Von Orangen, Sedertellern und neuen Traditionen

Die Schale der kleinen Frucht wurde in einem festlichen Moment des Innehaltens vorsichtig von Yael geöffnet. Zum Vorschein kamen in den Händen von Rabbinerin Dr. Yael Deusel zarte Fruchtsegmente einer im heimischen Zuhause gewachsenen Orange, die gemeinsam mit dem Sroa in einer im Porzellan eingebetteten Kuhle gelegen hatte. Traditionell steht der Knochen auf dem Sederteller für das Pessachlamm, das am ersten Abend des Auszugs der Israeliten aus Ägypten geopfert wurde. Manche meinen sogar, dass dieser Knochen, geformt wie ein Arm, Gottes „ausgestreckten Arm“ bei der Befreiung des jüdischen Volkes aus der Knechtschaft in Ägypten symbolisiert.

Voller Faszination betrachtete ich den Sederteller in seinem für mich ungewohnten Ensemble. Schlomo Weißenfels, der mir schräg gegenüber saß und der Vorsitzende der Bamberger liberalen Gemeinde Mischkan ha-Tfila ist, sah mein Erstaunen und erklärte mir, dass die Orange ein relativ neue Addition zur jüdisch-liberalen Tradition sei. Im Volksmund habe ein Mann gesagt: „Die Idee von Rabbinerinnen macht so wenig Sinn, wie eine Orange auf dem Sederteller.“ Seitdem sei die Orange ein feministisches Symbol im Pessach.

Keine Geringere als Prof. Susannah Heschel, die Tochter des Rabbiners Abraham Joshua Heschel, war das Gegenüber dieser verbalen Äußerung. In New York hatte ich die Ehre, mit ihr aufgrund meiner Kooperation mit dem Leo Baeck Institut zusammen arbeiten zu dürfen. Die jüdische Feministin hat mich in dieser Zeit sehr inspiriert, da sie nicht nur für Frauenrechte einstand, sondern ihre Stimme für Marginalisierte erhob. Dass dieser neuzeitliche jüdische Brauch von ihr stammte, wärmte mein Herz an diesem Abend des Pessachfestes.

In einer Korrespondenz berichtete Susannah Heschel, wie die Zitrusfrucht ihren Weg in das wichtige jüdische Fest fand:

Anfang der 1980er Jahre lud mich die Hillel Foundation ein, an einem Podiumsgespräch am Oberlin College zu sprechen. Auf dem Campus stieß ich auf eine Haggada, die von einigen Oberlin-Studentinnen verfasst worden war, um feministische Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Ein von ihnen entwickeltes Ritual bestand darin, eine Brotkruste auf den Sederteller zu legen – als Zeichen der Solidarität mit jüdischen Lesben, ein Zeichen des Widerstands gegen die Aussage einer Rebbezin: „Im Judentum ist für eine Lesbe genauso viel Platz wie für eine Brotkruste auf dem Sederteller.“

Beim nächsten Pessach legte ich eine Orange auf den Sederteller unserer Familie. Während des ersten Teils des Seder bat ich alle, sich eine Orangenspalte zu nehmen, den Segen über die Frucht zu sprechen und sie als Zeichen der Solidarität mit jüdischen Lesben und Schwulen sowie anderen, die innerhalb der jüdischen Gemeinde marginalisiert sind, zu essen.

Brot auf dem Sederteller beendet Pessach – es macht alles chametz. Und es suggeriert, Lesbischsein sei transgressiv und verletze das Judentum. Ich hatte das Gefühl, dass eine Orange noch etwas anderes symbolisierte: die Fruchtbarkeit für alle Juden, wenn Lesben und Schwule sich aktiv am jüdischen Leben beteiligen. Außerdem enthielt jedes Orangenstück ein paar Kerne, die ausgespuckt werden mussten – eine Geste des Ausspuckens, die die Homophobie des Judentums ablehnte.

In Vorträgen erwähnte ich meinen Brauch oft als eines von vielen neuen feministischen Ritualen, die sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt haben. Doch irgendwie kam es zu dem typisch patriarchalischen Manöver:

Meine Vorstellung von einer Orange und meine Absicht, Lesben und Schwule zu bekräftigen, veränderten sich. Nun kursiert die Geschichte, ein Mann habe zu mir gesagt, eine Frau gehöre auf die Bima wie eine Orange auf den Sederteller. Die Worte einer Frau werden einem Mann zugeschrieben, und die Bekräftigung von Lesben und Schwulen wird schlichtweg ausgelöscht.

Ist nicht genau das im Laufe der Jahrhunderte mit den Ideen von Frauen geschehen? Und ist es nicht genau diese Auslöschung ihrer Existenz, die schwule und lesbische Juden bis heute ertragen müssen?

Recustom (Übersetzung: Miriam Groß) https://www.recustom.com/clips/4054948

Betrachtet man die Geschichten, die am Abend des Pessachfestes erzählt werden, so sind sie dominiert von männlichen „Zentralpersonen“ – von Mose, Aaron, der Pharao und vielen anderen. Frauen nehmen hier eher eine Randstellung ein. Erschreckend ist für mich als Frau, dass in einigen Haggadot in der Darstellung der vier fragenden Kinder ausgerechnet das Einfältige (Tam) und das, welches noch nicht zu fragen versteht (Ejno Jodea LiSchol) in einigen Illustrationen der Pessach-Erzählungen als Mädchen oder Frau dargestellt werden.

Wir sind noch lange in Sachen Geschlechterberechtigung nicht an einem Punkt der Gleichheit angekommen. In einer meiner ehemaligen Dienstgemeinden habe ich dies schmerzhaft erleben müssen als eine Reihe von Gemeindegliedern und Gottesdienstbesuchern mich regelmäßig und direkt damit konfrontierten, dass eine Frau nicht auf die Kanzel gehöre. Dies setzt sich bedauerlicher Weise in vielen anderen Tätigkeitsbereichen fort, wenn auch eher subkutan.

Die Orange am Sederteller hat mich an diesem Abend daran erinnert, dass die Geschichten der mutigen Frauen erzählt werden sollten, die für den Glauben einstanden und z.B. am Exodus teilnahmen. An diesem Abend wieß mich die Orange nicht nur auf Frauen auf der Bima hin, sondern auf alle Marginalisierten, die einer Befreiung und atemschenkender Freiheit bedürfen. Sie sticht als Erinnerung an all die Menschen hervor, die sich irgendwann in ihrem Leben nicht dazugehörig fühlen.

Die deplatziert aussehende Orange auf dem Sederteller ist ein Zeichen dafür, dass wir uns stets bemühen sollten, für Ausgegrenzte und Marginalisierte einzustehen, damit sie sich einbezogen werden – Freiheit für alle, so wie es dieses jüdische Freiheitsfest verspricht. Wie die Kerne der Orange ausgespuckt werden, so soll alles, was der Freiheit hinderlich ist, zurückgewiesen werden. Mir gefällt, dass meine jüdischen Geschwister um einen Platz für die Orange kämpfen. Ja, die Orange passt nie ganz hinein … und ja! Genau darum geht es.

Ich nahm das zarte Fruchtblatt aus der Hand meiner Freundin, der Rabbinern, an diesem Abend dankbar entgegen. Als ich auf das kleine Fruchtblatt biss, füllte ein bitter-beißender Geschmack meinen Mund und ich spuckte die Kerne auf den Essensteller. Möge die Orange auf vielen anderen Sedertellern ihren diskutablen Platz erhalten, der an den Kampf und das Engagement um Freiheit erinnert.

Lesen gegen Hass 5: Auseinandersetzung mit zwei Tabuthemen

Während ich durch den Türstock unsere Wohnung betrat, fiel mein Blick auf die in Blau und Silber gehaltene Mezuzah. Ich hielt traurig inne. Durch unsere Auslandszeit in New York, USA war uns das Judentum sehr ans Herz gewachsen. Tiefe Einblicke in deren religiöses Leben und vor allem Freundschaften hatten uns verändert. Was aber damals eher als Bedrohung hier und dort am Horizont der gesellschaftlichen Geschehnisse und meiner eigenen Bemühungen um eine Aufarbeitung deutscher Geschichte aufblitzte, wird inzwischen deutlicher spürbar: Der mancherorts sich entwickelnde politische und gesellschaftliche Rechtsrutsch ist bittere Realität und Antisemitismus stellt inzwischen für viele Jüdinnen und Juden eine reale Bedrohung dar.

