Die Extrameile gehen…

Mein Blick war vor Müdigkeit noch ganz verschwommen. Ich setzte in der Dunkelheit einen Fuß vor den anderen während meine Lehrgruppe um kurz vor fünf Uhr in einem gleichmäßigen, schweigenden Rhythmus vom dumpfen Stapfen der Dienststiefel angetrieben durch die kalte Winternacht marschierte. Um diese Uhrzeit würde ich mich normalerweise noch einmal umdrehen, mich in die wohlig warme Daunendecke wickeln und eine weitere Stunde schlafen, bevor mein Tag und kurz danach mein Dienst als Polizeiseelsorgerin beginnen würde.

Aber Jesus sagte einst in den berühmten Worten der Bergpredigt (Mt 5,41): „Geh die Extrameile mit!“ Ich seufzte beim Gedanken an einen warmen Kaffee leise und lief in der Dunkelheit stoisch weiter.

Kurze Zeit später hielt die Lehrgruppe umgeben von dunklen fränkischen Wäldern an während die angehenden Kollegen, die mit dem Finden des Weges betraut worden waren, über eine Karte gebeugt und im Schein von Taschenlampen den besten Weg zum Zielort eruierten. Sie würden in dieser Nacht viele Meilen bzw. Kilometer als Teil ihrer Ausbildung durch die Dunkelheit gehen.

Die Extrameile.

Nächtliche Alarmübungen sind ein wichtiger Bestandteil des ersten Ausbildungsjahres in der Bundespolizei. Bei einer solchen Übung müssen sie als Lehrgruppe Durchhaltevermögen, Orientierungssinn und Kameradschaft und die aufgetragenen Extrameilen gemeinsam bezwingen.

Das Wörterbuch von Pons definiert diesen Ausdruck in folgender Weise:

„Die Extrameile gehen“, Jargon (Anglizismus nach engl. „go that extra mile“): seine persönlichen Grenzen hinausschieben; mehr leisten als erwartet oder gefordert wird.

Die Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter müssen in ihrer Ausbildung diese „Extrameile“ im literalen, aber ebenso im übertragenen Sinn gehen. Neben dem Weg war ihnen eine Gemeinschaftsaufgabe aufgegeben worden: 2000 Liegestützen und 2000 Kniebeugen mussten ebenso absolviert werden. So wurde der Weg durch die fränkische Winternacht immer wieder von zusätzlichen sportlichen Übungen unterbrochen und so mancher Muskel noch mehr belastet. Doch meine Lehrgruppe nahm dies nicht nur tapfer hin, sondern setzte die Aufgabe motiviert durch die sonore Ansage eines ihrer Kollegen um.

Die Extrameile.

Ein biblisches Motto, das auch mich durch so manche dienstliche Herausforderung und Aufgabe trägt. Der Kontext, aus dem Jesus Seine Worte schöpfte ist kein einfacher, denn hier geht es um ein feindlich gesinntes Umfeld und Vergeltung, auf die ein Nachfolger und eine Nachfolgerin im Falle einer Auseinandersetzung verzichten sollten. Hier sagt er:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist ( 2. Mose 21,24) : »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand eine Meile nötigt , so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

Mt 5,38-41

Die Rede der Extrameile hat über christliche Gemeinschaften im angloamerikanischen Raum ihren Eingang auch in den deutschen Sprachgebrauch gefunden. Das „Neue Testament Jüdisch erklärt“ beschreibt den durchaus bedenkenswerten Hintergrund dieser Redewendung in folgender Weise:

Eine Meile, römische Soldaten hatten das Recht, Einheimische einzuziehen, damit diese ihre Ausrüstung für eine Meile trugen: Die zusätzliche Meile verdeutlicht die fehlende Gegenwehr.

Neues Testament Jüdisch erklärt, S. 26.

In der Ausbildung müssen Auszubildende diese Extrameile gehen, wenn es sich hierbei auch nicht um einen feindlichen, sondern einen selbstgewählten Kontext und damit den zu beschreitenden Ausbildungsweg zum Wunschberuf handelt.

Aber nicht nur sie gehen diese Extrameile. Auch ihre Ausbilderinnen und Ausbilder, sowie alle, die für ihren Lernweg das Notwendige bereitstellen. Das merkte ich in dieser Nacht als Seelsorgerin ebenso während das Gewicht meines Rucksacks dessen Riemen in meine Schultern drückten und ich dem langsam hereinbrechenden Tag sehnsuchtsvoll entgegenlief. Immer wieder bin ich beeindruckt von dem Engagement derer, die für die bundespolizeiliche Ausbildung sorgen. Angeführt von ihrem Lehrgruppenleiter PHK Ralf Obermaier hatte mich die Lehrgruppe nicht nur herzlich in ihrer Mitte aufgenommen, sondern mich dies miterleben und durchleben lassen. Stringenz, Teamgeist, Durchhaltevermögen. Schritt um Schritt brachten diese die Lehrgruppe zu ihrem Ziel durch die dunkle Nacht.

Die Extrameile.

Endlich lag diese und viele andere (genauer gesagt laut Fitnessuhr 21 km) hinter mir. Ich atmete durch und genoß die spektakuläre Aussicht am Staffelberg. Welch ein Segen Teil ihrer polizeilichen Ausbildung sein zu dürfen. Sie begleiten zu dürfen in dunklen Zeiten der Herausforderung und hellen Freudenmomenten.

Lieber Blogleser, liebe Blogleserin: Jesus sagt: „Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“ Als Polizeiseelsorgerin ist mein Herz voll nach einer solchen Alarmübung, mein Mund geht über und meine Finger fliegen über die Tasten meines Mac-Books während ich diesen Blog schreibe.

Ich wollte Sie an diesem wichtigen Bestandteil bundespolizeilicher Ausbildung teilhaben lassen, damit auch Sie die Extrameile gehen und für unseren Nachwuchs tun, was möglich ist. Das Gebet wäre einer dieser Möglichkeiten, die auch in der Ferne leicht möglich sind. Gegenwärtig geht mein Blick vor allem in Richtung unseres polizeilichen Nachwuchses, da ich für sie mitverantwortlich bin. Beten Sie für deren schwere Aufgaben, die sie zu meistern haben. Aber beten Sie auch für den Nachwuchs anderer Berufsgruppen – ob Kirche, Gesellschaft oder Politik. Sie alle sind unsere Zukunft und brauchen unsere verlässliche, ermutigende, manchmal mahnende, aber auch richtungsweisende Begleitung, damit sie zum Ziel ihres Wunschberufes gelangen. Aus meiner Sicht als Seelsorgerin benötigen sie vor allem Gottes ständige Präsenz, damit sie in der Dunkelheit ihres Dienstes den Weg und ihre Aufgaben meistern, um mit dem angebrochenen Tag zu noch größerer Stärke und Verantwortung zu gelangen.

Ein Herz für den Nachwuchs: von Blaulichtparties und Gebeten

Ein kalter Wind pfiff durch die schmale Straße. Ich rieb mir die Hände und zog die blaue Weihnachtsmütze tiefer ins Gesicht während ich in die erwartungsvoll-freudigen Gesichter meines polizeilichen Nachwuchs blickte, der auf den Einlass in der Diskothek im Herzen Bambergs geduldig wartete.

Als Polizeiseelsorgerin versuche ich so oft wie möglich an „Blaulichtparties“ präsent zu sein, um gemeinsam mit Ehrenamtlichen der Gewerkschaft der Polizei als Ansprechpartnerin verfügbar zu sein. Denn der Nachwuchs, dessen Sicherheit und ihre Anliegen liegen uns – Seelsorge und Gewerkschaft – sehr am Herzen. Hand in Hand zeigen Kirche und Gewerkschaft durch Personen vor Ort ein gemeinsames Gesicht.

Und das ist notwendig, denn die nächste Generation von Beamtinnen und Beamten ist unsere Zukunft. Ob dies Polizistinnen und Polizisten, oder Pfarrerinnen und Pfarrer sind, so sollten wir uns bewusst sein, dass diese Berufsgruppen vieles begleiten, was ein Bürger oder eine Bürgerin hoffentlich nur selten oder nie erleben muss. Beide Berufsgruppen machen diese Erfahrungen sehr früh in ihrer beruflichen Laufbahn – meine Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter beginnen ihre Ausbildung teilweise mit sechzehn Jahren.

