„Justice is served“ – ich rieb meine Augen nach einer unruhigen Nacht und versuchte meinen noch müden Blick auf die Nachricht meiner amerikanischen Freundin zu fokussieren. Plötzlich war ich hellwach. Ich setzte mich im Bett viele Meilen weg von meiner vergangenen New Yorker Heimat auf und schaltete umgehend die Nachrichten ein. Während draußen die Natur langsam erwachte, wanderten die Bilder des vergangenen Jahres über meinen deutschen Bildschirm und riefen die Erinnerungen einer sehr bewegten Zeit in meinem Herzen wach.
„Justice is served“ – ein tiefer Seufzer entfuhr mir in Erleichterung um einen Schuldspruch, der so notwendig war und endlich ein deutliches Zeichen gegen Rassismus in den USA setzte. Vor einem guten Jahr war ich mit anderen auf die Straße gegangen, um gegen den Mord des schwarzen Amerikaners und den tief im Land verwurzelten Rassismus zu demonstrieren. Immer wieder brach dieser durch Polizeigewalt hervor.
Aber ich kannte als ehrenamtliche Polizeiseelsorgerin auch die andere Seite: Polizistinnen und Polizisten, die sich gegen ein zutiefst rassistisches System engagieren. Die selbst dunkle Hautfarbe trugen und versuchten von Innen heraus die Polizeikultur zu verändern. Fünfeinhalb Jahre durfte ich in New York als ehrenamtliche Seelsorgerin Polizistinnen und Polizisten begleiten, sie unterstützten, ihnen zuhören und als Brückenbauerin Verbindungen zwischen der örtlichen Polizeistation und den Anwohnern herstellen. Dies war besonders im vergangenen Jahr dringend notwendig geworden, um miteinander ins Gespräch zu kommen, gemeinsame gelingende Wege zu suchen und zu heilen.
Aus meiner Sicht ist es ungemein wichtig, dass wir uns aufgrund der engen geschichtlichen und wirtschaftlichen Verbindung von Deutschland und USA über die grundlegende und beunruhigende Nähe von Rassismus und Antisemitismus bewusst werden. Beide sind gefährliche Irrlehren, die zutiefst der christlichen Botschaft widersprechen. Sie sind ideologische Zwillinge, die nicht nur Hass verbreiten, sondern auch Menschenleben kosten.
Wie aber entsteht dieser Hass gegen Menschen? Unvergeßlich ist mir ein Seminar, das ich im Rahmen meines Zusatzstudiums bei Professorin Beverly Mitchell, die am Wesley Theological Seminary, Washington, D.C. lehrt, besuchen durfte. Sie stellte uns ihre Arbeit zum systemischen Vergleich von Konzentrationslagern und Sklavenplantagen vor. Die zum Himmel schreienden systemischen Analogien öffneten mir die Augen und ließen mich verstehen, warum sie bei Rassismus und Antisemitismus von „Zwillingen des Hasses“ (Engl.: „Twins of Hate“) sprach. Diese tödlichen Irrlehren haben ihre Wurzeln in der grundlegenden Ideologie, bestimmte Gruppen unter Verwendung von Ausschlussgesetzen, wirtschaftlicher Ausbeutung, Sklaverei, Mord und anderen Formen der Ungerechtigkeit auszuschließen und niederzudrücken.
Rassismus und Antisemitismus sind somit ideologische Zwillinge, die ihre Wurzeln tief in einer nährenden Grundlage haben: Im Hass gegen andere, in der Ausgrenzung, Ausbeutung und sogar Tötung wie im Falle George Floyds und zahlreichen anderen. Sie sind Irrlehren, die die von Gott geschenkte Gottebenbildlichkeit verletzen und mit dem uns von Jesus gebotenen Doppelgebot der Liebe brechen.
Dieses Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus, das tief verwurzelt in dem Gebot der Nächstenliebe und Gottebenbildlichkeit ist, begleitet mich auch nun als Seelsorgerin in der Bundespolizei in Bamberg als dem größten polizeilichen Aus- und Fortbildungszentrums Europas. Hier darf ich junge Polizeianwärterinnen und -anwärter in ihrer Ausbildung begleiten und für alle in dieser Lehreinrichtung Tätigen als Seelsorgerin arbeiten. Ein Privileg und gleichzeitig eine große Verantwortung.