Wir müssen uns aufgrund dessen dringend mit zwei schmerzhaften Tabuthemen auseinandersetzen:

Zunehmende Veralltäglichung von antisemitischem und rechtem Haß und Hetze: Wir müssen uns aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dem stellen, dass der Haß und die Hetze antisemitischen und rechtem Gedankengutes sich zunehmend in die gesellschaftliche Struktur einwebt und dadurch auf persönlicher Ebene alltäglich und damit geduldet – unter Umständen sogar willkommen geheißen – wird.

Islamischer Antisemitismus: In meinem Umfeld befinden sich nur friedfertige Musliminnen und Muslime. Dies sei ausdrücklich an dieser Stelle betont. Islamischer Antisemitismus ist die Ausnahme, nicht die Regel im Islam und leider ist dieser Haß auch in meiner eigenen Religion, dem Christentum, spürbar und wahrnehmbar. Wo auch immer dieser Haß auch auftritt, muss er bekämpft werden.

Aufgrund von Migration müssen wir uns in Europa und Deutschland der bitteren Form dieses alle Menschenwürde und -rechte verneinenden Hasses innerhalb des Islam bewusst werden und dürfen ihn weder ignorieren, noch verschweigen. Durch die Vorkommnisse der letzten Monate, die diesem Haß nicht nur ein Gesicht gegeben haben, sondern ihn als Bedrohung für unsere Gesellschaft und unsere freiheitliche Demokratie zeigt, ist ein genaues Hinsehen und Verstehen wichtig, um sprach- und artikulationsfähig zu sein. Dies ist wichtig sowohl für den pädagogischen als auch persönlichen Bereich, in dem wir uns engagieren sollten, um Menschenwürde und Grundrechte stark zu machen, damit Antisemitismus keine Chance erhält, sich in den Köpfen und Herzen auszubreiten.

In diesem Blogeintrag gehe ich bei der Vorstellung zweier Bücher nach Jesu Worten vor, die uns Christinnen und Christen anhalten, zuerst eine Eigenreflexion durchzuführen, bevor wir die Probleme anderer in den Blick nehmen. Jesus gibt uns hierfür klare Maßstäbe vor:

Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

Lk 6,41-41

Nach einem Blick in die deutsche Geschichte anhand einer Familienbiografie, bietet die zweite Leseempfehlung einen Blick auf dessen Auswirkungen im Nahen Osten.

„Columbusstraße: Eine Familiengeschichte: 1935 – 1945 | Wahre Familiensaga während des Zweiten Weltkriegs“ von Tobi Dahmen, erschienen 2024 bei Carlsen Comic

Fast automatisch kam unserer Familie das Gebet über die jüngeren und älteren Lippen. „Komm, Herr Jesu, sei unser Gast; und segne, was du uns bescheret hast.“ Seit Generationen gehört das kurze, prägnante Gebet zum Repertoire christlicher Traditionen am Essenstisch. Auch in unserer Familie findet es neben anderen, wie dem „Superman Prayer“, einem schöpfungstheologischen Gebet und einem äußerst kurz gehaltenen „Eil-Gebet“ oftmals Verwendung.

Während ich die Graphic Novel „Columbusstraße“ las, staunte ich nicht schlecht, als die Familie von Tobi Dahmen eben selbiges Gebet am Essenstisch sprach. Ein unsichtbares Band war im Nu zwischen ihnen und mir geknüpft, das mich zwang über die Vergangenheit meiner Familie nachzusinnen.

Tobi Dahmen ist mit der imposanten Graphic Novel „Columbusstraße“ ein monumentales, eindrückliches Werk gelungen, das den Leser und die Leserin umgehend mit in den Bann zieht. Hierbei dient dem Autor seine eigene Familiengeschichte als Grundlage zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der dort geschehenen schleichenden Veralltäglichung von antisemitischem und rechten Haß und Hetze.

In dieser Graphic Novel dürfen wird seine Familie, die im wohhabenden Düsseldorf-Oberkassel wohnt, von 1935 bis 1945 begleiten und erleben mit, wie das diktatorische NS-Regime sich bis in die kleinsten Abläufe des Lebens erstreckte. Diese Durchdringung machte eine gefährliche Verbreitung und Verankerung rechten und antisemitischen Gedankengutes möglich.

Mich hat das 500 Seiten dickes Ausnahmewerk innerhalb der Graphic Novel Szene zutiefst bewegt. Und ich stelle mir immer wieder bei ganz alltäglichen Tätigkeiten wie dem genannten Tischgebet die Frage, ob sich in gewohnte Abläufe auch Zellen des Hasses und der Hetze in mir und meinem Umfeld manifestiert haben. Eine Frage, derer wir uns alle stellen müssen, damit nicht geschieht, was Millionen von unschuldigen Menschen das Leben kostete. Lassen Sie uns gemeinsam auf der Hut sein, damit die Veralltäglichung von antisemitischem und rechtem Haß und Hetze nicht bittere Realität in Deutschland, Europa und der Welt wird.

„Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand“ von Matthias Küntzel, erschienen 2019 bei Hentrich & Hentrich

Bundesverband RIAS dokumentierte im Jahr 2023 die besorgniserregende Zahl von 4.782 antisemitischen Vorfällen. Dies entspricht einer Zunahme von über 80% im Vergleich zum Vorjahr. Aus meiner Sicht ist hierbei ein direkter Zusammenhang mit dem Angriffskrieg der Hamas gegen Israel zu ziehen.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen müssen uns nachdenklich machen und leider müssen wir uns, ob wir es wollen oder nicht, mit einem weiteren Tabuthema auseinandersetzen: dem islamischen Antisemitismus. Diesem Thema müssen wir uns stellen, um zu informieren, zu warnen und eine gelungene Prävention in Familien, Schulen und Bildungseinrichtungen umsetzen zu können.

Das Buch „Nazis und der Nahe Osten“ von Matthias Küntzel sei hierzu anempfohlen, dessen Lektüre schockierend und aufrüttelnd zugleich ist. Mir war das leider durchaus nachhaltige Wirken des tödlichen NS-Regimes im Nahen Osten in dieser Form nicht bekannt gewesen. Die Verquickung von radikalem Islam und Antisemitismus erschien mir als äußerst unlogisch – in September 2016 hatte ich in New York die Auswirkungen eines islamistischen Bombenanschlages als ehrenamtliche Seelsorgerin der NYPD mit begleitet und konnte den Haß, der durch den Täter gegen sog. „Nichtgläubige“ richtete, nicht nachvollziehen. Das Buch von Küntzel gibt mir die Möglichkeit, manches besser in seinen Zusammenhängen verstehen zu können.

Zwischen 1937 und 1945 scheute sich das NS-Regime nicht, Antisemitismus im Nahen Osten zu nähren. Nazi-Deutschland hatte bereits in den Dreißigerjahren sich judenfeindlicher Zitate aus dem Koran bedient und für die eigenen Propaganda in der arabischen Welt instrumentalisiert. Von Zeesen, einem südlich von Berlin stationierten Kurzwellensender, wurde der islamische Antisemitismus gezielt unter Muslimen verbreitet.

Matthias Küntzel beleuchtet dieses Tabuthema deutscher Geschichte und zeigt wie sich das Judenbild im Islam zwischen 1937 und 1948 unter dem Einfluss einer ausgefeilten arabischsprachigen NS-Radiopropaganda veränderte. Hierbei stellt er heraus, dass die Begegnung des Nahen Ostens mit der Nazi-Ideologie zwar kurz gewesen war, aber noch lange nachhallt.

Das Buch stellt eine wichtige Grundlage dar, um islamischen Antisemitismus verstehen zu können und ihm vorzubeugen. Pädagoginnen und Pädagogen sei es besonders ans Herz gelegt, aber auch allen, die in der Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklungen Erklärungswege suchen. Erst wenn wir begreifen, wie stark die moderne Nahostgeschichte von diesen Nachwirkungen des Nationalsozialismus geprägt ist, werden wir den Judenhass in dieser Region und dessen Echo unter Muslimen in Europa vielleicht richtig deuten können.

Ramadan-Kalender und Polizeiseelsorge interreligiös

Eilig füllte ich meinen Einkaufskorb mit allerlei Drogerieprodukten. Shampoo, Duschgel, einige Putzmittel… Ich versuchte mich strikt an meinen Einkaufszettel zu halten und huschte an den sonst so attraktiven saisonalen Auslagen vorbei. Heute würden Dekorationen für das herannahende Osterfest in meinem bereits vollen Einkaufskorb keinen Platz finden!

