weiterschenken können. Darum:

Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat.

Heb 10,23

Die Gemüsebauer im Knoblauchsland halten an ihrer Berufung zum Gemüseanbau fest, der eine Region stärken und gesund nähren soll. Wir als Kirche sollten an dem Bekenntnis der Hoffnung festhalten. Auch oder gerade im Angesicht massiver Veränderungen, in denen wir so manches vielleicht Liebgewonnenes oder traditionell Gewohntes hinter uns lassen müssen. Bleibt für mich die Frage: Was könnte für uns als Kirche der scharfe, gesundmachende Ingwer als Vehikel unserer Kernbotschaft sein, den wir anbauen, ernten und weitergeben? Das kann wohl nur jeweils lokal entschieden werden. Was dem Knoblauchsland der ungewohnt neue Ingwer ist, mag im Bamberger Zwiebelland etwas ganz anderes, vielleicht die Süßkartoffel (?) sein. Was durch die MUT-Projekte im Münchner Raum der Flughafen Chor ist, mag im Dekanat Naila „OVERFLOW – die junge Kirche im Frankenwald“ sein.

Ein erster Schluck des Ingwer-Shots ran in meiner Kehle süß und scharf hinunter. Im Nu war mein von Bauchweh geplagter Leib von einem wohlig warmen Gefühl erfüllt. Gedankt sei es dem wunderbar trotzigen Prinzip Hoffnung.


Unbedingte Literaturempfehlung:

Sandra Bils und Gudrun Töpfer: Exnovation und Innovation: Synergie von Ende und Anfang in Veränderungen (Systemisches Management)

Frauen.Taten.Werke – von mutigen Frauen und katholischen Perspektivwechseln

Gebannt starte ich auf ein Kunstwerk, auf dessen schwarz gehaltenem Untergrund sich verschiedene Konturen von Personen und Symbolen, mal dominant, mal zart, mal fast durchsichtig scheinend abhoben. Während durch ein hell erleuchtetes Fenster, dessen Sims sich bei genauerer Betrachtung fast dreidimensional abhob, gleißendes Licht auf die Mitte des Bildes fiel, sah ich wie gebannt auf das diagonal im Bild unten liegende und bekannte Antlitz Martin Luthers. Wer kannte das Gemälde des bekannten Reformators nicht, das aus der Werkstatt Lucas Cranachs des Älteren stammte und so manches Lutherbuch oder Publikation über den ehemaligen Augustinermönch und Theologieprofessor zierte, dessen Thesen die Welt und die religiöse Welt veränderten?

Gerade in dieser Ausstellung des Diözesanmuseums Bamberg, an dessen Ausstellungseröffnung ist stellvertretend für den Leiter unseres Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrums teilnehmen durfte, hätte ich nie das Gesicht des evangelischen Reformators vermutet. Nachdem ich vielfach durch die Welt gereist bin, andere Religionen und Kulturen kennenlernen und ergründen durfte, ist es nun die römisch-katholische Glaubens- und Religionswelt, in die ich seit kurzem in Bamberg als dem „fränkischen Rom“ eintauchen darf.

Bevor ich ins Grübeln verfallen konnte, holte mich die Künstlerin Marion Albrecht in meinen Gedanken ab, indem sie Element um Element von der bekannten Darstellung Luthers aus das Leben und Wirken Caritas Pirckheimers, der Äbtissin des Klarissenklosters ausführte. Eine völlig neue Gedankenwelt eröffnete sich mir bei dieser Ausstellungseröffnung, die Frauen, ihre Lebensgeschichten und ihre Berufung zum Mittelpunkt von Kunst und Geschichte aus katholischer Perspektive in den Mittelpunkt rückten.

In meiner Identität als Lutheranerin und Frau rührte mich die Geschichte der mutigen Äbtissin an, denn sie zeigte eine überraschende Facette der Reformationsgeschichte auf, die mir in dieser Weise erst durch das Darstellungsmittel der Kunst emotional in seiner Tiefe bewusst wurde.

Während das eine Bild mich durch das Antlitz Luthers angezogen hatte, sprach mich das zweite Bild, das aus einer Kombination von Stoff und Malerei bestand, durch einen fast brutal wirkenden Riß an.

Ein Blick in die Geschichte half mir im Nachhinein, die Vehemenz dieser Darstellung verstehen zu können. Aber erst einmal der Reihe nach:

Eine wahrlich bedrohliche Situation muss es damals gewesen sein, als die Reformation so manche (damals noch nicht als römisch-katholisch bezeichnete) kirchliche Institution ereilte. Die damals noch eine Kirche war dringend reformbedürftig und durch die Thesen Martin Luthers und seiner Mitstreiter, die Gnade als Zugang zu Glaube und Erlösung im Gegensatz zu jeglichem Werk hervorhoben, in Frage gestellt worden. Nun wankte die römisch-katholische Kirche in ihren Grundfesten und damit alle betroffenen Bereiche.