(Letztes Bild: Öffentlichkeitsarbeit, Bundespolizeiinspektion Stuttgart)
„Justice is served“ – an diesem Morgen blickte ich mit Dankbarkeit auf die jubilierende Nachricht meiner amerikanischen Freundin. Der in der letzten Nacht getroffene Schuldspruch war von so unglaublicher Wichtigkeit, denn ein wertvolles Menschenleben war aufgrund einer rassistischen Einstellung ermordet worden. Gleichzeitig verpflichtet er rund um die Welt Menschen, dass sie überall dort, wo Menschen als Ebenbilder Gottes verletzt und ermordet werden, aufstehen im Namen des Schöpfers unserer Welt und sich für Gerechtigkeit und Frieden jenseits von Hautfarbe, Nation, Herkunft und finanzieller Leistungsfähigkeit einsetzen. Dafür will ich einstehen, wo mich Gott in den Dienst beruft.
Mit jedem weiteren Schritt sank ich tiefer in den dunkelbraunen Ackerboden ein, dessen regelmäßiges Muster aus frisch gepflügten Ackerfurchen von wirr verstreuten plattgewalzten Panzerspuren unterbrochen war. Lachen und aufgeregtes Jauchzen erfüllte die frische Septemberluft während wir Kinder über das Feld stolperten, um die amerikanischen Soldaten zu begrüßen, die um unsere kleine Stadt das jährliche Herbstmanöver durchführten.
Für uns Zehnjährige war es eine wunderbare und willkommene Unterbrechung des Herbsteinerleis. Die amerikanischen Soldaten hatten stets allerlei Leckereien dabei, die sie uns schenkten. Noch heute erinnere ich mich an die Freude, das Lachen und die Bewunderung, die wir diesen Männern und Frauen entgegenbrachten. Wir als zweite Generation nach dem Krieg waren in dem Bewusstsein erzogen worden, dass die USA uns als Besatzungsmacht Demokratie und Fortschritt gebracht hatte. Daher waren für uns dessen Kultur und Gepflogenheiten von großem Vorbildcharakter.
Wenn ich erschöpft von diesen Herbstausflügen mit meiner Beute und Schuhen, die mit schweren Erdklumpen übersät waren, nach Hause kam, achtete ich stets darauf, dass ich sie reinigte. Denn jegliche Aufregung meines amerikanischen Ziehvaters musste aufgrund dessen schwerer Erkrankung durch seinen Militäreinsatz in Vietnam musste unbedingt vermieden werden. Von Kindesbeinen an war ich nicht nur aufgrund der engen Verzahnung des süddeutschen Raumes mit dessen Besatzungsmacht, sondern meines amerikanischen Vaters im Bewusstsein einer tiefen Wertschätzung für die Vereinigten Staaten von Amerika erzogen worden. Die USA schenkten Deutschland nach dessen Fall unter Hitler Demokratie, Fortschritt und Wohlstand. Immer wieder betonte mein Vater als US-Veteran, was viele andere ebenso unterstreichen: „The Greatest Nation on Earth“.
Jahrzehnte später lebe ich nun seit sechs Jahren in den USA. Als Pfarrerin einer deutschsprachigen Gemeinde in New York habe ich die schwerste Dienstzeit seit meiner Berufung in das Pfarramt erlebt: die Pandemie, dessen gesundheitliche und ökonomische Auswirkungen erschüttern diese große Nation wie noch nie in diesem Ausmaß da gewesen war. Doch ein weiteres Beben erfasst das Land mit wachsender Intensität, das mit der pandemischen Krise verwoben ist. Denn die Ungleichheit von Chancen und ein ungerechtes soziales System basierend auf Hautfarbe und Herkunft werden hierdurch schonungslos aufgedeckt. So werden zum Beispiel Menschen mit schwarzer oder brauner Hautfarbe, solche von lateinamerikanischer Herkunft und auch solche indigener Herkunft werden fünf mal öfter aufgrund einer COVID-Erkrankung in ein Krankenhaus eingeliefert. Dies liegt daran, dass diese zumeist keinen Arbeitsplatz haben, der ein Homeoffice ermöglicht. Sie sind überproportional häufig als sogenannte „Frontline Workers“ tätig – als Kassierer, Pflegekräfte, Busfahrer und so viele mehr. Dies ist nur ein Ausdruck von vielen, die ein zugrundeliegendes rassistisches System offenlegt, das Personen mit dunkler Hautfarbe in Bildung, Ökonomie und Gesundheitsversorgung benachteiligt.