Kaum hatte ich die Objekte der Versuchung erfolgreich umschifft und mich an der Kasse angestellt, schweifte mein Blick unweigerlich beim Warten über die geschickt platzierten Waren im Kassenbereich. Dabei blieb mein Blick wie magisch angezogen an einer Verkaufsauslage für Kalender kleben. Ich blinzelte mehrmals. Es handelte sich nicht um einen Adventskalender, der die Vorfreude auf Weihnachten und das Warten auf das große Fest verschönern würde- nein, für mich als Pfarrerin war ja schließlich vorösterliche Fastenzeit – sondern um einen Ramadan-Kalender.

Genau das Richtige für meine muslimischen Auszubildenden, bei denen der Ramadan zwei später beginnen würde! Ich nahm einen Kalender aus der Auslage und verstaute ihn glücklich seufzend meinen tapferen Entschluss vergessend, im überquellenden Einkaufskorb.

Nur wenige Tage zuvor hatte eine Polizeimeisteranwärterin mutig davon gesprochen, wie schwer es als Muslima war sich „halal“ in Deutschland zu ernähren. Ich war stolz auf meine Schülerin, die von ihren und den Schwierigkeiten anderer angehender Polizeikolleginnen und -kollegen erzählt hatte. An meinem letzten Dienstort in New York war es selbstverständlich gewesen, sich auf die Ernährungsbedürfnisse der unterschiedlichen Glaubensgeschwister einzustellen. „Halal“ und „kosher“ waren dort in jeder Kantine, an jedem Buffet (in Restaurants sowie so) eine Selbstverständlichkeit. Auch ich hatte bei Veranstaltungen stets neben dem bunten Vielerlei an Speisen, die Christinnen und Christen essen konnten, Essen bereitgestellt, das für muslimische und jüdische Glaubensgeschwister zulässig und erlaubt war. Für mich ein praktischer Ausdruck des Gebots der Nächstenliebe, das meinen Glauben als Grundlage trägt.

Als ich den Ramadan-Kalender in einem deutschen Drogeriemarkt sah, ging mir daher das Herz auf. Ich wollte meiner mutigen Polizeischülerin eine kleine Freude machen und ihr damit zeigen, dass sie und andere muslimische Kolleginnen und Kollegen wertgeschätzt und von „ihrer“ Polizeiseelsorgerin in ihren Bedürfnissen wahr und ernst genommen würden.

Polizeiseelsorge ist für alle da. Ob ohne oder mit Glauben. Christlich. Muslimisch. Jüdisch. Hinduistisch. Buddhistisch. Shintoistisch. …

Dort, wo eine Kollegin oder ein Kollege Hilfe, Rat und Tat benötigt, da ist Polizeiseelsorge präsent.

Zwei Tage später übergab ich den Ramadan-Kalender verbunden mit der Anweisung, den Kalender und dessen dreißig Türchen mit anderen muslimischen Kolleginnen und Kollegen zu teilen. Fast fühlte ich mich selbst umgeben von christlicher und muslimischer Fastenzeit wie ein kleines Kind, das nicht erwarten kann, den Adventskalender zu öffnen.

Nächstenliebe ganz praktisch und interreligiös. Für mich eine Kernaufgabe von Kirche und Seelsorge.

Probieren Sie es doch selbst einmal aus! Ich kann Ihnen versprechen: es macht glücklich in den muslimischen Nächsten als christliche Glaubensschwester die Freude über die erlebte Annahme und des Verständnisses strahlen zu sehen.

Kleider machen Leute – oder: von Erfahrungen innerhalb eines vielfältigen Amtslebens

Ein Beitrag zur Debatte um Kleidungskultur bei Pfarrpersonen

Kleider machen Leute. Dank des deutschen Lehrplans sind wohl die meisten von uns in der Schulzeit in die Geschichte des Schneidergesellen Wenzel Strapinski eingetaucht, der sich trotz Armut gut kleidete. Gottfried Keller gelang mit seiner Novelle „Die Leute von Sedwyla“ 1874 nicht nur eine der bekanntesten deutschen Erzählungen zu verfassen, sondern greift ein zentrales Thema auf, an dem keiner von uns vorbei kann: Kleidung und, dass wir mit ihr (bewusst oder unbewusst) Signale aussenden, die unter Umständen etwas über unseren Beruf, unsere Lebens- oder politische Einstellung, finanziellen Status und so vieles mehr aussagen.

Kleider machen oberflächlich betrachtet Leute.

Doch die Emotionalität, die auf ein Posting der Kirchlichen Studienbegleitung Bayern (KSB) folgte, in der sich Regionalbischöfin i. R. Susanne Breit-Keßler zu der Frage positionierte, was Pfarrpersonen anziehen sollten, verließ meiner Meinung nach jegliche Netikette. Das Sonntagsblatt. 360 Grad Evangelisch berichtete hierzu.

Die darauffolgenden Diskussionen haben mich angeregt, das Thema „Kleidung“ innerhalb meines beruflichen Lebensweges als Theologin und Pfarrerin näher zu betrachten. Daher öffne ich nun für euch meinen „dienstlichen“ Kleiderschrank, wie er sich veränderte und welche Gedanken damit verbunden sind.

Praxisjahr für Theologiestudierende – von Uniformen und Serviceorientierung

Nach vier Semestern Grundstudium und der damit akquirierten „Sprachenreife“ kam ich der damals üblichen Verpflichtung nach, mindestens ein Jahr außerhalb des kirchlichen Dienstes zu arbeiten. Eineinhalb Jahre arbeitete ich als Flugbegleiterin bei Japan Airlines (JAL) und war das erste Mal mit Fragen bezüglich Uniform konfrontiert worden. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Wahl der Kleidung zumeist eine individuelle Entscheidung gewesen, die sich teilweise an vermuteten Erwartungen (wie z.B. öffentlichen Veranstaltungen) orientierte. Nun wurde im Beruflichen der Maßstab von der Fluglinie vorgegeben, in dem nur wenig eigener Spielraum für Individualismus war.

Im „Style Book for Cabin Attendants“ (dt. „Stilbuch für Flugbegleiter“, Üs. MG) schrieb der damalige Geschäftsführer Yoshiro Ashiba:

Keep in mind that customers are always looking at you.

Naturally, the uniforms you wear are important for projecting the proper image to our customers but, as always, we should reconfirm now that it is you as an individual who determines wether your customers receive an impression of a caring, dependable and professional attendant when they encounter you.

Japan Airlines, Cabin Services Dep.: Style Book for Cabin Attendants, p. 1

(Übersetzung: siehe Anmerkung 1)

Hierbei war alles genau geregelt: Ob Hierarchie, Schuhwerk, Frisur, Nagellack oder Make-Up. Alles unterlag den Vorschriften der Fluggesellschaft.

Die Uniform hatte zum Ziel die Serviceorientierung der Fluggesellschaft, ein attraktives Äußeres und Funktionalität zu vereinen, um JAL als erstklassigen Dienstleister darzustellen. Die Individualität der Person und die Freiheit zur eigenen Gestaltung fand hierbei nur in engen Grenzen einen Raum.

Kleider machen Leute und Flugbegleiter in ihrer Rolle als Dienstleistende transparent.

Auslandsdienst in der Church of Scotland – von Individualität und Freiheit

Nach erfolgreichen bayerischen Examen und Ordination ging es zum Auslandsdienst in der Church of Scotland. Hier legte ich das dortige reformierte Examen ebenso ab und durfte drei Jahre als Inselpfarrerin auf Orkney arbeiten.

Während in den deutschen Landeskirchen unterschiedliche Kleiderordnungen herrschen, schreibt die Church of Scotland als sogenannte „Broad Church“, die verschiedene Frömmigkeitsformen in sich versucht zu vereinen, keine solche vor. Aufgrund der schmerzhaften Geschichte, die von Streitigkeiten und Kirchenspaltungen dominiert worden war, stellte die freiheitliche Gestaltung des Amtes auf dem Boden der eigenen innerprotestantischen Glaubensrichtung ein hohes Gut da. Ich durfte dort ebenso meinen bayerischen Talar mit Samtsattel tragen, wie Kollegen einen Cassock, der seinen Ursprung in der römisch-katholischen Kirche hat. Manch ein Kollege trug durchaus sehr farbenprächtige Gewänder und mit etwas Neid schielte ich ab und an zum Kollegen, der in „Kirchenlila“ einen wunderschönen Cassock trug – eine Farbe, die in Bayern Regionalbischöfinnen und -bischöfen vorbehalten ist und mir als einfacher Pfarrerin wohl immer verwehrt bleiben würde. Nach erfolgreich bestandenen schottischen Examen schenkte mir meine Gemeinde eine Stola, die mich nicht nur als „Menschenfischerin“ sichtbar werden ließ, sondern auch durch das maritime Bild meinen damaligen Tätigkeitsort anklingen ließ.