Unser Nachwuchs benötigt daher unsere Begleitung und unser unablässiges Gebet. Paulus schreibt weise Worte über die Gestaltung unseres Lebens und das Gebet in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Thessaloniki, die auch wir zu Herzen nehmen sollten:

Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch.

1. Thess 5,16

Fröhlichkeit stand an diesem Dezemberabend kurz vor dem Weihnachtsurlaub meiner Auszubildenden im Mittelpunkt derer, die dorthin gekommen waren. Inzwischen war mir vom Stehen neben der Security am Eingang der Diskothek in der zugigen Straße kalt geworden. Ich entschuldigte mich bei meinem Gewerkschafts-Kollegen und stieg die Treppe hinunter in den dunklen und warmen Gastraum, während ich in die rhythmische Musik der Feierenden eintauchte. Obwohl ich am Rande der Tanzfläche in meiner Leuchtweste stand, wurde ich in den fröhlichen Sog mit hineingetragen und lies mich einige Minuten vom Rhythmus tragen.

Seid allezeit fröhlich!, fordert Paulus auf.

Doch jenseits all des Feierns erwartet unseren Nachwuchs ein schwerer beruflicher Alltag. Das wusste ich durch meine eigene Ausbildung, aber auch durch meine Erfahrungen in der Begleitung von polizeilichen Einsatzkräften und kirchlichen Seelsorgenden. Sie sind eingestellt in ein weites berufliches und privates Spannungsfeld. Dabei dankbar zu sein, ist eine große, ja fast lebenslange Herausforderung.

Seid dankbar in allen Dingen!, fordert Paulus auf.

Tod, Trauer, Verlust, Übergriffe und Extreme prasseln auf diese zumeist jungen Menschen ein. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich meine ersten beruflichen Erfahrungen mit Sterben, Tod und Endlichkeit mit Mitte zwanzig gesammelt hatte. Prägende Momente, die sich teilweise in die Seelen der jungen Menschen einbrennen. „Die erste Leiche, den ersten Toten vergißt du nie“, hatte man mir damals in der Seelsorgeausbildung gesagt. Diese und andere Erfahrungen hinterlassen ihren unauslöschlichen Eindruck, der unseren Nachwuchs während seiner Ausbildung verändert und formt. Als Lehrende, Mentorinnen und Mentoren können wir nicht immer vor Ort sein. Daher braucht es etwas, worauf Paulus zu recht hinweist:

Betet ohne Unterlass!, fordert Paulus.

Gott hört. Er ist da. Und manchmal braucht es andere, die für einen beten, wenn man selbst keine Worte mehr findet oder sich mitten im Geschehen befindet. Kein Wunder also, dass Dekanin Kerstin Baderschneider aus Kitzingen die Synode aufgefordert hatte, den Gemeinden eine Bitte um den Nachwuchs in die Fürbittengebete aufzunehmen (siehe Artikel Sonntagsblatt). „Es liegt Kraft im gemeinsamen Gebet“, so Dekanin Baderschneider. Dem kann ich nur zustimmen! Für mich kommen dabei als Seelsorgerin der kirchliche und der polizeiliche Nachwuchs in den Blick, der so viel erleben und schon während seiner Ausbildung begleiten muss – Gebet ist neben einer guten Ausbildung das, was wir alle für sie tun können. Als die Synode diese Eingabe abgelehnt hat, war es für mich ein bitterer Moment. Aber vielleicht überlegt es sich die Synode nochmals, wenn sie im neuen Kalenderjahr sich mit der sechs Verse später stehenden Jahreslosung auseinandersetzen wird?

Prüft aber alles und das Gute behaltet. So rät es Paulus.

Zu hoffen ist es allemal, dass die Synode dies ernst nimmt und nochmals diese Eingabe als geistliches Gremium prüft.

Inzwischen war es kurz nach Mitternacht. Nachdem die letzten unter Sechzehn sich auf den Weg zurück zur Ausbildungsstätte gemacht hatten, konnte auch ich in den Feierabend gehen. Ich verabschiedete mich von meinem Kollegen und tauchte mit Leuchtweste in die dunkle Nacht ein. Nur wenige Fenster waren noch beleuchtet als ich durch die Kälte nach Hause radelte, aber eins wusste ich gewiss: Mein Engagement und unablässiges Gebet als Polizeiseelsorgerin würde meine Auszubildenden begleiten, denn das war notwendig.

… Und liebe Leserin und lieber Leser, wenn Sie etwas Zeit haben, beten Sie für unseren Nachwuchs, den polizeilichen und kirchlichen. Denn wir brauchen sie in ihrer jeweils eigenen beruflichen Kompetenz, damit Gerechtigkeit und Hoffnung in diese Welt einziehen möge.

Von Führen und Leiten – Perspektiven aus Bibel und Bekenntnis

Fasziniert betrachtete ich den Aufmarsch der Studiengruppen. Die Marschformation, Aufstellung und Durchführung geschah wie von unsichtbarer Hand geführt. Man konnte die Mühe, aber auch die Genauigkeit erahnen, die darin verborgen war und von einer höher geordneten Person in diese Form gebracht worden war. Der Aufmarsch verlieh uns an diesem Tag Sicherheit und symbolisierte einen besonderen Ehrengruß.

Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, 27. Januar 2023

Seit meines Dienstbeginns in der Bundespolizei tauche ich als Pfarrerin und Theologin in ein hierarchisches geführtes System ein, mit dem ich in ähnlicher Weise punktuell durch meine Tätigkeit in der NYPD und meinen familiären Berührungspunkten mit der US-Army in Berührung gekommen war. Die polizeilichen Führungsstrukturen, und auch die der evangelischen Seelsorge in der Bundespolizei sind stark hierarchisch gegliedert. Während in meiner dienstlichen Verwendungszeit die Notwendigkeit besteht, sich hierin einzuordnen, hilft mir diese Erfahrung, Führen und Leiten in meinem ursprünglichen kirchlichen Tätigkeitsbereich zu reflektieren und für die berufliche Zukunft daraus zu lernen.

Besonders aufgrund der massiven Veränderungen in den Kirchen, die durch Mitgliederrückgang, massiv rückläufige Finanzen und einen Bedeutungsverlust der Kirchen im öffentlichen Leben evoziert sind, lohnt sich ein Blick auf das Thema, wie es in Bibel und Bekenntnis wahrnehmbar ist. Die folgenden Erwägungen sind daher für all diejenigen gedacht, die sich mit Amt, Führung und Leitung auseinandersetzen wollen oder müssen, um dies bibel- und bekenntnisgemäß zu gestalten.

Während straffe Hierarchie aufgrund der Einsatzstruktur und -notwendigkeit ein Merkmal der Bundespolizei ist, sollten die Kirchen kritisch auf ihre eigene (oftmals auch offen oder verdeckt hierarchische) Struktur sehen. Wagen wir also einen Blick in Schrift und Bekenntnis:

Wenn wir die Bibel befragen, so ist der Ursprung jedes Amtes in einem königlichen Priestertum zu sehen. Bei der Ankunft des Volkes Israel am Sinai verkündete Mose im Auftrag Gottes, das sie ein Königreich von Priestern seien:

Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.

Ex 19,5

Aus diesem Königreich von Priestern wurde schließlich in der biblischen Entwicklungsgeschichte ein königliches Priestertum, das zum Priestertum aller Getauften wurde. Nun waren alle vor Gott gleich würdig und wehrt.

… und uns zu einem Königreich gemacht hat, zu Priestern vor Gott und seinem Vater, dem sei Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Off 1,6

Doch blieb es nicht nur bei diesem intrinsischen Wert, der den Gläubigen zugesprochen wurde, sondern dieser Zuspruch wurde mit einem ganz konkreten Anspruch verbunden, den man am Ende des Matthäusevangeliums wahrnehmen kann:

Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Mt 28,18

Zuspruch und Anspruch sind eng miteinander verknüpft und werden doch relativiert, denn im Leib Christi sind alle gleichberechtigt mit einem Haupt, das Christus ist:

Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ein Glied. Und Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann gab er die Kraft, Wunder zu tun, dann Gaben, gesund zu machen, zu helfen, zu leiten und mancherlei Zungenrede.

1.Kor 12,27f.