Während viele Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Politologen dieses Thema vielfach beleuchten, scheint für mich als Theologin die zugrundeliegende Thematik tiefer zu gehen. Die USA ist trotz der zunehmenden Gruppe der Konfessionslosen und der voranschreitenden Säkularisierung ein zutiefst religiöses Land, das in seinem Ringen um das eigene Selbstbild mit dem grundsätzlichen Glaubensgrundsatz des Imago Dei, also der Gottebenbildlichkeit allen menschlichen Lebens ringt.
Spürbar wird dies durch den immer deutlicher zutage tretenden Rassismus, auf dessen Existenz nicht nur systemisch hingewiesen, sondern auch zunehmend zu einem Thema der bevorstehenden Wahl des Präsidenten wird. Jim Wallis wies darauf hin, dass diese Wahl ein Test für Demokratie und Glauben sein würde.
Während in Übersee um das Selbstverständnis der USA gerungen wird, bin ich mir als eine Person, die auf deutsch-amerikanischem Horizont aufgewachsen und beruflich verflochten bin, der Auswirkungen dieses Ringens bewusst: Hier geht es um mehr als „nur“ um ein Land. Da Amerika vielfach als die führende Nation der Welt gesehen wird, überträgt sich dieses Ringen auf andere Länder und deren gesellschaftliche Systeme. Sehen wir unseren Nächsten als ein Ebenbild Gottes, wie dies im Buch Genesis 1,26a (1) bezeugt ist? Räumen wir anderen dieselben Chancen, Lebensbedingungen und Bildungsmöglichkeiten ein, auch wenn sie sich von uns aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder ihres Glaubens von uns unterscheiden?
Was gäbe ich dafür, noch einmal die Sicherheit von damals zu verspüren… Während ich dies schreibe, schließe ich meine Augen und hole tief Luft. Aufgrund meiner Erinnerung hat sie einen erdigen Geruch, der nach frischen Septembertagen, Ausflügen auf durchpflügten Ackerfeldern und der Zuversicht geborgen in einer geschenkten Demokratie und Chancengleichheit zu sein, riecht.
Blogeintrag „Struggling for the Soul of a Nation“ als Podcast
(1) „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“
Es war wie ein New Yorker Tag aus dem Bilderbuch mit einem strahlen blauen Himmel. Ein leichter Wind wehte wohltuend durch die Häuserschluchten und erfrischte mich beim Gehen trotz der hochsommerlichen Temperaturen. Sie die berühmte 5th Avenue, auf der es von Fußgängern und dichtem Verkehr immer nur so wuselte, war fast ausgestorben. Die meisten Luxusgeschäfte, in der die Reichen und Sternchen dieser Welt ihren Kaufgelüsten nachgingen, waren geschlossen. Manche waren immer noch seit dem Beginn der Unruhen vor einigen Wochen mit Sperrholzplatten vernagelt.
Während PRADA & Co. und deren kaufkräftige Kunden nun ins „pademie-sichere“ Online-Geschäft migriert waren, ringt die USA mit diesem Dämon, der aus dem Ringen nach Profit, Konsum und Eigensucht geboren worden war: der Marginalisierung und Ausbeutung von Menschenleben und konkreten gesellschaftlichen Schichten.
Ich kehrte dem PRADA-Geschäft und seiner teuren Auslage den Rücken und konzentrierte mich auf den leuchtend gelben Schriftzug vor mir auf der 5th Avenue, der mir tröstend in großen Lettern BLACK LIVES MATTER entgegen strahlte.
BLACK LIVES MATTER, 5th Ave zw. 56. und 57. Street
Donnerstag vor einer Woche (9. Juli) hatten namhafte Vertreter New York Citys zusammen mit Bürgermeister Bill De Blasio vor Trump Tower diesen leuchtend gelben Schriftzug eigenhändig aufgezeichnet. Jeder Besucher und Bewohner dieses Luxusgebäudes auf einer der teuersten Straßen der Welt würde sich nun nicht mehr der „Black Lives Matter“-Bewegung und ihrem mahnenden Ruf gegen systemischen Rassismus entziehen können. Just nach Bekanntgabe des Plans sprach Präsident Trump via Twitter von einem Symbol des Hasses und einer Verunglimpfung der Luxusstraße. Eine Reaktion, die die Zeichenhandlung gegen ein ungerechtes kapitalistisches System nur noch mehr unterstrich.