Kleidung war in der Church of Scotland eine Frage der eigenen freiheitlichen Entscheidung und konnte als Spiegel der persönlichen religiösen Verortung diese öffentlich sichtbar werden lassen.

Kleider machen Leute, schenken Freiheit und können unter Umständen ein äußerer Ausdruck religiöser Verortung der Pfarrperson sein.

Gemeindepfarramt in Bayern – von der Frage nach Freiheit und Vorschriften

Wieder in die bayerische Landeskirche zurückgekehrt, musste ich die gestalterische optische Freiheit abrupt hinter mir lassen. Zwar hatte ich nie meinen bayerischen Talar mit Samtsattel abgelegt, was ich jedoch unter dieser Amtskleidung trug, hatte ich stets in Eigenverantwortung gewählt.

Nun war es nicht die Landeskirche, sondern ein Kirchenvorstand, der die Freiheit der Kleidung unter dem Talar festlegte: selbst die zu tragenden Schuhe und Strümpfe mussten eine gedeckte Farbe haben – und am besten schwarz sein. Für mich war dies nur eine vieler Ausdrucksformen eines Ringens um eine Sichtbarkeit von Kirche, wie sie z.B. durch diejenigen geschieht, die Gottesdienste leiten.

Noch heute empfinde ich die damalige Bekleidungsregelung als eine Einschränkung. Wahrscheinlich hätte ich von mir aus kein gewagtes Schuhwerk noch schrillbunte Socken unter meinem sehr schlichten bayerischen Talar getragen, aber es war der Inhalt, der mir zu schaffen machte: Wer durfte in welchem Maß bis hin zur selbstgewählten Bekleidung unter der Amtsrobe über eine Pfarrperson entscheiden, die eigentlich aufgrund des Evangelischem einer persönlichen Freiheit des Glaubens verpflichtet war? Aus einer freiheitlich orientierten Kirche wie der Church of Scotland kommend, war es für mich hartes Brot… Doch was Paulus damals über die Rücksicht auf das Gewissen schrieb, wurde mir Richtschnur: mag es Opferfleisch oder Socken sein.

Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient.

1. Kor 10,23-24

Kleider machen Leute, aber nicht alles ist hilfreich.

New York, New York – bunte Vielfalt als Spiegel der göttlichen Schöpfung

Mit meiner Tätigkeit als EKD-Auslandspfarrerin in New York öffneten sich für mich neue Welten: theologisch konnte ich in einer Vielfalt wachsen, derer ich in dieser turbulenten und vielfältigen Stadt auf Schritt und Tritt begegnete. Buntes Miteinander war der Erfahrungshorizont, der mich zutiefst prägte und durch die Multireligiösität, die mir in der interreligiösen Arbeit an der UN, aber auch innerhalb der NYPD entgegen kam, ein wunderbarer Schatz, der mir eine eigene Identität als lutherische Pfarrerin in einer vielgestaltigen, globalisierten Welt ermöglichte.

Spiegel hierfür war meine klerikale und durchaus feminine Kleidung, die ich bei einer Bekannten aus meiner schottischen Zeit erworben hatte: Kleider, Blusen und Röcke für Frauen im Pfarramt. Zugegebener Maßen ließ ich Lila aus besagten Gründen aus. Doch neben vielfachem, gedeckten Schwarz, gibt es auch in meinem Kleiderschrank klerikale Kleidung in Alltagsblau, Pfingstrot oder Trinitatisgrün. Dazu schönes Schuhwerk. Es bereitete mir Freude, feminine Aspekte in meine Berufskleidung zu integrieren, wobei ich die lebhafteren Farben nie unter meinem Talar, sondern zu Empfängen und wichtigen Ereignissen je nach Anlass und Kirchenjahr trug.

(Kleidung von „House of Ilona“. Leider stellt Camelle Ilona diese nicht mehr her.)

In dieser beruflichen Phase tat mir die Möglichkeit sehr gut, feminine geistliche Kleidung zu tragen, denn zumeist habe ich in einem schmerzhaft dominanten männlichen Umfeld erlebt, wie weibliche Sichtweisen wenig gehört und noch weniger gesehen wurden.

Kleider machen Leute und geben Frauen die Möglichkeit, einem traditionell männlichem Beruf eine feminine Note zu verleihen.

Im Einsatz der Bundespolizei – Uniform und äußere Uniformität

Mit dem Beginn meiner Tätigkeit als Polizeiseelsorgerin in der Bundespolizei wurde mir eine neue Verantwortung übertragen: mit der Uniform war ich in die doppelte Verantwortung gegenüber der Bundesrepublik und der Kirche gestellt. Bereits im Bewerbungsgespräch fragte mich mein jetziger Vorgesetzter, ob ich Vorbehalte gegen das Tragen einer Uniform hätte.

Ihren Ausdruck bekam die Doppelverantwortung durch eine polizeiliche Uniform auf deren Schultern ich sprichwörtlich mein Kreuz trug. So ließ ich äußerlich meine evangelische und feminine Gestaltungsfreiheit hinter mir und tauchte als Seelsorgerin in die Welt einer Sicherheitsbehörde ein.

Beim Tragen der Uniform ist Genauigkeit nicht nur in der Tätigkeit gefordert, sondern im Dienst und verleiht diesem Anspruch den äußeren Ausdruck durch das richtige Tragen der Uniform. Die Polizeidienstvorschrift (PDV) 014 regelt die Bestimmungen zum Erscheinungsbild und das Tragen der Dienstkleidung in der Bundespolizei. Hierin werden die Grundformen aller zu tragender Dienstkleidung sowie die zur jeweiligen polizeilichen Aufgabe und aus verschiedenen Anlässen notwendigen Abweichungen geregelt. Ein mir sehr wertgeschätzter Kollege, wies mich in die Regularien ein und half mir damit manche dienstliche Klippe zu umschiffen.

Ich lernte durch meine Tätigkeit als Seelsorgerin in der Bundespolizei, dass das Tragen einer bestimmten Form von Kleidung – nämlich der Uniform einer Sicherheitsbehörde – mit viel Verantwortung einhergeht.

Kleider machen Leute und machen unter Umständen die Verantwortung des Amtes transparent.

Eine kleine Reflexion zu Dienstkleidung anhand meiner eigenen dienstlichen Stationen als Pfarrerin und Seelsorgerin.

Gottfried Keller hatte Recht: Kleider machen Leute. Aber wir sollten Aspekte, die mit ihr in unserer Tätigkeit als Pfarrpersonen transportiert und vielleicht sogar dadurch vielschichtig diskutiert werden, nicht vergessen: Dienstleistung, Freiheit, Hierarchie, Einschränkung, Identität, Gleichberechtigung und Verantwortung.

Kleider machen Leute und machen Aspekte von Dienstleistung, Freiheit, Hierarchie, Einschränkung, Identität und Verantwortung sichtbar.

Ich wünsche mir so sehr, dass die von Frau Breit-Keßler begonnene Diskussion in evangelischer Freiheit, aber auch Würde geführt wird. Denn eine Antwort ist ebenso schwer zu geben, wie Kleidung vielgestaltig ist – eine adäquate Umsetzung kann wohl nur im jeweiligen Umfeld verantwortlich getroffen werden und erfordert eine gewisse Flexibilität im Denken, Reden und Agieren.


(1) Denken Sie daran, dass Kunden Sie immer ansehen. Natürlich sind die Uniformen, die Sie tragen, wichtig, um bei unseren Kunden den richtigen Eindruck zu vermitteln, aber wir wollen ebenso bekräftigen, dass Sie als Einzelperson darüber entscheiden, ob Ihre Kunden den Eindruck eines fürsorglichen, zuverlässigen und professionellen Flugpersonals haben, wenn sie Ihnen begegnen. (Üs. MG)

#WeRemember : Bildung als wichtigste „Waffe“ gegen Antisemitismus

Gedanken einer Polizeiseelsorgerin

Grußwort zum Internationalen Tag des Holocaust-Gedenken, Israelitische Kultursgemeinde Bamberg

Das folgende Grußwort habe ich im Rahmen der Gedenkveranstaltung anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocausts in der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg gesprochen. Es sind persönliche Perspektiven, einer Polizeiseelsorgerin, die nicht nur das Gedenken, sondern auch die Tätigkeit angesichts schwieriger gesellschaftspolitischer Entwicklungen in den Mittelpunkt stellt:

(Es gilt das gesprochene Wort)

Die Zeit vergeht wie im Flug. Vor drei Jahren saß ich im Flugzeug und sah gespannt aus dem Fenster während meine alte Heimat New York immer kleiner wurde und schließlich unter den Wolken verschwand. Unendlich viele Gedanken gingen mir durch den Kopf während ich eine Stadt und ein Land hinter mich ließ, das fast sieben Jahre meine Heimat war.