Nun kann man im neuen Testament drei Ämter wahrnehmen: Apostel, Propheten und Lehrer. Diese sind alle gleichwertig im Amt. In der paulinischen Chrismentheologie, die in der Paulusschule ausgebildet wurde, sind diese Ämter um Evangelisten und Hirten erweitert worden. Alle Ämter aber sind dazu da, „damit die Heiligen zugerüstet werden“ und sind als Teile des Leibes auf das Haupt hin, also Christus ausgerichtet. „Von ihm aus gestaltet der ganze Leib sein Wachstum“.

Einem jeden aber von uns ist die Gnade gegeben nach dem Maß der Gabe Christi. Darum heißt es (Psalm 68,19): »Er ist aufgefahren zur Höhe, hat Gefangene in die Gefangenschaft geführt und den Menschen Gaben gegeben.« Dass er aber aufgefahren ist, was heißt das anderes, als dass er auch hinabgefahren ist in die Tiefen der Erde? Der hinabgefahren ist, das ist derselbe, der aufgefahren ist über alle Himmel, damit er alles erfülle.
Und er selbst gab den Heiligen die einen als Apostel, andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Menschen, zum vollen Maß der Fülle Christi, damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch das trügerische Würfeln der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen.
Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.

Eph 4,7-16

Wenn wir hier in V. 12 blicken, so wird hervorgehoben, dass die erwähnte Personengruppe dazu da ist, die „Heiligen“ zuzurüsten. καταρτισμός bedeutet „zurüsten“, „trainieren“, aber auch „schulen“. Pfarrpersonen sollen daher Gemeindeglieder befähigen, nicht betreuen. Um dem biblischen Bild gerecht zu werden müssen wir dringend weg vom Selbstverständnis der Betreuungskirche hin zur Beteiligungskirche. Ein längst überfälliger Schritt, denn das im Kaiserreich eingeführte und nach dem zweiten Weltkrieg als notwendig weiterausgebaute System der Betreungskirche greift nicht mehr. Es braucht neue und andere Wege, auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen eingehen und Hirtinnen und Hirten, im Großen und Kleinen, die dies ernsthaft umsetzen.

Davon erfahren wir in den Pastoralbriefen mehr. In ihnen spürt man danach sehr deutlich, dass diese sich mit dem ausbreitenden Christentum praktischen Fragen zuwenden mussten. Wie sieht z.B. solch ein Hirtenamt aus? Wie hat sich ein Bischof, also der geistige Führer einer Gemeinde, oder ein Diakon sich zu verhalten? Mehr erfahren wir im ersten Timotheusbrief:

Das ist gewisslich wahr: Wenn jemand ein Bischofsamt erstrebt, begehrt er eine hohe Aufgabe. Ein Bischof aber soll untadelig sein, Mann einer einzigen Frau, nüchtern, besonnen, würdig, gastfrei, geschickt im Lehren, kein Säufer, nicht gewalttätig, sondern gütig, nicht streitsüchtig, nicht geldgierig, einer, der seinem eigenen Haus gut vorsteht und gehorsame Kinder hat, in aller Ehrbarkeit. Denn wenn jemand seinem eigenen Haus nicht vorzustehen weiß, wie soll er für die Gemeinde Gottes sorgen? Er soll kein Neugetaufter sein, damit er sich nicht aufblase und dem Urteil des Teufels verfalle. Er muss aber auch einen guten Ruf haben bei denen, die draußen sind, damit er nicht geschmäht werde und sich nicht fange in der Schlinge des Teufels.

1. Tim 3,1-7

Das sind hohe Ansprüche für gemeindliche Führungspersonen, die nicht ohne Zuspruch bleiben dürfen. Nur ein Kapitel später wird daher die Gabe hervorgehoben, die wir heute als Ordination bezeichnen würden:

Lass nicht außer Acht die Gabe in dir, die dir gegeben ist durch Weissagung mit Handauflegung des Rates der Ältesten.

1. Tim 4,14

Gestärkt durch diese Zusage kann eine offiziell beauftragte Person ihren Dienst vollführen immer mit dem Blick auf die „heilsamen Worte“ (2. Tim 1,13) , die diese Person gehört hat. Weiterhin wird es interessant, wenn wir von diesem biblischen Blick uns den Bekenntnisschriften zuwenden.

All diese Gedanken sind schließlich in CA V (Predigtamt), VII (Kirche) und XIV (Kirchenregiment) eingegangen. Im Wittenberger Ordinationsformular von 1535 spiegelt sich diese Beauftragung nach Innen und Außen wieder.

In besonderer Weise sei hier Barmen IV erwähnt, das einhergehend mit Mt 20,25.26 nochmals die Gleichrangigkeit der verschiedenen Ämter betont:

Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. 

Barmen IV

Ein massiver Unterschied zu Amt, Führung und Leitung, wie ich sie gegenwärtig in der Einsatzorganisation der Bundespolizei wahrnehme und wie dies für Polizistinnen und Polizisten alltäglich erscheint. Selbstverständlich sei an dieser Stelle betont, dass es in einer solchen aufgrund der zu versorgenden Geschehnisse eine hierarchische Befehlsstruktur geben muss. In kirchlichen Strukturen hingegen ist Amt, Führung und Leitung nach biblischen Befund auf Christus als dem Kopf des Leibes hin ausgerichtet, der alle als gleichberechtigte Glieder sieht. Dort gibt es keine Höherwertigkeit des einen über die andere. Nicht umsonst hat Steffen Bauer im Bezug auf die notwendigen Veränderungsprozesse in den Landeskirchen gesagt:

Die Führung des Wandels benötigt einen Wandel der Führung.

Noch deutlicher sollte ich hinzufügen: Wir müssen weg von dem überholten Bild der Versorgungskirche hin zu einer Beteiligungskirche, in der jeder und jede als Teil dieser Kirche seine Wirkrelevanz als Glaubende einbringen und gestalten kann. Pfarrpersonen sollten hierbei befähigen und ermöglichen, nicht schlicht „versorgen“.

Mit dem wachsenden Druck auf Kirche werden wir sehen, wie ernst Kirchen es meinen oder ob sie wie die Church of Scotland viel zu spät reagieren und dann in den teils selbst kreierten Abgrund blicken werden.

Was ich mir nach dieser kleinen Reise durch Schrift und Bekenntnis ersehne: eine Kirche der Menschen vor Ort, die Glauben in seiner Pluriformität leben und erfahrbar machen.

Zahlreiche Lehr- und Studiengruppen sind in den letzten Jahren an mir vorüber marschiert. Bei einigen habe ich mich eingereiht und diese bei nächtlichen Alarmübungen und Orientierungsmärschen begleitet. Es sind wertvolle Einblicke in eine besondere und wichtige berufliche Welt, die für unsere Sicherheit sorgt. Ich habe großen Respekt vor deren Leistungs- und Leidensbereitschaft im Namen des Grundgesetzes. Als evangelische Seelsorgerin, die irgendwie Teil der Organisation, dann aber auch eine ganz andere Anbindung hat, werde ich sie aufgrund meiner kirchlichen Beurlaubung nur eine gewisse Zeit begleiten dürfen. Manchmal ist diese Begleitung ein wahrer „Drahtseilakt“ zwischen Eingliederung in eine straffe Hierarchie und einer andersartigen Verortung, die aus Bibel und Bekenntnis entspringt und den Menschen, nicht die Hierarchie und Funktion in den Mittelpunkt stellt. Ich bin dankbar um das mir entgegengebrachte Vertrauen, das mein Herz in besonderer Weise anrührt und auch mich verändert.

Familienfreizeit der CPV

Wenn das biblische Bild vom Leib und vielen Gliedern gelebt wird

Mit etwas Wehmut legte ich den Flyer der seit einigen Tagen zu Ende gegangenen Familienfreizeit der CPV weg. Zwölf Tage in Südtirol waren viel zu schnell vergangen. Aus ganz Deutschland waren christliche Polizeifamilien an diesen wunderschönen Ort gekommen, um gemeinsam Zeit zu verbringen, zu wandern und den christlichen Glauben zu leben. Die Familien waren Mitglieder in freikirchlichen Gemeinden, Brüdergemeinden, evangelisch-landeskirchlichen und römisch-katholischen Gemeinden. Eine bunte Mischung von Christinnen und Christen unterschiedlicher Konfessionen.

Etwas angespannt war ich zugegebener Maßen schon, denn als Pfarrerin weiß ich um die vielen Verwerfungen, die Streitigkeiten um Glaubensgrundlagen und den manchmal unbarmherzigen Umgang mit Personen, die selbst innerhalb des Christentums etwas anders leben und glauben. Diese Spannungen traten unweigerlich an der einen oder anderen Stelle zu Tage, doch in allem wussten wir, dass wir in unserer Unterschiedlichkeit Teile des einen Leibes sind, der Christus heißt.