Trump Tower, 5th Ave
Die Anbringung des Schriftzuges durch Vertreter New York Citys und Bürgermeister De Blasio erinnern mich an eine Reihe von Propheten, die die Botschaft Gottes durch ihre Handlungen sichtbar und erfahrbar werden ließen. So wird zum Beispiel von Jesaja berichtet, dass er drei Jahre nackt in Jerusalem herumgelaufen sei (Jes 20,3). Die Zeichenhandlungen der biblischen Propheten reichen von Haarescheeren (Ezechiel), über die Auferlegung eines Jochs (Jeremia) bis hin zur Heirat einer Prostituierten (Hosea) und Benennung von Söhnen mit Symbolnamen (Jesaja und Hosea).
Propheten waren dazu berufen, Gottes Botschaft zu den Menschen zu bringen und auf Ungerechtigkeiten in Gesellschaft und Politik hinzuweisen. So nahm der Prophet Amos kein Blatt vor den Mund als er auf die sozialen Zustände seiner Zeit hinwies und die Frauen der damaligen Oberschicht als „fette Kühe“ bezeichnete, deren Familien aufgrund der Ausbeutung von niederen Gesellschaftsschichten zu ihrem Wohlstand und Reichtum gelangt waren:
„Hört dies Wort, ihr fetten Kühe auf dem Berge Samarias, die ihr den Geringen Gewalt antut und schindet die Armen und sprecht zu euren Herren: Bringt her, lasst uns saufen! Gott der Herr hat geschworen bei seiner Heiligkeit: Siehe, es kommt die Zeit über euch, dass man euch herausziehen wird mit Angeln und, was von euch übrig bleibt, mit Fischhaken. Und ihr werdet zu den Mauerlücken hinausmüssen, eine jede vor sich hin, und zum Hermon weggeschleppt werden, spricht der Herr.„
Amos 4,1-3
Die prophetische Tradition die Wahrheit Gottes und dessen Wunsch nach einer gerechten Gesellschaft auszusprechen und nicht vor den Zentren der Macht noch deren Vertretern in Gesellschaft und Politik zurück zu schrecken, ist ebenso bei Jesus vorzufinden. Er scheute sich nicht vor Diskussionen mit Entscheidungsträgern und lies das Reich Gottes Realität werden, indem er Kranke heilte, Ausgestoßene Aufmerksamkeit und Straftätern eine Möglichkeit zur Rückkehr gewährte. Dabei wartete er nicht auf den Beschluss eines Gremiums noch seiner Jünger, sondern wendete sich denen am Rand der Gesellschaft Befindlichen zu. Den Schwächsten und Bedürftigen. Dies gab er auch seinen Jüngerinnen und Jüngern als Richtschnur für ihr eigenes Handeln auf.
„Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.„
Mt 25,35-36
Weiterverfolgen können wir diese Tradition beim Apostel Paulus, der in seinem ersten Brief an die Korinther darauf hinwies, dass wir als Gemeinschaft ein Ganzes darstellen. Hierfür nutzte er das verständliche Bild des Leibes. Jeder hat sicherlich schon einmal erlebt, dass ein Körperteil erkrankt war und dadurch die ganze Person leiden musste. Diese Gesamtheit lässt sich ebenso auf gesellschaftliche Strukturen übertragen (1. Kor 12,26). Martin Luther King Jr. aktualisierte diesen Gedanken in einem fiktiven Brief des Apostels an amerikanische Christen, den er am 4. November 1956 neun Tage bevor der oberste amerikanische Gerichtshof die Segregation im Bustransport Alabamas als verfassungswidrig erklärte:
„Der Missbrauch des Kapitalismus kann auch zu tragischer Ausbeutung führen. Dies ist in eurer Nation so oft passiert. Sie sagen mir, dass ein Zehntel der Bevölkerung mehr als vierzig Prozent des Reichtums kontrolliert. Oh Amerika, wie oft hast du den Massen das Nötigste genommen, um den [höheren] Klassen Luxus zu geben. Wenn ihr eine wahrhaft christliche Nation sein wollt, müsst ihr dieses Problem lösen. […] Ihr könnt im Rahmen der Demokratie arbeiten, um eine bessere Verteilung des Wohlstands zu erreichen. Ihr könnt eure mächtigen wirtschaftlichen Ressourcen nutzen, um die Armut vom Erdboden zu wischen. Gott hatte nie vor, dass eine Gruppe von Menschen in überflüssigem, übermäßigem Reichtum lebt, während andere in bitterer, tödlicher Armut leben. Gott beabsichtigt, dass alle seine Kinder die Grundbedürfnisse des Lebens haben, und er hat in diesem Universum „genug und teilbares“ für diesen Zweck gegeben. Deshalb fordere ich euch auf, die Kluft zwischen bitterer Armut und überflüssigem Reichtum zu überwinden.“ (1)