Besonders schmerzhaft war es, meine jüdische Freundin Pam, ihre so wunderbar engagierte jüdische Tafel und ihre Synagoge, die mir eine geistliche Heimat geworden war, zurücklassen zu müssen.

Tröstlich für uns beide war der Grund meines Rückzuges nach Deutschland – ein Auftrag, zu dem ich berufen worden war: im größten bundespolizeilichen Aus- und Fortbildungszentrum als Seelsorgerin die nächsten Generationen von Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärterinnen nicht nur zu begleiten, sondern sie innerhalb des Faches Berufsethik zu wappnen, um gegen Antisemitismus, Rassismus und jegliche Form des Extremismus vorzugehen und als Hüterinnen und Hüter unser Grundgesetz gegen jedweder Angriffe tätig zu schützen.

Es waren Tränen der Trauer, aber auch der Zuversicht, die damals flossen, denn wir beide wussten aufgrund der Geschehnisse in USA, wie notwendig dies war. Dort hatten wir gemeinsam die sehr diskutable Trump-Administration durchlebt, gingen gemeinsam zu hunderttausenden aufgrund eines antisemitischen Anschlages in New Jersey auf die Straßen und setzten Zeichen gegen diese schlimme, mörderische Irrlehre, die unverhohlen in einer der ältesten Demokratien zu Tage trat, durch Wort und Tat. Damals war ich froh und dankbar, dass dies in Deutschland nicht so war. Doch um dem vorzuschützen drang ich zu einer Rückkehr, um im Herzen der Demokratie die zu wappnen, die für sie im Extremfall einzustehen hätten: Polizistinnen und Polizisten in der Bundespolizei.

Aber die Zeit vergeht wie im Flug. Drei Jahre sind so schnell ins Land gegangen und was ich vorher als Prävention betrachtete, die eine weit weg stehende, vielleicht sogar in Deutschland eher unwahrscheinliche Variante von besorgniserregenden Geschehnissen betrachtete, trat nun sichtbar in unserem Land die Öffentlichkeit:

mit der Enthüllung einer Zusammenkunft rechter Kräfte in der Villa Adlon am Lehnitzsee in Potsdam am 25. November 2023 wurde bittere Realität, was ich befürchtet hatte und daher mit Bildung dagegen vorgehen wollte.

Während ich den Berichterstattungen lauschte, wurde Anklänge an die lang vergangene Geschehnisse umgehend vor meinem inneren Auge wach. Vielleicht ging es Ihnen ja genau so wie mir?

Damals, am 20. Januar 1942, waren hochrangige Vertreter des NS-Regimes zu einer Besprechung in einer Villa in Berlin-Wannsee zusammengekommen, die als Wannsee-Konferenz in die Geschichte einging, um ihren mörderischen Plan zu vereinbaren, auszuarbeiten und schließlich umzusetzen.

Aus meiner Sicht ein wahrer Alptraum.

Die Analogien haben viele aufgeschreckt und zu Demonstrationen auf die Straßen Deutschlands gegen das menschenverachtende Gedankengut gesandt. Ich bin dankbar um diese wichtigen Zeichen der Demokratie – denn mit dem Grundgesetz ist das Demonstrationsrecht in Art. 8 GG gesichert. Ich kenne eine Reihe von Pfarrkolleginnen und -kollegen, die das erste Mal dieses Recht in Anspruch nahmen und an einer der Demonstrationen gegen rechts teilnahmen. Auch ich war selbstverständlich Teil dieser Zeichensetzung, so wie ich es in meiner New Yorker Zeit gegen Antisemitismus, Rassismus und andere Formen des Hasses war. Noch gut erinnere ich mich an eine Demonstration, wo wir zu hunderttausenden über die Brooklyn Bridge marschierten, um gegen den unverhohlenen Antisemitismus, der in der Amerikanischen Gesellschaft zu Tage getreten war, mit meiner Partnerorganisation American Jewish Committee ein unübersehbares Zeichen zu setzen: wir sind viele und eine Mauer gegen Hass! Was damals so war, erlebte ich nun hier in Bamberg ebenso.

Dennoch bin ich als Pädagogin, Ethikerin und Pfarrerin der Meinung, dass es mehr bedarf als Zeichen der Solidarität. Bildung ist die wichtigste Waffe, die wir haben, um die gegenwärtigen und kommenden Generationen zu stärken und für unseren Kampf um Demokratie, Menschenrechte und ein Grundgesetz, das alle schützt, zu gewinnen.

Nie wieder darf geschehen, was im damaligen mörderischen NS-Regime geschah. Über 6 Millionen Menschen wurden brutal ermordet. Aber auch dies ist nicht nur das dunkelste Kapitel unserer Menschheitsgeschichte, sondern es wird seit dem 7. Oktober weitergeschrieben!

Nie wieder darf geschehen, was am 7. Oktober durch den brutalen Überfall der Hamas und deren Morden geschehen ist. Ich habe keine Worte für diese Geschehnisse – aber für mich sind sie eine Fortsetzung des Holocaust und zwar auf dem Boden des Heiligen Landes, das eigentlich ein Schutzort und eine sichere Heimat für Jüdinnen und Juden sein soll.

Die evangelische Seelsorge in der Bundespolizei steht mit ihren Seelsorgerinnen und Seelsorgerinnen im gesamten Bundesgebiet und wir als Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrum vor Ort hier in Bamberg dafür ein,

dass Menschenhass mit keinem Wimpernschlag, keiner Geste geduldet wird,

dass Mord und Qual aufgrund von Religion, Abstammung und Nationalität keinen Ort in unserem Land hat,

dass unser Grundgesetz, das zum Mittelpunkt die Menschenwürde hat, geschützt und als für alle gleichermaßen gültig umgesetzt wird.

Dies habe ich nicht nur damals als ich New York verließ, meiner jüdischen Freundin versprochen, sondern dem bin ich als deutsche Staatsbürgerin zutiefst verpflichtet. Wir stehen mit Israel und verurteilen jegliche Form des Antisemitismus, Rassismus und Extremismus. Unsere Hauptwaffe hierbei ist Bildung, die jeder angehende Polizist und Polizistin erhält.

Lassen Sie uns daher zusammenstehen – Zeichen der Solidarität und der aktiven Geschwisterlichkeit nicht nur punktuell setzen, sondern es durch unser Leben und Handeln weben.

Am Israel Chai.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 

Pfarrerin Miriam Groß, IKG Bamberg, 28.1.2024
(Bild: Patrick Nitzsche, Antisemitismusbeauftragter der Stadt Bamberg)

My dear Jewish friend 17: Lederhosen, lessons of the past for a brighter future

– Updated Version (Aug 27, 16:50 GMT +2) : including Rick Landmans memories of his father –

I stood in awe as I looked down at the brown lederhosen, which had been carefully placed in my hands. My gloved hands touched the matured leather. I could see by look and experience that this pair of German traditional clothing had been devotedly worn and looked after neatly as well. What I held in hands was the Lederhosen of Henry Landman. His son Rick, a dear friend, had told me about this special piece of clothing. Now Mrs. Müller, the deputy director of the Jewish Museum Augsburg Schwaben had especially brought it from the archives for me to see as I visited the museum on this hot August afternoon.

I was moved to tears, because it not only made me feel close to Rick, but held an important artefact of history in my hands. If the Lederhosen could speak, they would tell the hurtful, but ever so strong story of Henry Landman.

Rick Landman writes about this difficult chapter in his fathers life via Facebook:

The Gestapo arrested my dad on the day after Kristallnacht (November 10, 1938) at 5 am while he was still in bed. When he got up he put on his Lederhosen and when he reached Dachau he turned them in. They put them in a brown paper bag with his Dachau Number on it. When he was later released they returned them to him to be able to go home. His father who was released earlier was able to get him a Temporary Transit visit to get to London. He was 18 and too old for the Kindertansport.
On April 15, 1939, my dad as an unaccompanied teenager made his way to London and he either took the Lederhosen with him, or packed them in the lift that he sent to NYC the week before.
Growing up in NYC I remember my dad wearing them while doing the gardening. [If you check out my COMMENTS] you can see a photo of my dad trying on the Lederhosen before we sent them to the Museum, and a photo of me wearing my Lederhosen in the Catskills when I was a child.