Der Apostel Paulus nimmt dieses Bild nicht umsonst in seinem ersten Brief an die Korinther auf:

Denn wie der Leib einer ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt.
Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. Wenn nun der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum gehöre ich nicht zum Leib!, gehört er deshalb etwa nicht zum Leib? Und wenn das Ohr spräche: Ich bin kein Auge, darum gehöre ich nicht zum Leib!, gehört es deshalb etwa nicht zum Leib? Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör? Wenn er ganz Gehör wäre, wo bliebe der Geruch? Nun aber hat Gott die Glieder eingesetzt, ein jedes von ihnen im Leib, so wie er gewollt hat. Wenn aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib? Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer.
Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns schwächer erscheinen, die nötigsten; und die uns weniger ehrbar erscheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und die wenig ansehnlich sind, haben bei uns besonderes Ansehen; denn was an uns ansehnlich ist, bedarf dessen nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, auf dass im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder einträchtig füreinander sorgen.

1. Kor 12,12-25 (LUT 2017)

Zusammengehalten wurde dieser wunderbare Leib Christi, der in dieser Freizeit von Polizeifamilien zusammengekommen war, in all seiner Unterschiedlichkeit durch ein unsichtbares Band, das aus göttlicher Gnade besteht. Einer Gnade, auf die wir alle bauten:

Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.

Eph 2,8-9

Bei jeder Wanderung durch die spektakuläre Natur Südtirols,

bei jedem Tischgespräch begleitet von leckeren Speisen,

dem ungezügelten Lachen der Kinder und Erwachsenen,

der zugewandten Sorge um einander bei so mancher tapfer gelaufener Blase,

gemeinsamen Andachten,

von Herzen gesprochenen Gebeten und innigem Vaterunser,

einem unglücklich eingefangenen Infekt und so vielem mehr

wuchsen wir weiter zusammen, vergaßen die Unterschiede unserer Konfessionen und Glaubensgemeinschaften und wendeten uns dem zu, was uns einte: der erstaunlich wunderbaren Gnade Gottes, die uns durch Christus geschenkt ist. Als drei Jugendliche am letzten Abend unserer Freizeit das berühmte Lied John Newtons „Amazing Grace“ anstimmten und in unserer Andacht sangen, war es diese Vergewisserung, die uns alle bewegend ergriff.

Gemeinsam Glauben fußend auf göttlicher Gnade leben und Christinnen und Christen unterschiedlichster Konfessionen als Teil des Leibes Christi begreifen – für mich eine tiefgreifende Erfahrung und ein Vorgeschmack des Reiches Gottes mitten in unserer oft so zerrütteten und zerstrittenen Welt.


Einige kleine visuelle Eindrücke könnt ihr in diesen Videos erhalten, die ich in Instagram unter dem Benutzernamen mi_gross eingestellt habe (Ton bitte an!) :

Lesen gegen Hass 4: im Nachgang der Europawahl Lernen wider Angst und Rechtsextremismus

TikTok hat ganze Arbeit geleistet. Das müssen wir im Nachgang der Europawahl zähneknirschend anerkennen. Die bekannte soziale Plattform wurde effizient von der Partei AfD und vielen anderen rechten Influencern für ihre rechtsextremen Zwecke genutzt. Dafür haben andere Parteien, deren Vertreter und Institutionen mit vielfacher Abwesenheit geglänzt oder sich nur punktuell dort eingebracht. Ich nehme mich dabei nicht aus – obwohl ich digitalaffin bin, bin ich vor TikTok zurückgeschreckt. Die Plattform stellt nicht nur eine datenschutzrechtliche Katastrophe dar, sondern aufgrund meiner gegenwärtigen Tätigkeit als Seelsorgerin in einer Sicherheitsbehörde habe ich hinsichtlich dieser große Vorsicht walten lassen.

Doch die Stimmanteile innerhalb der Jungwähler bei der gerade durchgeführten Europawahl ließen mich erschrocken aufhorchen und veranlaßten mich, einen Beitrag der Tagesschau hinsichtlich dieser Altersgruppe in meiner privaten Storyline zu reposten. Eine Kollegin schrieb mir hierauf: „So schrecklich. Das sind unsere AnwärterInnen.“

Sie hat recht. Es sind diejenigen, die wir Lehrerinnen und Lehrer, Dozentinnen und Dozenten gegenwärtig in den unterschiedlichen Schultypen und Universitäten Deutschlands unterrichten. Die ab sechzehn wählen dürfen. Es ist auch die Generation, die gerade in meinem eigenen Haushalt aufwächst. Viele Diskussionen entbrannten in den Tagen vor der Europawahl am heimischen Essenstisch. Besonders erstaunlich war für mich, dass sich in ihren Worten eine gewisse Ratlosigkeit, Skepsis und Angst breit machte, die ich meinen eigenen Kindern und dieser heranwachsenden Generation nicht wünsche. Vielmehr würde ich ihnen gerne einen Zukunftsoptimismus zusprechen, mit dem meine Generation aufwachsen durfte: einem Europa, dessen Grenzen sich öffneten; einer Vernetzung über Länder hinweg, die neue Möglichkeiten und Freiheiten schaffen würde. Aber wir müssen uns dem stellen, dass dieser Optimismus im Nachgang der Pandemie, mit den vielen Kriegen, kriegerischen Auseinandersetzungen und wirtschaftlichen Herausforderungen einem Zögern, bei manchen sogar einem Zukunftspessimismus gewichen ist.

Dies hat selbstverständlich Auswirkungen auf die politische Struktur von Ländern. Und diese emotionale „Großwetterlage“ hat nicht nur die junge Generation erfasst, sondern reicht weit darüber hinaus.

Gemeinsam mit den Sechzehnjährigen hat ganz Europa gewählt. In Deutschland war es mit 64,8 % die höchste Wahlbeteiligung seit der Wiedervereinigung. Eine durchaus stattliche Zahl, die erfreuen sollte. Interessant aber wird es, wenn man sich das Wahlverhalten genauer ansieht. Hierbei interessieren vor allem aufgrund der deutschen Geschichte die Ergebnisse im Bereich der rechtsgerichteten Parteien – im Fall Deutschlands der AfD. Während viele Nachrichtenportale und Printmedien die Erstwählerinnen und -wähler hervorheben, sollten wir etwas vorsichtiger sein, denn die Klimax besteht vor allem bei denen, die mit 35-44 Jahren mitten im Leben stehen. Die Stimmanteile fallen erst wieder im Alterssegment 70 und älter.

Was also treibt alle diese Personen in die Arme einer rechtsgerichteten Partei? Eine Frage, die wir uns alle stellen sollten. Erst recht diejenigen unter uns, die in Bildung verortet sind. Mag dies eine Schule, eine andere Bildungsstätte oder eine religiöse Einrichtung sein. An allen Orten, an denen Bildung geschieht, sollten wir miteinander dringend ins Gespräch kommen, was uns Angst macht, um uns dieser zu stellen und gemeinsam gangbare Wege zu finden. Denn nichts geringeres als unsere Demokratie steht hier auf dem Spiel. Eine Demokratie, die aus der Katastrophe des zweiten Weltkrieges, seinen Morden und Unrecht als Gegenmodell entstanden ist, die eine gerechtere Welt zum Zentrum hat.

Für mich ist der Ort, an dem Ängste ausgesprochen werden dürfen und Bildung stattfindet, gegenwärtig der berufsethische Unterricht in der Bundespolizei. Bei Ihnen mag es ein ganz anderer Ort sein. Wie wir den Zahlen der Europawahl entnehmen können, müssen solche Austausch- und Bildungsmöglichkeiten für alle Altersgruppen geschaffen werden.

Ich stelle im folgenden vier Bücher vor, die für einen solchen Austausch durchaus von Vorteil sein können. Für mich sind diese die Grundlage eines Unterrichtsmoduls, das ich gegenwärtig für ein Seminar des Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrums erstelle. Neben einer grundsätzlichen Information über Rechtsextremismus und Angst, wird es den Bogen von Alltag hin zu rechtsextremen Hass und der eigenen Verantwortung beschreiten. Im Dialog sollte hierauf folgend Wege der Hoffnung gemeinsam gesucht und beschritten werden.

