Die Kinder aus Korntal – von einem bewegenden Film und schockierenden Metaphern

Die Tankanzeige in meinem Auto leuchtete mit einem großen Tanksymbol in schrillem Gelb auf. Also steuerte ich auf meinem Weg zum Einkauf die nächste Tankstelle an, öffnete die Abdeckung des Tankdeckel und starrte auf den Schlauch, der unablässig Kraftstoff in mein Auto pumpte.

Plötzlich war alles wieder präsent. Der Abend im kleinen Münchner Kino „Monopol“ hatte mich zutiefst bewegt, denn dort wurde ein Film präsentiert, der sexualisierte Gewalt und unvorstellbares Leid dokumentierte: „Die Kinder aus Korntal“. Diese Geschehnisse waren unter dem Dach einer kirchlichen Gemeinschaft verbrochen worden und über Jahrzehnte verdeckt und verschwiegen worden.

„Ehemalige Heimkinder haben einen leeren Tank.“

Ehemaliger Pastor der Brüdergemeinde

So hatte es der ehemalige Pastor der Korntaler Brüdergemeinde vor laufender Kamera gesagt. Mir wurde schlecht, während mir der Benzingeruch an der Tankstelle in die Nase stieg. Sie hätten im Leben keine Chance und würden nichts mehr erreichen. Wie konnte ein Geistlicher, ein ordinierter Kollege solche Worte äußern, geschweige denn denken?

Korntal ist eine beschauliche Kleinstadt in Baden-Württemberg. Qua „Heilig“ hieß es im Film. Aber ab den 1950er Jahren wurden in den Heimen der pietistischen Brüdergemeinde hunderte von Kindern missbraucht. Sie wurden ausgebeutet, geschlagen und mussten sexualisierte Gewalt erleben. Detlev Zander nahm allen Mut zusammen und brach zusammen mit mehr als 150 ehemaligen Heimkindern sein Schweigen. Über 80 Täter und Täterinnen konnten festgestellt werden. Es ist der größte Missbrauchsskandal in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Der Film von Julia Charakter gibt sechs Betroffenen Raum, ihre Geschichten zu erzählen und zu sagen, was der Aufklärungsbericht ihrer Meinung nach verschweigt. Er zeigt schonungslos Perspektiven und Meinungen auf – auch in schmerzlich-direkter Weise die derer, die Teil der Glaubensgemeinschaft sind.

Heiße Tränen liefen an meinen Wangen herab, während ich versuchte, die harten, unbarmherzigen Worte des Pastors irgendwie zu verarbeiten. Waren diese Personen nicht in die Obhut ihrer Glaubensgemeinschaft gekommen, damit „ihr Tank“ wieder aufgefüllt werden würde? In großen Lettern stand schließlich an einem ihrer Gebäude: „Kommet her zu Mir alle“ (vgl. Mt 11,28) mit einem überlebensgroßen Christus, der schützend seine Hände über Kinder und Jugendliche ausbreitete. Sollten sie nicht in diesem Haus mit Kraft, Hoffnung und Perspektiven für eine Zukunft ausgestattet werden? Psalm 23,3 spricht davon, dass Gott die Seele eines in Not geratenen erquickt. Das schien der Pastor mit seiner unbarmherzigen Metapher und seinen harten Worten vergessen zu haben.

Er erquicket meine Seele.

Psalm 23,3

Während ich sprachlos im Publikum saß, hatte Landesbischof Christian Kopp den Mut, sich in einer Podiumsdiskussion dem schweren und wichtigen Thema der sexualisierten Gewalt unter dem Dach der Kirchen zu stellen. Als sich eine schmerzhaft-wichtige Diskussion entfaltete, wusste ich, dass er sich stellvertretend für unsere bayerische Landeskirche nicht weg ducken, sondern stellvertretend mit vielen aus unserer Kirche Verantwortung übernehmen würde und aus den schrecklichen Geschehnissen lernend Konsequenzen zum Schutz von Schutzbefohlenen etablieren würde.

Viel muss geschehen.

… Schuld muss eingestanden werden und um Vergebung bei den Betroffenen gebeten werden. Wer postuliert, im Glauben zu stehen, muss sich auch seiner Gebrochenheit und Sündhaftigkeit bewusst werden, um sich gemäß seiner Glaubensgrundlagen zu ändern.

… Die Betroffenen müssen anerkannt und Sorge um sie getragen werden. Klare Konsequenzen für das Geschehene müssen folgen. Wertschätzende Gespräche auf Augenhöhe müssen mit den Betroffenen geführt werden. Sie benötigen Unterstützung, wenn sie z.B. aufgrund von Alter und Gebrechen versorgt werden müssen. Eine gute und respektvolle Versorgung muss für sie sichergestellt werden.

… Schutzkonzepte müssen erstellt und schnellstmöglich etabliert werden. Dies ist wichtig, damit sich nicht an anderer Stelle wiederholt, was in solch schmerzhafter Weise in Korntal und an anderen Orten geschehen ist.

… Prävention muss stattfinden. Der Film „Die Kinder aus Korntal“ sollte ein fester Bestandteil in Schulungen von kirchlichen Haupt- und Ehrenamtlichen, in der Ausbildung von Vikarinnen und Vikaren, Lehrerinnen und Lehrern sein.

Vieles muss noch geschehen, damit nie wieder geschieht, was Detlev Zander, über 150 anderen in Korntal und an anderen Orten angetan wurde. Ihr Mut und ihr Beharren haben mich tiefbeeindruckt. Sie müssen unterstützt werden, um das Schuldhafte aufzuarbeiten und es in Gegenwart und Zukunft zu verhindern.

Mit einem Klacken wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und landete wieder in der Realität der Bamberger Tankstelle. Ich ließ den Tankhahn wieder in der Zapfsäule einrasten und schüttelte die Metapher des Korntaler Pastors wie einen schlechten Traum ab. Meine Unterstützung und die Unterstützung vieler anderen sei den Betroffenen sexualisierter Gewalt gewiss, damit nie wieder geschehe, was verbrochen worden war.