Rick Landman, via Facebook

Henry had been arrested in this very traditional German clothing I held in my hands many years later in Augsburg. At his release he was handed all his belongings back, which included the Lederhosen. Henry emigrated to the U.S. just in time and returned six years later in the very different clothing of a US-Soldier to Germany to liberate the Jewish people.

Father like son, Rick is a very inspiring person. On his website he gives touching insights in to his biography. For the 70th anniversary of the liberation of Dachau he wrote for the „Gedächtnisbuch für Häftlinge des KZ Dachau“ about his late fathers experience as a liberator of Dachau:

[…] In 1945, the town of Dachau had one major road with a few side streets off to the sides.  When he arrived the street was full of people shouting, eating, looting, and running around either in exuberance of their new freedom or fear of what will happen next.   Colonel Porter gave him a jeep, and while riding down the street, a woman in a long black dress jumped into the middle of the street waving her hands trying to get my father’s attention. His jeep stopped and my father hopped out in his U.S. Army uniform, carrying his rifle and went up to her asked her what she wanted.  Her face showed a combination of urgency and fear, but she calmed down and motioned him to go with her into a small house with a bakery on the ground floor.  She wanted to get off the street before she would tell him why she was so frantic.  When inside, she explained that someone was hiding downstairs who wanted to surrender directly to an American soldier.  She said that she just wanted him out of her house and didn’t know what to do.

The man who ran into her store was still wearing his S.S. uniform and was more afraid of the newly liberated concentration camp prisoners than he was of the U.S. Army.  My father went down a spiral staircase pointing his rifle as he slowly descended, and there hovering in the corner, was probably a former Captain in charge of the S.S. officers at Dachau Concentration Camp.  When the Nazi officer saw my father, he stood up and saluted him with an American salute and he said that he wanted to surrender to an American, and be away from the mob of former inmates.  The whole thing was so bizarre to my father who could still remember being in Dachau as an inmate.  Even if this man was not the same Captain as in 1938, the thought of my father being the savior of an S.S. officer was quite ironic.  In retrospect, my father wondered if the Captain was actually the son of the screaming woman, and she tricked him into saving her son.

My father didn’t explain who he was and why he spoke German and just let them wonder if all of the U.S. soldiers were as conversant as he.  The Captain walked upstairs with his hands over his head, and then my father and the other soldier who was watching the jeep put the Captain on the hood of the jeep and told him to hold on to the metal bar that was attached to the front bumper.  This bar was the latest invention of the Americans to try to keep them from being decapitated.  The Germans would tie a thin wire around a tree on one side of the street and then cross the street and tie it to another tree, hoping that the American soldiers in the convertible jeeps would ride by and have their heads sliced off.

My father didn’t have to worry this day about any decapitation.  In addition to the outreaching metal stick, he had a Nazi officer in the front who would feel any wire before they would.  As my father drove down the main street of Dachau with this prominent Nazi on the hood, he remembered that six years earlier he was released from Dachau and was told that he better get out of Germany, because the next time he ended up in that camp, he wouldn’t be getting out alive.  Now six years later, he was an American soldier saving the life of a man in charge of all that killing.

Rick Landman, https://www.gedaechtnisbuch.org/henry-heinz-landman-and-70/

Such remarkable and moving experiences – I do not know, how Henry was able to see it all through. Both, the Lederhose I was allowed to see on this remarkable day in August, and the jacket of Henry Landman´s uniform, are in the safe keeping of the Jewish Museum Augsburg Schwaben as an important reminder of history. While this part of history is well documented thanks to the Landman family, Rick and I want to work on reconciling the broken past of our Franconian home town.

You have to meet him! He’s only a few miles away in Manhattan. What a delight it would be, to connect two of my favourite people and maybe someday have both of you with us here in Germany as we try to reconcile history through friendship and important lessons of the past for a brighter future.

Endemische Gedanken: wenn das Schweigen endlich bricht und prägende Erfahrungen bleiben

Aus Gründen ist es Zeit, endlich das Schweigen zu brechen und in diesem Blogeintrag über prägende pandemische Erfahrungen als Pfarrerin und Polizeiseelsorgerin zu schreiben.

Jahresanfang und eine Woche Urlaub. Für mich die perfekte Kombination, um etwas Ordnung zu schaffen und dadurch offen zu werden für die nächsten zwölf Monate des noch recht jungen Jahres. Als ich den Inhalt meines Nachtkästchens ausleerte, fiel mir eine Stoffmaske in die Hand, die ich vor fast genau zwei Jahren direkt aus meinem Fluggepäck in der Schublade des Nachtkästchens verstaut hatte. Nachdenklich setzte ich mich auf den Rand meines Bettes. Laut Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Berliner Klinik Charité, befinden wir uns bereits am Ende der Pandemie und in Deutschland am Beginn einer Endemie. Das heißt nicht, dass das Virus uns nicht weiterhin im Griff hat, dennoch trifft es nicht in der vorher vorhandenen Härte, Intensität und Gefährlichkeit. Eine Endemie bedeutet, dass wir weiterhin vorsichtig und rücksichtsvoll sein müssen, aber lernen mit der sich verbreiteten Krankheit umzugehen. Dazu benötigt es auch das Element der Reflexion, um aus dem Erlebten zu lernen.

Die Stoffmaske wirkte an diesem ersten Samstag des neuen Jahres wie ein Relikt aus einem anderen Leben, das inzwischen weit weg erschien. Ich seufzte tief. Bilder in wirrer Reihenfolge erschienen vor meinem inneren Auge. Ich schüttelte mich, während so manche Emotion der in New York erlebten Pandemie von mir wieder Besitz ergriff. Die Maske musste aufbewahrt werden. Wie lange ich auf meiner Bettkante saß, weiß ich nicht- doch irgendwann gab ich mir einen Ruck und suchte all die anderen Stoffmasken, die wir aufgehoben hatten.

Ich fand unsere Sammlung an Stoffmasken im abgelegensten Schrank unserer Wohnung in der untersten Schublade hinter vielen Halstüchern. Während in Deutschland schon bald FFP2-Masken Pflicht geworden waren, trugen wir in den USA relativ lange waschbare Masken aus Stoff. Im Nachhinein schützen diese Masken nicht so gut, waren aber nun für mich wichtige Erinnerungsstücke – persönliche Artefakte einer sehr intensiven Dienstzeit geworden.

Vier Masken hatte ich besonders gerne getragen. Sie waren nicht nur gut geschneidert gewesen, sondern verbanden mich emotional mit wichtigen Stationen einer intensiv erlebten Dienstzeit:

Auf der Maske aus schwarzem Baumwollstoff war in großen Buchstaben FAITH ______OVER ______ FEAR aufgedruckt. Diese Maske steht für den Beginn und die erste Welle der Pandemie, die ich in New York als einem der ersten Corona-Hotspots der westlichen Welt erlebt hatte. Es waren Monate, in denen ich als Pfarrerin und Polizeiseelsorgerin meine Berufung noch nie so intensiv gespürt hatte, wie in dieser Zeit. Eine Lehre dieser Zeit ist für mich, dass in Gefahr Berufung erst richtig beginnt. Noch gut erinnere ich mich an die Angst, mich selbst anzustecken- im Krankenhaus während ich Sterbende begleitete oder in den beengten New Yorker Bedingungen als ehrenamtliche Polizeiseelsorgerin, wo ein sicherer Abstand oftmals schwer möglich war.

Das Symbol der Synagoge war schon etwas abgegriffen – für mich strahlte es in seinem einfachen Weiß auf dieser azurblauen Maske umso mehr. Diese besondere Maske war mir von meiner jüdischen Synagoge geschenkt worden, wo ich mich ehrenamtlich engagiert hatte. Eine der bitteren Auswirkungen der Pandemie war in USA eine schnell eingetretene Massenarbeitslosigkeit, die vor allem aufgrund des nur rudimentären Sozialsystems die Ärmsten der Armen getroffen hatte. Diese Arbeit durfte daher nicht zum Erliegen kommen. Mit viel Fantasie und Engagement versuchten wir trotz der uns umgebenden viralen Gefahr für die zu sorgen, die sonst hungern würden.

Und dann nahm uns mitten in diesem pandemischen Chaos ein politisches Ringen Recht und Gerechtigkeit den Atem. Auf schwarzem Untergrund prangte neben dem Profil der Richterin Ruth Bader Ginsburg, die eine der größten Kontrahentinnen des damaligen Präsidenten Donald Trump war, in bunten Lettern die Aufschrift WOMEN BELONG IN ALL PLACES WHERE DECISIONS ARE BEING MADE. Ich hatte in USA ein Ringen um eine politisch gerechter gestaltete Welt erlebt, in der es einen Kampf um Inklusivität bzw. Exklusivität gab. Erinnerungen an wunderbare Frauennetzwerke und eine durchbangte Wahlnacht sind mir immer noch sehr präsent.