Den Anfang macht ein Buch, das hilft, die Ängste zu verstehen, die uns alle erfassen können und auf denen Rechtsextremismus ein Einfallstor in die Gedanken und Herzen von Menschen findet.

„Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln“ (Berlin 2023) von Peter R. Neumann

Das Buch von Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, gibt einen hilfreichen Überblick über die einflussreichsten Denker und Werke rechtsextremer Strömungen. Auf übersichtlichen 166 Seiten klärt der Autor in leicht verständlicher Sprache über die Geschichte des Rechtsextremismus und seine aktuellen Erscheinungsformen auf. Das Buch gibt keine konkreten Handlungsanweisungen, kann aber als Verständnisgrundlage für Ängste dienen, die Menschen in die Arme rechtsextremer Parteien treibt.

Aufbauend auf diesem empfiehlt sich als Einstieg in das Thema eine Perspektive, die vom Alltäglichen her sich entfaltet und Personen in ihrem Alltag, aber auch dem Befremdlichen einer Zeit abholt, in der Rechtsextremismus gesellschaftlich etabliert war.

„Und morgen gibt es Hitlerwetter! Alltägliches und kurioses aus dem Dritten Reich“ (Frankfurt am Main 2006) von Hans-Jörg und Gisela Wohlfromm

Wer kennt ihn nicht, den olympischen Fackellauf? Oder die „Goldene Kamera“, die jedes Jahr in Deutschland verliehen wird? Oder den Eintopf, der ab und an seinen Weg auf den Essenstisch zur Freude der Erwachsenen oder zum Leid so manchen Kindes findet?

Alle genannten haben ihre Wurzeln und ihre Entstehung im Nationalsozialismus.

Um Geschichte verstehen zu können und mit der eigenen Lebensumgebung vergleichen zu können, lohnt sich ein Blick in den Alltag des Dritten Reiches. Das Buch greift einiges Bekannte, aber noch mehr Unbekanntes auf und schafft dadurch eine notwendige Brücke und Diskussionsgrundlage.

Mit dem hierdurch eröffneten Problemhorizont kann man dann einen mutigen Schritt zu dem wohl destruktivsten Buch der Weltgeschichte wagen, um es zu entzaubern und vor seinen dort niedergeschriebenen Ideen und Konzepten zu warnen.

„Mein Kampf. Die Karriere eines deutschen Buches“ (Stuttgart 2015) von Sven Felix Kellerhoff

Dieses sollte in Kombination mit der wissenschaftlichen Ausgabe des „Originals“ besprochen werden:

„Hitler, Mein Kampf: Eine kritische Edition“ (München – Berlin 2020)

Sven Kellerhoff gelingt mit seinem Buch ein wichtiger Einblick in die bekannteste Hetzschrift der Welt und des meistverkauften deutschen Buches aller Zeiten. Die Wirkung dieses Buches hatte im Nationalsozialismus verheerende tödliche Folgen, die bis heute nicht nur nachwirken, sondern neue Nachfolge und Nachahmungen finden.

Das Buch gibt Einblicke in die Entstehung der Hetzschrift Hitlers, die ein tödliches Lügenkonstrukt hervor schälen, das viele und bis zum heutigen Tage Rechtsextreme inspirieren. Hitler wird hierin als Verfälscher seiner eigenen Biografie und als korrupter Steuerhinterzieher entlarvt. Ein entzauberndes, wichtiges Buch, das vor solchen und anderen mörderischen Menschen und deren Ideologien warnt.

Einige von vielen Büchern, die im Nachgang der Europawahl helfen können, sich der immer deutlicher werdenden Angst zu stellen und gemeinsam auf die Suche nach demokratischen Wegen zu machen.

Lest gegen Hass! Mit euren Schülerinnen und Schülern. Mit euren Kolleginnen und Kollegen. In Familien und Freundeskreisen.

Gebt Menschen die Möglichkeit, die sie bewegende Angst auszusprechen, aber daraufhin umso mehr einer Hoffnung, die in schweren Zeiten bessere Wege der Demokratie weisen kann. Damit statt Hass in den Herzen und Gedanken der euch Anvertrauten nicht auf fruchtbaren Boden falle.

Von biblischen Sprüchen, dem Umgang mit anderen und wichtigen Prägungen

Predigt zur Vereidigung des 80. Studienjahrgangs am 6. Oktober 2023

Was gibt man jungen Kolleginnen und Kollegen mit auf den Ausbildungs- und Studienweg, wenn sie mit dem Eid den wichtigsten Schwur ihres Berufslebens sprechen? Als Pfarrerin beschäftigt mich diese Frage mal um mal. Es ist eine große Verantwortung, denn ich erinnere mich noch sehr genau an meine eigene Ordination, an dessen Wortlaut und die Predigt des zuständigen Oberkirchenrates Herrn Völkel. Daher hoffe ich, dass die Worte meiner Predigt sie auf ihrem beruflichen Weg stärken, begleiten und vielleicht auch herausfordern.

Für den 80. Studienjahrgang habe ich einen besonderen biblischen Vers ausgewählt, der den Umgang mit anderen und wichtige Prägungen in den Blick nimmt:

Anbei der Wortlaut meiner Predigt – hierbei sei darauf hingewiesen, dass das gesprochene Wort gilt:

Vor wenigen Wochen durften wir Sie, liebe Polizeikommisarsanwärterinnen und -anwärter, in Bamberg begrüßen. Für viele war es so, als ob sich ein neues Universum öffnete und sie sich in einer neuen Welt und einem anderen Kontext befanden.

Vielleicht hat Sie auch ein kleines Star Wars-ähnliches Gefühl ereilt, frei nach dem Motto:

[Vor langer Zeit] in einer Galaxie, weit, weit entfernt…

Weit entfernt von dem, wie Ihr Leben vorher strukturiert war. Mit den Notwendigkeiten, bürokratischen Erfordernissen, aber auch den Vorzügen einer großen Sicherheitsbehörde.

Sie tauchen nun Stück für Stück in die dienstliche Welt der Bundespolizei ein, die Sie auf einen wichtigen und essentiellen Beruf vorbereiten wird, damit Demokratie und Menschenwürde geschützt und gestärkt werden.

Der wichtigste Bestandteil Ihrer Studienzeit stellen all diejenigen da, die Ihnen helfen in dieser Galaxie Bundespolizei zu wachsen, geformt und geschliffen zu werden – ob Lehr-, Stamm- oder Rahmenpersonal – viele Lehrmeisterinnen und Lehrmeister werden für Sie da sein und sie begleiten.

Durch das Zusammentreffen und den Umgang mit unterschiedlichsten Personen werden Sie einen besonderen Schliff erhalten, der Sie befähigen wird, diesen verantwortungsvollen Beruf durchzuführen.

Nicht umsonst heißt es im Buch der Sprüche 27,17:

Eisen wird mit Eisen geschärft, und ein Mensch bekommt seinen Schliff durch Umgang mit anderen.

Die Beziehung zu Personen, von denen wir lernen und durch die wir wachsen können, ist ein elementarer Bestandteil jeder Ausbildung, jedes Studiums und jeder weiteren Fortbildung.

In der neuen Disney Plus Star Wars-Serie „Ahsoka“, deren 8. und erst einmal letzte Folge vorgestern veröffentlicht wurde – vielleicht hat der eine oder die andere sie ebenso am Mittwoch angesehen- , wird die Beziehung zwischen der Lehrmeisterin „Ahsoka“ und ihrem Padawan bzw. Lehrling Sabine zum eigentlichen Mittelpunkt eines Geschehens, das sich rund um die junge Republik im Star Wars-Universum dreht und den Gefahren eines wiedererstarkenden, bösen Imperiums, gegen das es sich zu wehren gilt.

Während erstere demokratische Werte vertritt und die Würde jedes Lebewesens hochhält, ist das dunkle Imperium an Macht und Gewinn, aber wenig an einem Recht Einzelner orientiert.

Die beiden Hauptfiguren machen mitten in dieser Auseinandersetzung von Demokratie und Diktatur transparent, wie wichtig das Vertrauen zu anderen ist. Ob romantischer, freundschaftlicher, familiärer oder disziplinierender Natur – die Suche nach einer authentischen Beziehung zu einer anderen Person erfordert Mut und Vertrauen.