Die Einführung der neuen Lehre in Nürnberg 1525 bedeutete das Ende des mittelalterlichen Klosterwesens und brachte damit die Klarrissen in Existenznöte.

Eva Schlotheuber: Willibald und die Klosterfrauen von Sankt Klara – eine wechselhafte Beziehung, in: Willibald Pirckheimer und sein Umfeld, Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung, Band 28, Wiesbaden 2014, S. 59.

Hierbei sei angemerkt, dass Nürnberg bereits ein Jahr vorher Veränderungen der Reformation umsetzen wollte. So sollten ab 1525 alle Klöster nach einer Forderung Luthers in Schulen umgewandelt werden. (1) Viele gingen dieser Veränderung wohlwollend und freiwillig nach. Doch beim Nürnberger Klarrissenkloster bot sich ein anderes Bild: Die Nonnen wollten sich dieser Forderung nicht anschließen, da sie in ihrer klösterlichen Gemeinschaft, die für sie wie eine Familie war, eine für sie stimmige Glaubens- und Lebensform gefunden hatten. Nun aber drohte die Auflösung dieser Glaubensgemeinschaft. Bei diesen Auseinandersetzungen erwies Caritas Pirckheimer unglaublichen Mut und nutzte die durch ihr familiäres und humanistisches Umfeld zugute gekommene Bildung, um zu überzeugen:

Pirckheimer verteidigte den Konvent mit allen Kräften, schrieb Eingaben und Briefe. Dabei berief sie sich – wie Luther in Worms – auf ihr gewissen und erinnerte die Evangelischen an die tolerante Haltung der Türken, die Andersgläubige unter ihrer Religion duldeten. […] In ihrer Not wandte sich Pirckheimer an ihren Bruder, den Humanisten Willibald Pirckheimer. Dieser schrieb im Frühjahr 1525 einen Brief an seinen alten Freund Melanchthon, schilderte ihm mit herzergreifenden Worten die Situation und bat ihn zu intervenieren.

Martin Jung: Philipp Melanchthon und seine Zeit, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, S. 41-42.

Auf die Bitten des Freundes hin besuchte Melanchthon die Klarrissinnen und als Caritas die Gnade Gottes als Mittelpunkt ihres Glaubens hervorhob, wurde zu einem ihrer Fürsprecher. Nur in der Frage des Gelübdes waren Melanchthon und die mutige Klarrissin nicht überein gekommen. Dennoch setzte Melanchthon sowie ihr Bruder Willibald sich beim Rat der Stadt für die Nonnen ein, die schließlich in der von ihnen gewählten Gestaltung des Glaubenslebens in ihrem Kloster verbleiben durften.

Kein Wunder, dass die Künstlerin Marion Albrecht aufgrund der großen Bedrohung für das Klarrissenkloster solch einen großen Riss in ihr Kunstwerk eingebracht hatte. Doch wie das Kunstwerk, hielt diese Gemeinschaft durch eine mutige, kluge Frau den negativen Auswirkungen Sturm der Reformation stand.

Als evangelische Pfarrerin, die in einer Ehe mit Kindern leben darf, ist mir der Gedanke der Ehelosigkeit fremd. Den Mut und das Opfer eines Verzichts auf Ehe und Familie, den meine katholischen Glaubensgeschwister für eine vollumfängliche Berufung leben, bewundere ich sehr. Solch ein schmerzhaften Verzicht könnte ich kaum leben.

Jenseits dessen war es der überraschende Perspektivwechsel durch die Künstlerin, die die Biografie einer standhaften Frau emotional greifbar machte und mich nachdenklich stimmte: letztgültig kämpfte Caritas Pirckheimer um eine von ihr gewählte Gestaltung ihres Glaubenslebens, die wir heute unter dem Grundrecht der Religionsfreiheit verorten würden. Dieses war damals vor über 500 Jahren durch die Reformation in Gefahr geraten. Eine düstere Facette der Reformationsgeschichte, die durch eine mutige katholische Frau mir als evangelische Pfarrerin eine andere, schmerzhafte Seite des Ursprungs meiner Konfession aufzeigt: in der Freude und Befreiung des einen kann unter Umständen der Schmerz und das Leid einer anderen liegen. Eine wichtige Mahnung aus der Zeit der Reformation, die uns verpflichtet für die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit in der Gegenwart einzutreten.

Ich kann Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, diese Ausstellung zu einem Besuch sehr anempfehlen. Diese wird bis zum 10.10.2023 im Diözesanmuseum Bamberg angeboten. Weitere Informationen erhalten Sie auf deren Webseite. Sicherlich werde ich dort noch öfter zu Gast sein und mich als evangelische Theologin von den katholischen Perspektiven mutiger Frauen inspirieren lassen.


(1) Martin Jung: Philipp Melanchthon und seine Zeit, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, S. 41.