Eine weitere mir wichtige Maske strahlte und glitzerte mir auf einem galaktischen Hintergrund entgegen. Sie erinnert mich an die Träume, die mich in dieser intensiven Dienstzeit antrieben: Träume von Gesundheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Eine große Aufgabe, die wir nur gemeinsam Wirklichkeit werden lassen können. Wenn jeder eine Kleinigkeit dazu in seinem jeweils eigenen Bereich dazu tut, kann dies gelingen. In New York und jetzt in Bamberg versuche ich weiterhin meinen kleinen Teil dazu beizutragen.

Die Zahl der persönlichen Artefakte endete jäh mit meinem beruflichen Wechsel zur Bundespolizei – sicherlich auch verbunden mit der Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske. Mit meiner Rückkehr nahm so mancher Kollege wieder Kontakt zu mir auf. Eine Unterhaltung kurz nach meiner Rückkehr im Januar 2021 wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Anstatt mir ein offenes Ohr zu leihen, kritisierte er meinen beruflichen Wechsel zur Bundespolizei. Ich sei schon wirklich dumm gewesen. Wenn ich eine normale Pfarrstelle gewählt hätte, hätte ich sicherlich noch einige Monate eine ruhige Kugel schieben können. In Ruhe umziehen. Ankommen. Mich einfinden. Stattdessen hätte ich den Strudel des polizeilichen Dienstes gewählt. Ich war sprachlos über dieses opportunistische Denken, das ich bei diesem Kollegen wahrnehmen musste.

Als ich in Deutschland ankam, fragte man mich nicht nach meinen Erfahrungen noch bot man mir die Möglichkeit an, diese zu verarbeiten. Ein Sonderurlaub war bei einem solchen Wechsel nicht vorgesehen. Noch heute frage ich mich warum eigentlich, wenn ich viele dienstliche Sonderbelastungen getragen hatte? Supervision oder psychologische Begleitung wurde mir ebenso wenig angeboten. Also stürzte ich mich ins Neue und verarbeitete das Erlebte auf meine Weise.

Nach fast zwei Jahren sind diese Erfahrungen nun ein für mich wertvoller Teil meines Selbst geworden. So manches kann ich in den berufsethischen Unterricht der BPOL nebst zahlreicher Reportagen, die über meinen Dienst in New York gedreht wurden, einfließen lassen. So wird nun für andere zum Segen, was ich erlebt habe.

Für mich steht am Ende dieser endemischen Gedanken vor allem diese wichtige Lektion im Mittelpunkt der pandemischen Dienstzeit: eine Berufung zeigt sich in Gefahr – das verbindet mich zutiefst als Pfarrerin mit den mir anvertrauten Polizeikräften, die ich begleiten darf. Die eigene Berufung so stark spüren zu dürfen, ist ein großes Geschenk der pandemischen Dienstzeit, das mich begleiten wird – egal, wo ich meinen Dienst versehe.

Im anderen einen wertvollen Menschen entdecken: von Respekt für Einsatzkräfte und langfristiger Vertrauensbildung

Als ich auf insgesamt drei Regalen in großen Lettern die Schilder „AUTOS“ bereits auf der Rolltreppe entdeckte, spürte ich das Kribbeln einer kindlich freudigen Begeisterung. Meine geheime Mission würde aufgrund der schon von weiten sichtbaren Fülle an „Kaufgut“ sicherlich erfolgreich sein. Da mein Patenkind in einiger Zeit aufgrund einer notwendigen Operation ins Krankenhaus gehen musste, wollte ich ihn mit einem kleinen „Krankenhaus-Paket“ überraschen und Mut machen. Ein Besuch würde aufgrund der gegenwärtigen Infektionswelle kaum möglich sein. Daher hoffte ich, dass ihm durch die kleinen Geschenke etwas näher sein würde: ein kuscheliger Schlafanzug – ein Kuscheltier, das mit einem großen Reißverschluss versehen, Sorgen fressen konnte – eine Buch nebst selbsteingesprochener Audiodatei – und ein Spielzeugauto. Aber nicht irgendeines, hatte ich mir fest vorgenommen. Denn das Patenkind war ein begeisterter Polizeifan und wusste natürlich genau, dass seine Patin bei der Bundespolizei arbeitete.

Meine Füße setzten auf dem mit hellen Kacheln versehenen Einkaufsgeschoss auf und setzten mit entschlossenen Schritten das Tempo der Rolltreppe fort. Doch schon bald verlor ich nach der Durchsicht des zweiten Regals den Mut. Das konnte doch nicht wahr sein! Wo waren sie, die Polizeifahrzeuge? Bis dato war ich immer der Überzeugung gewesen, dass sie zu jedem Kinderzimmer gehörten und daher überall angeboten würden. Als ich schon fast aufgab, fiel mir auf der Stirnseite des letzten Regales ganz unten links einige Einsatzfahrzeuge auf. Unter ihnen zu meiner Erleichterung ein Volkswagen Crafter auf dessen Seite in großen Lettern POLIZEI aufgedruckt war. Noch dazu konnte man durch leichtes Drücken eine Polizeisirene erklingen lassen. Als das Geräusch erklang waren es sehr ambivalente Gefühle, die in mir Raum nahmen:

Erinnerungen an einen Besuch bei der Landespolizei als ich selbst Kindergartenkind war, wurden plötzlich so wohltuend präsent. Damals war es auch ein Volkswagen gewesen – ein alter Bus, in den wir uns setzen durften. Wo uns der Polizist unter unseren staunenden Augen alles erklärte und ganz nebenbei viel Vertrauen zwischen ihm und uns schuf.

Aber auch schwere Gedanken mischten sich in die freudige Jagd nach einem geeigneten Spielzeug, denn die Aufschrift „TRY ME“ war in makaberer Weise in der Silvesternacht von Personen umgesetzt worden. „Try me“ bedeutet aus dem Englischen übersetzt nicht nur „Probiere mich aus“, sondern je nach Kontext auch „Fordere mich doch heraus!“. Sicher ist vielen Einsatzkräften besonders in dichten Zeiten wie einem Jahreswechsel oder anderen Tagen im Jahreskreis bewusst, dass der Dienst nicht einfach werden könnte, dass der Dienst unter Umständen sogar eine Herausforderung darstellt. Aber das, was in der letzten Silvesternacht zahlreichen Einsatzkräften der Polizei und Feuerwehr passierte, lässt mich als Polizeiseelsorgerin wütend werden. Gewalt an Einsatzkräften, die zur Hilfe eilen, ist indiskutabel und darf nicht toleriert werden.

Mein Blick geht aber nicht nur zurück, sondern auch in die Zukunft. Meine eigene lange zurückliegende Erfahrung hat mich von Kindesbeinen an positiv geprägt. In New York habe ich auf diese Erfahrung aufgebaut und meine Konfirmandinnen und Konfirmanden im Rahmen eines Praxistages mit zu meiner damaligen Polizeistation genommen. Während die Polizeikollegen sie mit in die Station nahmen, ihnen Türen öffneten, die anderen so nicht zugänglich waren und Einsatzfahrzeuge erklärt bekamen, sah ich in ihren Augen ein Strahlen, das sich sicherlich als eine gute Erinnerung an die manifestierte, die für unsere Sicherheit sorgen.

Innerhalb des Community Policing Projects konnte ich viele vertrauensbildende Projekte besonders mit Kindern und Jugendlichen erleben: die Youth Police Academy, die in den langen Sommerferien kostenlose Camps anboten und spannende Einblicke in die Polizeiarbeit schenkten; die NYPD Explorers, mit denen die deutsche Jugendfeuerwehr im polizeilichen Bereich vergleichbar ist; Familienfeste; Basketballturniere mit Cops und so vieles mehr. Die grundlegende Konstante hierbei war, dass Bürgerinnen und Bürger mit Polizistinnen und Polizisten in Kontakt kamen und so manches Vorurteil fiel. Im anderen den Menschen entdecken – ob in zivil oder Uniform- das prägt beide Seiten und hilft, den anderen zu verstehen.

Als Polizeiseelsorgerin würde ich mir aufgrund dieser Erinnerungen wünschen, dass wir Polizei und Bürgerschaft, alt und jung, egal welcher Herkunft oder finanziellem Status, die Möglichkeit geben, im anderen einen wertvollen Menschen zu entdecken. Das ist aus meiner Sicht die beste langfristige Prävention gegen solche schweren Silvesternächte.