Lehrmeisterin Ahsoka aber tut sich aufgrund ihrer vorhergehenden Erfahrungen schwer, solchen Mut und solches Vertrauen anderen gegenüber aufzubringen. Viel lieber gibt sie ihr Schicksal in die Hände des Droiden Huyang als einem Repräsentaten künstilicher Intelligenz. Manchmal frage ich mich, ob auch wir mehr technischen Mitteln – einem Computer, einem Smartphone oder unserer Digitaluhr – näherstehen, als Menschen aus Fleisch und Blut.

Der biblische Vers soll uns Mahnung und Anspruch zugleich sein, denn er nimmt zwar das Bild eines technischen Mittels, nämlich des Eisens auf, überträgt aber das Geformt- und Geprägt-Werden auf den menschlichen Umgang mit anderen.

Die Star Wars-Serie zeigt durch Ahsoka eine Person, die hadert, sich auf andere zu verlassen. Nur zögerlich lässt sie ihre ehemalige mandalorianische Padawan Sabine aufgrund einer strategischen Notwendigkeit wieder in ihr Leben.

Dabei heißt es:

Eisen wird mit Eisen geschärft, und ein Mensch bekommt seinen Schliff durch Umgang mit anderen.

Ahsoka und Sabine sind beide auf ihre Art eisern und gleichzeitig fällt es ihnen schwer, sich gegenseitig zu schärfen. Erst als Ahsoka beschließt, Sabine zu vertrauen und sie zusammenarbeiten, wachsen sie jeweils auf eine unterschiedliche Art und Weise. Und doch weigern sie sich an vielen Stellen, sich voll und ganz auf eine solche Teamarbeit einzulassen, und entscheiden sich gelegentlich immer noch dafür, Herausforderungen allein anzunehmen.

Das erinnert mich an Worte Jesu in Johannes 15, wo Jesus die Metapher des Weinstocks und der Reben verwendet, und sagt, dass „keine Rebe aus sich selbst Frucht bringen kann“. Wir stehen nie im luftleeren Raum, sondern sind in soziale Systeme, dienstliche Institutionen und Organisationen eingeflochten.

Das Prinzip einer tiefverbundenen Gemeinschaft und dessen Notwendigkeit ist auch Ihr Studieren und Ihren Dienst in der Bundespolizei von essentieller Wichtigkeit.

Oder anders ausgedrückt: Wenn wir versuchen, ein Leben in Selbstgenügsamkeit und Isolation wie Ahsoka zu führen, machen wir uns anfällig für eine Vielzahl von Fallstricken, die wir hätten vermeiden können, wenn wir jemanden gehabt hätten, auf den wir uns stützen könnten.

Erst am Anfang dieser Woche hat eine Studiengruppe aus Ihrem Jahrgang im berufsethischen Unterricht davon erzählt, dass sie eine starke Dienstgemeinschaft durch das Studium hindurch und darüber hinaus sein möchte, die sich stützt und trägt, aber auch an der einen oder anderen Stelle ermahnt und eventuell korrigiert.

Ein praktischer Ausdruck des heutigen Bibelverses:

Eisen wird mit Eisen geschärft, und ein Mensch bekommt seinen Schliff durch Umgang mit anderen.

Möge Gott Sie auf dem Weg Ihres Studiums begleiten und möge Er Ihnen Menschen auf diesem Weg schenken, durch deren Umgang Sie den nötigen Schliff und Prägung für Ihren Dienst in der Bundespolizei erhalten.

Amen.

Predigt anlässlich der Vereidigung des 80. Studienjahrgangs am 6. Okt 2023

Von Wanderungen, geschwollenen Füßen und prägenden Erfahrungen

Mein Blick schweifte über das spektakuläre Panorama, das sich vor mir ausbreitete, während ich meine geschwollenen, heißen Füße von mir streckte, die in den von trockenem Staub überzogenen Dienststiefeln steckten. Die Aussicht, die der Staffelberg in das Maintal und das Coburger Land schenkte, war eine wunderbare Belohnung für einen stundenlangen Marsch, der viele von uns an die Grenzen der Leistungsfähigkeit geführt hatte. Im ersten Ausbildungsjahr durchlaufen angehende Polizistinnen und Polizisten begleitet durch ein engagiertes Lehrpersonal mehrere Außenausbildungen – der Orientierungsmarsch ist hierbei der anstrengendste Abschnitt.

Mich erfüllte an diesem heißen Sommernachmittag tiefe Dankbarkeit und erinnerte mich an eine Bibelstelle, die eine solche zum Mittelpunkt ihrer Gedanken hat. Hierbei reflektiert ein unbekannter Autor die Geschichte Israels, deren Wüstenwanderung und die Überwindung dieser schweren Herausforderung in dankbaren Worten der erfahrenen Bewahrung. Mit etwas Amüsement stellte ich fest, dass die Israeliten laut Bibel selbst nach vierzig Jahren keine geschwollenen Füße hatten. Meine Füße hingegen fühlten sich an wie in einer viel zu heißen Sauna, pochten und schmerzten trotz einer durchaus weniger weiten Distanz als das Volk Israel durchlaufen hatte.

Deine Kleider sind nicht zerrissen an dir, und deine Füße sind nicht geschwollen diese vierzig Jahre.

Dtn 8,4

Als Mittvierzigerin und Seminarälteste hatte mich dieser Orientierungsmarsch zugegebener Maßen an das Maximum meiner physischen Leistungsfähigkeit gebracht. An jedem beruflichen Ort, an den ich berufen wurde, ist es mein Anspruch, mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzer Kraft und ganzem Verstand präsent zu sein. Das galt für jeden beruflichen Abschnitt- ob Land-, Insel-, Großstadt-, EKD-Auslandspfarrerin oder Polizeiseelsorgerin. Die geschwollenen Füße nebst anderem kleinen „Souvenir“ nahm ich dabei gern in Kauf, denn es ist meine Aufgabe, meine Nächsten in deren Lebens- und Arbeitsumfeld zu begleiten. Nahe bei den Menschen zu sein, die uns Gott anvertraut hat, ist aus meiner Sicht die Aufgabe von Gottes „Bodenpersonal“.

An diesem heißen Sommertag, an dem wir Temperaturen bis 32C hatten und meine Uhr am Ende von unserer Wanderung 34,4 km anzeigte, war ich die Beschenkte. Denn ich durfte miterleben, wie eine Lehrgruppe weiter zusammenwuchs, einander in schweren Phasen der Wanderung unterstützte und auch ich als Teil ihrer Gruppe in meinem persönlichen Tiefpunkt vom Seminarleiter und Auszubildenden gestützt wurde.

Die Gruppe angehender Polizistinnen und Polizisten durchzog das tiefe Tal einer herausfordernden Wanderung in imponierender Weise und ging von einer Kraft zur anderen bis sie endlich gemeinsam mit uns als Lehrpersonal den spektakulären Staffelberg erklommen hatte. Und vielleicht war es ja für den einen oder die andere wie für mich eine spirituelle Erfahrung, die Gemeinschaft, Umgang mit Grenzen, tiefen Leistungstälern und Kraftorten miteinander verband.

Psalm 84 bettet dies in wunderbare Glaubensworte, die ich auch meinen Auszubildenden von ganzem Herzen wünsche:

Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten
und von Herzen dir nachwandeln!
Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, /
wird es ihnen zum Quellgrund,
und Frühregen hüllt es in Segen.
Sie gehen von einer Kraft zur andern
und schauen den wahren Gott in Zion.

Psalm 84,6-8

Von Kühlschrankmagneten, Berufung und Polizeiseelsorge

Das große Snoopy-Bild war schon etwas in die Jahre gekommen und wurde durch vier sehr unterschiedliche Magnete an unserer Kühlschranktür festgehalten. Fast täglich rückte ich den einen oder anderen bunten Magneten zurecht, damit das lieb gewonnene Bild beim hastigen Öffnen und Schließen der Türe nicht davon flatterte.

Heute aber hatte ich dank eines stillen Sonntages etwas Zeit und strich leise über die vier sehr unterschiedlichen Alltagshelfer, die für verschiedene Lebensstationen standen:

das kleine Flugzeug erinnerte mich an die Tätigkeit als Flugbegleiterin bei JAL während des kirchlichen Praxisjahres, der Orkney-Magnet stand stellvertretend für meine erste Auslandsverwendung als junge Pfarrerin, das etwas abgenutzte Einsatzauto der NYPD war ein Symbol für meine zurückliegende Tätigkeit bei der New Yorker Polizei, und das dunkle Quadrat hingegen stand für meine gegenwärtige Berufung als Seelsorgerin bei der Bundespolizei.