Martin Luther King, Jr., Pauls Letter to American Christians
Unglaubliche 64 Jahre später, ringt die USA immer noch um ein gerechtes gesellschaftliches System, das durchwoben ist von einer Benachteiligung gegenüber farbigen Bevölkerungsgruppen und anderen Minoritäten am Rande der Gesellschaft. Es bedarf daher vieler mutiger Personen, die in prophetischer Tradition gegen diese Ungerechtigkeiten aufsprechen und ihre Stimme für die erheben, die keine Stimme haben. So wie dies gegenwärtig durch die Bewegung „Black Lives Matter“ geschieht. Ein biblische Erbe das Christinnen und Christen mutig annehmen sollten.
Eine Person äußerte mir gegenüber letztens ihre Erleichterung, dass Deutschland nicht mit den amerikanischen Problemen des Rassismus behaftet sei. Das ist zu einfach gedacht. Rassismus ist eine gesellschaftliche Realität in Europa. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Antisemitismus als dessen häretischer Zwilling unglaubliches Leid über Deutschland, Europa und weite Teile der westlichen Welt gebracht hat. (2) Während ich sprachlos in den Telefonhörer starrte und die Worte der Person ungehört an mir herunter perlten, zogen mich meine Gedanken in die Zeit des Nationalsozialismus: Was wäre gewesen, wenn man damals mutig aufgestanden wäre als Christen und als Kirche und vor die damaligen Zentren der Macht als deutsches Pendant „Jüdisches Leben Ist Wertvoll“ oder den Anglizismus „Jewish Lives Matter“ geschrieben hätte? Stattdessen wählten die großen Kirchen den Weg in die Mittäterschaft und unterstützten das mörderischste Hasssystem der Welt in seiner menschenverachtenden Politik. Gerade deshalb geht es Christ*innen in Deutschland besonders an! Sie müssen sich verpflichtet fühlen zu dem Jahrtausende alten Ruf der Propheten, der gegen Ungerechtigkeit von Benachteiligten und Menschen an den Rändern unserer Gesellschaft aufspricht. Weil andere Minoritäten sich in sozialer und finanzieller Not befinden, könnte zum Beispiel auch andere Rufe laut werden, wie…
„Jewish Lives Matter“
oder „Sinti Lives Matter“
oder „Homeless Lives Matter“
oder „Female Lives Matter“ und so viele mehr.
Ich träume von einer Kirche, die dem prophetischen Ruf Gottes folgt und tief in der Beauftragung Jesu Christi verwurzelt ist. Je mehr diesem Ruf folgen, umso größer wird das Reich Gottes bereits in dieser Welt. Ein Vorgeschmack auf den Himmel und wie Gott sich unsere Welt erhofft.
(1) Originaltext: „The misuse of Capitalism can also lead to tragic exploitation. This has so often happened in your nation. They tell me that one tenth of one percent of the population controls more than forty percent of the wealth. Oh America, how often have you taken necessities from the masses to give luxuries to the classes. If you are to be a truly Christian nation you must solve this problem. You cannot solve the problem by turning to communism, for communism is based on an ethical relativism and a metaphysical materialism that no Christian can accept. You can work within the framework of democracy to bring about a better distribution of wealth. You can use your powerful economic resources to wipe poverty from the face of the earth. God never intended for one group of people to live in superfluous inordinate wealth, while others live in abject deadening poverty. God intends for all of his children to have the basic necessities of life, and he has left in this universe „enough and to spare“ for that purpose. So I call upon you to bridge the gulf between abject poverty and superfluous wealth.„
in: Martin Luther King Jr., A Knock at Midnight, 1998, S. 28.