Ich drückte nochmals gedankenverloren auf den kleinen Volkswagenbus. Vielleicht sollte ich eher die große Aufschrift der Verpackung „TRY ME“ mit „TESTE MICH“ im Bezug auf meine Ideen übersetzen. Wenn ich in entscheidender Position tätig wäre, würde ich ein Projekt anstoßen, durch das die evangelische Seelsorge in der Bundespolizei diese Menschen zusammenbringt und Vertrauen schafft. Bis vielleicht eine solche Person den Mut fasst, werde ich dies im Kleinen als Pfarrerin umsetzen. Bei meinen Konfirmanden hatte ich in New York den Anfang gemacht. Nun war es mein Patenkind, das durch seine Patin einen spielerischen Zugang erhielt. Und wer weiß, welche anderen Möglichkeiten Gott in unsere Hände legen möge.

Neujahrsgedanken: von Nächstenliebe und Respekt für Einsatzkräfte

Wie das alte Jahr endete, so begann das neue mit einer kleinen Laufrunde. Die Sorge um das eigene (körperliche) Wohl gehört für mich als Polizeiseelsorgerin integral dazu, damit ich auch anderen helfend zur Seite stehen kann. Nicht umsonst heißt es in Mk 12,31 nach dem Gebot der Gottesliebe eben auch: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Also: Laufschuhe an und einige Meter zur Fitness beisteuern… Im Gegensatz zum Neujahrstag musste ich einen Tag später beim Laufen nicht bei jedem Schritt darauf aufpassen, ob ich in Scherben oder andere spitze, gefährliche Gegenstände treten würde. Die fleissigen Hände der Stadtreinigung hatte viele Spuren einer für manche recht feucht-fröhlichen Silvesternacht beseitigt.

Als ich an einem „gesprengten“ Abfall vorbeilief, hielt ich kurz inne und seufzte. Musste so etwas wirklich sein? Aber im Gegensatz zu anderen Orten, handelte es sich hierbei „nur“ um einen Sachschaden. Die Berichte über in Gefahr gebrachte, sogar attackierte Einsatzkräfte an Silvester schockierte mich zutiefst. Die Schilderungen aus Berlin und anderen Orten machen mich sprachlos. Es scheint mancherorts zu unglaublichen Übergriffen gegen die zu geben, die für unsere Gesundheit und Sicherheit von Berufswegen sorgen. Ein lieber Freund, der als Notarzt nicht nur den schweren Dienst mit Tag- und Nachtschichten auf sich nimmt und seine Familienzeit daran anpasst, wurde von dem Sohn einer Patientin nicht nur angegriffen, sondern schwer verletzt.

Ich mache mir Gedanken um „meine“ Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter, die ich in ihrer polizeilichen Ausbildung begleiten darf. Was diese jungen Menschen alle eint, ist der Wunsch, einen helfenden Beruf zu erlernen. Nicht selten höre ich von deren Sprachlosigkeit und auch ihren Zweifeln, ob diese schwere und anspruchsvolle Berufung es wert sei Gewalt von denen erleben zu müssen, die sie eigentlich ursprünglich zur Hilfe riefen.

Als ich an einem „Böllerrest“ vorbeilief, musste ich an meine Zeit als Polizeiseelsorgerin in New York denken und auch die sieben Silvesternächte, die wir dort erlebt hatten. Aufgrund des Böllerverbotes waren es stattdessen Tonnen von Confetti, die die Straßen bedeckten. Aber ob diese Nächte aufgrund des Verbotes dort friedlicher verliefen, wage ich zu bezweifeln. Doch gleichzeitig erinnere ich mich an ein Jahr, indem die Einführung von „Body Cams“ heftig diskutiert worden war. Personen des öffentlichen Lebens und Vertreter von Institutionen waren zu einer Abstimmung eingeladen worden, die eruierte, ob diese Aufnahmemöglichkeit eingeführt werden sollte. Das Ergebnis, so versprach NYPD, sollte in Zusammenarbeit mit der Verwaltung der Megametropole verbindlich umgesetzt werden. Damals stimmte ich für eine Verwendung von „Body Cams“ im Polizeidienst. In den darauf folgenden Jahren nach deren Einführung kam es neben der intendierten Transparenz polizeilicher Handlungen ebenso zu einer Dokumentation der Handlungen von Personen, die Teil der polizeilichen Maßnahmen waren. Besonders faszinierend fand ich damals, dass die Zahl der Übergriffe auf Polizeikräfte fielen und insgesamt ein besserer, deeskalierender Umgang miteinander feststellbar war. Irgendwie faszinierend, denn beide Seiten schienen nun vermehrter das ernst zu nehmen, was ich als Theologin als Gebot der Nächstenliebe bezeichnen würde: nämlich den anderen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.

Erfahrungen aus fast sieben Jahren New York als Auslandspfarrerin und ehrenamtliche Polizeiseelsorgerin. Ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland ebenso durch eine flächendeckende Einführung von „Body Cams“ ähnliche Erfahrungen zum Schutze aller sammeln dürften.

Während ich an so manchem von Confetti und Böllerresten gesäumten Weg entlanglief, sprach ich ein kleines Gebet für diejenigen Einsatzkräfte, die in der Silvesternacht und an anderen Tagen Gewalt erleben mussten, damit die schrecklichen Wunden heilen mögen. Und gleichzeitig für diejenigen, die meinen, Gewalt gegen Einsatzkräfte ausüben zu müssen, damit sie von diesem falschen Weg abkommen. Bis beides eintrifft, bleibt mir wohl nur, meinen Freund darin zu stärken, dass die erlebte Gewalt sein Menschenbild nicht nachhaltig zum Wanken bringt, und für meine angehenden Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter in ihrer Ausbildung zuhörend und unterstützend da zu sein.

My dear Jewish friend 14: Inter-religious education and lessons to grow

After two public Christmas holidays, where we celebrated among our family, I headed back to work regenerated and full of hope despite the challenges on personal, professional, and political level.

For another year the Chanukah decorations – my small electric Chanukiah and the large wooden Dreidel from Israel – would rest in the large cupboard of my office. After placing the Chanukiah in front of a stack of Bibles longing to be used. Then, I carefully placed the Dreidel in front of it. The wooden art piece would forever remind me of a special lesson about Chanukah, inter-religious education, and own theological reflections on this Jewish celebration. As I slowly turned the dark Dreidel on its socket I remembered the astonished voice of a young police cadet.

But let me start with the lesson itself… : After the murderous crimes of World War II the number of Jews living in Germany presently is under 1% of the German population. Most of my police cadets have never had an encounter with Jews and only small knowledge about the living faith of Judaism. Therefore, during the festive season of Chanukah, I taught them about the history of this important festival showing them the Chanukiah and even playing a fun round of Dreidel. While I explained the historical background of your festival I could see that one police cadet sitting in the center of the class room looked very puzzled. He persistently raised his hand. I nodded, as I could feel the urgency of his question. „Mrs. Groß, please forgive my question, but I am confused. Are you Jewish?“ Now it was me being the astonished one. I set down the Dreidel on my desk. „No, I am not Jewish. But I have lived in New York for almost seven years. My children brought home many Jewish traditions. Some of my best friends are Jewish, and through Judaism I was able to understand a lot of my Christian faith.“ While the class then eagerly turned to playing a round or two of Dreidel, the question of the young police cadet stuck and evoked a deeper research on what Chanukah, Judaism and Christianity might have in common. Who would ever think, that an inter-religious lesson I had designed for my police cadets to help them with their ethical decision making, would help me to reach a deeper level of understanding of both faiths.

In the Christian Holy Scriptures we hear from Jesus celebrating most likely Chanukah:

At that time the festival of the Dedication took place in Jerusalem. It was winter, and Jesus was walking in the temple, in the portico of Solomon.

John 10:22-23 NRSV

The German Bible translation „Bibel in gerechter Sprache“ even directly speaks of Chanuka:

Damals fand in Jerusalem das Chanukkafest statt.

John 10:22 Bibel in gerechter Sprache

There is no further biblical proof, if Jesus celebrated Chanukah. But the reference seems very convincing to me and I will definitely add to my answer that Jesus was a Jewish Rabbi and most likely celebrated Chanukah like other Jews did.

With a soft push I closed the cabinet door, where the special objects of my teaching are stored. The Dreidel will forever remind me of this special lesson – by now I am convinced that I am challenged to grow as I teach as much as I challenge my young cadets to learn about other faiths, cultures, and festivals.

Love from Bamberg to my Jewish friend.