„Manchmal sieht man erst im Nachhinein, welche Wege Gott für uns schon vor langem geplant hat,“ sagte eine Person vor einigen Tagen zu mir als ich mich zugegebener Maßen niedergeschlagen zu einem Gespräch eingefunden hatte.

Ob Flieger, Insel, Megametropole oder polizeiliches Aus- und -fortbildungszentrum – ich war stets an eines gebunden: an eine Berufung, die mich mit Leib und Seele dort hat tätig sein lassen, wo Gott mich hin sandte. Ich war mir schon immer schmerzlich bewusst gewesen, dass ich weder aus einer Akademikerfamilie stamme, noch mächtige oder reiche Personen meinen Stammbaum schmücken. Eine Identität, die ich mit den meisten der über 8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten teile. Die Alltäglichkeit meines Hintergrundes hat mir in meiner eigenen Biografie schon manche Stolperfalle gestellt oder sagen wir es so: lies manche Türen für andere aufgehen, die für mich fest verschlossen waren. Die Bibel aber hat mir schließlich einen Trost geschenkt und das Bild in manchem zurecht gerückt. Gottes Wort geht oftmals andere Wege als unser menschlicher Verstand dies vielleicht annehmen würde. Im ersten Brief weist Paulus die Korinther darauf hin, dass eine Berufung oft im Schwachen und Geringen zu finden ist:

Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und was gering ist vor der Welt und was verachtet ist, das hat Gott erwählt, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme. Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde durch Gott und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, auf dass gilt, wie geschrieben steht (Jeremia 9,22-23): »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!«

1. Kor 1,26-31

Was in der Lutherübersetzung als „töricht“ wiedergegeben ist, kann ebenso als „absurd“ übersetzt werden. Aber irgendwie trifft ja beides in meiner eigenen Biografie zu, die ungewöhnliche, manchmal unvernünftige Pfade jenseits einer durchschnittlichen Pfarramtslaufbahn einschlug. Und im Nachhinein fange ich an, die weisen Worten meines letztwöchigen Gesprächspartners in meinem von außen betrachteten etwas töricht erscheinenden oder vielleicht für eine Theologin und Pfarrerin absurd wirkenden Lebenslauf zu entdecken. Gott rief mich stets an besondere Orte. In manchem kann ich gegenwärtig durchaus entdecken, wie diese Stationen mich auf meine gegenwärtige Tätigkeit als Polizeiseelsorgerin am größten polizeilichen Aus- und -fortbildungszentrums vorbereitet haben bzw. mir dabei nun helfen.

Als Flugbegleiterin bereiste ich in jungen Jahren die Welt während ich Deutsch, Englisch und Japanisch geordnet nebeneinander, manchmal nach biblisch-babylonischem Verwirrungsprinzip durcheinander jonglierte, um tausende Menschen über Grenzen hinweg auf ihrer Reise zu begleiten.

In dieser Zeit hatte ich vielfache Berührungspunkte mit Polizeivollzugsbeamten. Nicht nur in Deutschland, sondern international. Das betraf nicht nur die Ein- und Ausreise, sondern auch Grenzsituationen, in denen ich dankbar war um die geleistete polizeiliche Hilfe. Besonders eindrücklich erinnere ich mich an einen Randalierer an Board, der nach vielen angespannten Flugstunden von Frankfurt nach Tokyo nach der Landung von der japanischen Polizei in Gewahrsam genommen wurde.

Während meiner Zeit als Pfarrerin auf einer schottischen Insel war es die Unterstützung der örtlichen, aber auch der neuseeländischen Polizei, die mir bei der Begleitung einer traumatisierten Familie eine große Hilfe war. Es waren tiefgreifende pastorale Erfahrungen, die ohne die Hilfe der Polizeien in Schottland und Neuseeland nie zu einer gelingenden Begleitung in solch einer schweren Situation geführt hätten.

Und dann war da meine New Yorker Zeit. Was erst als ein kleines Projekt ehrenamtlich mit Einladungen zu Feierlichkeiten wie Beförderungen, Sommerprogrammen und Gemeindeversammlungen begann, wuchs zu einem wichtigen Bestandteil meiner Tätigkeit als Pfarrerin am Big Apple heran. Die Nachbegleitung von belastenden Einsätzen, der schwere Einsatz während des Corona-Ausbruchs, die massiven Demonstrationen aufgrund der Ermordung von George Floyd bereiteten mich unauffällig, aber stetig wachsend auf die nächste Berufung vor.

Inzwischen bin ich zweieinhalb Jahre als hauptamtliche Seelsorgerin innerhalb der Bundespolizei tätig. Nicht selten fühle ich mich töricht. Manchmal sogar in meinem Dasein etwas absurd, da ich in diesem polizeilichen Kontext so anders bin als die mich umgebenden Polizeivollzugsbeamten. Ich habe noch keinen Coopertest gelaufen, keinen physischen Widerstand erlebt, keine Waffe gehalten, oder anderes typisch Polizeiliches in Deutschland durchlebt. Aber manchmal geht Berufung eben gerade einen anderen Weg, wie wir im biblischen Text hören: Gott wählt das Törichte, das Schwache, das Geringe, um seine Botschaft in die Welt zu tragen. Möge das uns allem zum Trost sein, wenn wir unter Umständen weder in einer hierarchisch machtvollen Position sind, noch einflussreich und oder monetär gut situiert. Dann bleibt uns darauf zu vertrauen, dass Gott trotzdem oder sogar gerade durch unser marginales Sein in diese Welt hinein spricht und uns auf unserem Lebensweg Schritt um Schritt formt zu dem, wofür er uns bestimmt hat.

Von unterschiedlichen Ausbildungen und wichtigen Erfahrungen für die Arbeit einer Polizeiseelsorgerin

Mit etwas Wehmut schaltete ich den Fernseher aus und tauchte gedanklich aus der ferne Japans in unserem Bamberger Wohnzimmer auf. Neun Folgen lang hatte ich zwei japanische Auszubildende in deren Lehrjahr in Kyoto begleitet. Die japanische Serie in Originalsprache hatte mich mitten in Oberfranken in eine ferne Welt mitgenommen und dabei alte Erinnerungen wachwerden lassen. Sprache, Gepflogenheiten, Kultur und so manche japanische Tradition war mir nach all der Zeit immer noch ungewöhnlich vertraut.

Weil das „Praxisjahr der Theologiestudierenden“ mindestens ein Jahr berufliche Tätigkeit außerhalb kirchlicher Strukturen erforderte, hatte ich als Zwanzigjährige eine Ausbildung zur Flugbegleiterin bei Japan Airlines (JAL) durchlaufen, um eineinhalb Jahre über den Wolken zu arbeiten. Nach einer Ausbildung am Frankfurter Flughafen, schloß sich ein achtwöchiger Aufenthalt in Tokyo an. Dies war der Anfang eines Eintauchens in die fernöstliche Kultur Japans – eine für mich zur damaligen Zeit durchaus fremde Welt.

Die Ausbildung und Tätigkeit als Flugbegleiterin war eine Lernerfahrung, die damals für mich gut war, aber zugegeben lange Zeit nicht direkt für meine berufliche Tätigkeit als Pfarrerin und Seelsorgerin fruchtbar gemacht werden konnte. Dies kam viele Jahre später mit meinem Wechsel zur Bundespolizei.

Noch heute erinnere ich mich an die Worte eines Loses, das ich damals bei einem Tempel gezogen hatte. Auf ihm war unter anderem zu lesen: „Even if you are righteous and have a chance to be successful, nothing can be achieved unless you work hard.“ oder in Deutsch: „Selbst wenn Sie rechtschaffen sind und eine Chance haben, erfolgreich zu sein, können Sie nichts erreichen, wenn Sie nicht hart arbeiten.“

Dieser Satz hat mich immer wieder an Lebensstationen begleitet. Das Engagement um Gerechtigkeit ist für mich als Pfarrerin ein wichtiger Aspekt meiner Berufung. Und gleichzeitig bin ich mir sehr bewusst, dass ich viele wunderbare Bildungs- und Berufs-Chancen geschenkt bekommen habe, die aber nur durch harte Arbeit wirklich erreichbar waren.

Meine jungen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter erhalten ebenso die einmalige Chance, einen der wohl spannendsten, aber auch verantwortlichsten Berufe erlernen zu dürfen. Das Streben um Recht stellt hierbei einen wichtigen Aspekt dar. Das Erlernen dieses Berufes kommt jedoch mit großen Herausforderungen – daher wird von ihnen harte Arbeit gefordert, manchmal bis zur Erschöpfung.

„Even if you are righteous and have a chance to be successful, nothing can be achieved unless you work hard.“

No. 87 The Best Fortune, Temple in Asakusa

Auch das kenne ich aus meiner Ausbildungszeit bei JAL. Ein normaler Ausbildungstag lief so ab:

4:00 Uhr Aufstehen

Mindestens zweieinhalb Stunden Fahrt zur Ausbildungsstätte quer durch Tokyo

6:30 / 7 Uhr Frühstück an der Ausbildungsstätte

7:30 Uhr Dienstbeginn und Unterricht

17 Uhr Unterrichtende und Heimfahrt

Mindestens zweieinhalb Stunden Fahrt zum Wohnheim quer durch Tokyo

19 Uhr Abendessen

ca. 20 Uhr Lernen

Gnadenlos wurden wir eingegliedert in ein japanisches Bildungssystem, denn schließlich würden wir bald als Deutsche in einer japanischen Fluggesellschaft arbeiten. Zumeist allein oder zu zweit in einer japanischen Crew. Für uns angehende Flugbegleiterinnen war es ein wahrer Kulturschock. Ich begegnete dem Ganzen mit viel Neugier und einer guten Portion Willenskraft, die beste Leistung abzulegen und mich in dieses System einfinden.

Es waren anstrengende Ausbildungstage, die früh begannen. Ich kann meine Polizeischülerinnen und -schüler gut verstehen, deren Dienst täglich um 6.55 Uhr beginnt und gegen 16:30 / 45 Uhr endet. Auch sie tauchen in eine unbekannte Kultur ein. Hierarchie, Disziplin, Ambitioniertheit und Engagement sind elementar, um diese Ausbildung erfolgreich zu durchlaufen.

„Even if you are righteous and have a chance to be successful, nothing can be achieved unless you work hard.“

No. 87 The Best Fortune, Temple in Asakusa

In der letzten Dienstwoche durfte ich eine Lehrklasse bei einer sogenannten „Alarmübung“ begleiten. Das hieß für die jungen Polizeischülerinnen und -schüler um 2:30 Uhr geweckt zu werden und dann in ihrer Lehrklasse von einem Punkt aus wieder an den Ausbildungsort zurückzufinden. Selbstverständlich mit dem jeweiligen Lehrgruppenleiter und mir sowie einem engagierten Team, das im Hintergrund alle notwendigen Vorkommnisse, Regelungen und Fahrten organisiert. Genau bedeutet das: 15 Kilometer durch die Dunkelheit. Dies erfordert Wissen, Teamgeist und Motivation.

Durchhaltevermögen und harte, engagierte Arbeit sind essentiell für den Beruf eines Polizisten und einer Polizistin. Wer hätte gedacht, dass ich aus den damals bei Japan Airlines gemachten Erfahrungen so viele Analogien für die Ausbildung meiner Schülerinnen und Schüler ziehen würde! Und ganz nebenbei einige interessante Erfahrungen in den Unterricht einfließen lassen könnte – ob Randalierer an Board, Herzstillstand oder Notfallausbildung für Land- und Wasserlandung. Für mich mehr als nur unterhaltsame Erfahrungen, denn sie erzählen von dem Unerwarteten, den Überraschungen und Notfällen, die über sie hereinbrechen können. Sie darauf wenigstens ein bisschen vorbereiten zu können, gibt meinen eigenen Erfahrungen mehr Tiefe.

„Even if you are righteous and have a chance to be successful, nothing can be achieved unless you work hard.“

No. 87 The Best Fortune, Temple in Asakusa

Ich gab mir einen Ruck, legte die Fernbedienung auf den Sofasessel und ging in die Küche, um etwas Sushi zuzubereiten. So konnte meine Familie einen kleinen Geschmack von Japan erhalten und meine Sehnsucht nach einem fernen und doch so nahen Ort etwas stillen, um dann am nächsten Tag wieder vor meine Lehrklassen zu treten.

Aus der Sicht einer Polizeiseelsorgerin: Von Protesten, Gleichaltrigen und dem Wunsch nach Menschlichkeit

Ich schüttelte die neueste Ausgabe der Zeit mit einem routinierten Ziehen zurecht, um die voluminösen Seiten gerade zu ziehen. Dann versank ich wieder in der neuesten Ausgabe der ZEIT. Doch kaum hatte ich die erste Seite umgeblättert, drängten abrupt die großen Baggerschaufeln des Kohleabbaus am Dorf Lützerath und die Geschehnisse rund um das gegenwärtig zu räumende Dorf in die Stille meines Wohnzimmers. Nachdenklich folgte ich den Worten der Autorin, die einen jungen 17-jährigen Klimaaktivisten mit dem Decknamen Taco und dessen Familie begleitet hatte und nun davon berichtete. Ihre Worte waren einfühlsam und ausgewogen. Immer wieder blieb ich im Text an dem Alter des jungen Mannes hängen, das dem vieler Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern entsprach, die ich in meiner Lehrtätigkeit begleiten durfte.

Die Worte des letzten Absatzes gingen mir nicht aus dem Kopf:

[…] Taco hat sich entschieden: Er will bleiben, die Räumung in Lützerath abwarten. Sollte die Polizei ihn vom Gelände tragen werde er sich nicht wehren. […]

Her mit der Kohle. Vermummte werfen Steine, Väter besorgen ihren Söhnen Gummistiefel fürs Demonstrieren. Wie gewaltbereit ist der Protest in Lützerath, von Laura Cwiertnia, aus: DIE ZEIT Nº 3, 12. Januar 2023

Immer und immer wieder las ich sie. Fiktive, aber durchaus realistische Gedanken gingen mir durch den Kopf. Was, wenn sie aufeinandertreffen würden? Ein siebzehnjähriger Klimaaktivist und ein siebzehnjähriger Polizeischüler? Im zweiten Lehrjahr durchlaufen die Auszubildenden verschiedene Praktika und kommen dort, um in ihre Tätigkeit hineinzuwachsen, mit Bürgerinnen und Bürgern in sehr unterschiedlichen Situationen und an verschiedenen Orten Kontakt.

Wie viel Verständnis würde auf beiden Seiten wachsen, wenn sie einander jenseits eines Konfliktes begegnen würden? Wenn sie im jeweils anderen die Menschlichkeit entdecken dürften?

Es ist ein unglaubliches Spannungsfeld, in das diejenigen, die ich in der polizeilichen Ausbildung begleiten darf, hineinwachsen müssen. Oft sehen sie bereits in jungen Jahren Dinge, die andere Erwachsene selten bis nie sehen werden. Gewalt hinterlässt Spuren. Eine Uniform mag vor dem Schlimmsten einen relativen Schutz bieten, aber die Spuren in der Seele kann auch eine Körperschutzausstattung nicht verhindern.

Was wäre, wenn man mehr Begegnungsfläche für beide Seiten schenken könnte? Wenn junge Klimaktivistinnen und -aktivisten mit jungen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern zu Gesprächen und einem Kennenlernen der jeweils anderen Seite zusammen kämen? Vielleicht würden sie ja viel Gemeinsames entdecken. Oder in so mancher schwieriger Situation diese Erfahrung dabei helfen, dass es zu keinen massiven, gewaltbereiten Auseinandersetzungen kommen würde.

Wünschen würde ich es Taco und meinen Polizeischülerinnen und -schülern, denn als Seelsorgerin habe ich Angst. Um beide. Nicht umsonst fragt sich die Autorin ohne eine Seite im Untertitel genau zu benennen:

Wie gewaltbereit ist der Protest in Lützerath?

Als Pfarrerin kann ich jenseits jeglicher politischer Diskussion um Lützerath für die involvierten Personen nur hoffen, dass die durch die Politik angeordnete Räumung des Dorfes und das dadurch ausgelöste Demonstrationsgeschehen so friedlich wie nur irgendmöglich bleibt. Zum Wohle aller.

Ich seufzte tief und schlug die Zeitung mit einem energischen Ruck zu. Die nächsten Tage würden zeigen, ob es überwiegend friedlich bleiben würde.