Aus der Sicht einer Polizeiseelsorgerin: Von Protesten, Gleichaltrigen und dem Wunsch nach Menschlichkeit

Ich schüttelte die neueste Ausgabe der Zeit mit einem routinierten Ziehen zurecht, um die voluminösen Seiten gerade zu ziehen. Dann versank ich wieder in der neuesten Ausgabe der ZEIT. Doch kaum hatte ich die erste Seite umgeblättert, drängten abrupt die großen Baggerschaufeln des Kohleabbaus am Dorf Lützerath und die Geschehnisse rund um das gegenwärtig zu räumende Dorf in die Stille meines Wohnzimmers. Nachdenklich folgte ich den Worten der Autorin, die einen jungen 17-jährigen Klimaaktivisten mit dem Decknamen Taco und dessen Familie begleitet hatte und nun davon berichtete. Ihre Worte waren einfühlsam und ausgewogen. Immer wieder blieb ich im Text an dem Alter des jungen Mannes hängen, das dem vieler Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern entsprach, die ich in meiner Lehrtätigkeit begleiten durfte.

Die Worte des letzten Absatzes gingen mir nicht aus dem Kopf:

[…] Taco hat sich entschieden: Er will bleiben, die Räumung in Lützerath abwarten. Sollte die Polizei ihn vom Gelände tragen werde er sich nicht wehren. […]

Her mit der Kohle. Vermummte werfen Steine, Väter besorgen ihren Söhnen Gummistiefel fürs Demonstrieren. Wie gewaltbereit ist der Protest in Lützerath, von Laura Cwiertnia, aus: DIE ZEIT Nº 3, 12. Januar 2023

Immer und immer wieder las ich sie. Fiktive, aber durchaus realistische Gedanken gingen mir durch den Kopf. Was, wenn sie aufeinandertreffen würden? Ein siebzehnjähriger Klimaaktivist und ein siebzehnjähriger Polizeischüler? Im zweiten Lehrjahr durchlaufen die Auszubildenden verschiedene Praktika und kommen dort, um in ihre Tätigkeit hineinzuwachsen, mit Bürgerinnen und Bürgern in sehr unterschiedlichen Situationen und an verschiedenen Orten Kontakt.

Wie viel Verständnis würde auf beiden Seiten wachsen, wenn sie einander jenseits eines Konfliktes begegnen würden? Wenn sie im jeweils anderen die Menschlichkeit entdecken dürften?

Es ist ein unglaubliches Spannungsfeld, in das diejenigen, die ich in der polizeilichen Ausbildung begleiten darf, hineinwachsen müssen. Oft sehen sie bereits in jungen Jahren Dinge, die andere Erwachsene selten bis nie sehen werden. Gewalt hinterlässt Spuren. Eine Uniform mag vor dem Schlimmsten einen relativen Schutz bieten, aber die Spuren in der Seele kann auch eine Körperschutzausstattung nicht verhindern.

Was wäre, wenn man mehr Begegnungsfläche für beide Seiten schenken könnte? Wenn junge Klimaktivistinnen und -aktivisten mit jungen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern zu Gesprächen und einem Kennenlernen der jeweils anderen Seite zusammen kämen? Vielleicht würden sie ja viel Gemeinsames entdecken. Oder in so mancher schwieriger Situation diese Erfahrung dabei helfen, dass es zu keinen massiven, gewaltbereiten Auseinandersetzungen kommen würde.

Wünschen würde ich es Taco und meinen Polizeischülerinnen und -schülern, denn als Seelsorgerin habe ich Angst. Um beide. Nicht umsonst fragt sich die Autorin ohne eine Seite im Untertitel genau zu benennen:

Wie gewaltbereit ist der Protest in Lützerath?

Als Pfarrerin kann ich jenseits jeglicher politischer Diskussion um Lützerath für die involvierten Personen nur hoffen, dass die durch die Politik angeordnete Räumung des Dorfes und das dadurch ausgelöste Demonstrationsgeschehen so friedlich wie nur irgendmöglich bleibt. Zum Wohle aller.

Ich seufzte tief und schlug die Zeitung mit einem energischen Ruck zu. Die nächsten Tage würden zeigen, ob es überwiegend friedlich bleiben würde.

Von bärigen Symbolen und Hilfe für die, die helfen

Vorsichtig faltete ich die kleinen Hände um die Mandel und drückte sie sanft fest. Dann stach ich den nächsten Bären aus dem kalten Butterplätzchenteig aus. Während sich mein Backblech langsam mit einem Teil der Plätzchen-Hundertschaft für meinen Dienstort in der Bundespolizei füllte, wanderten meine Gedanken in eine längst vergangene Zeit.

Noch gut kann ich mich an eine amerikanische Comic-Sendung erinnern, in der „Care Bears“ (dt.: Glücksbärchis) als kuschelige Wesen sich um das Wohl von Menschen bemühten. Dort, wo die kleinen Bärchenplätzchen eine Mandel umarmten, trugen die Bären ein Symbol auf dem Bauch, das für die Gabe des jeweiligen Bärchen stand. Waren Menschen, und vor allem Kinder, in Schwierigkeiten geraten, so halfen sie mit ihrer jeweiligen Gabe.

Am Anfang meiner Tätigkeit bei der Bundespolizei stolperte ich über ein ganz anderes Bärenbild. Als ich vom Begriff des „Bärenführers“ erfuhr, war ich sehr verwundert. Aus der mittelalterlichen Geschichte hatte dieses Bild für mich eine durchaus negative Konnotation. Ein Bärenführer zähmte damals den wilden Bären und zwang ihn zu Tätigkeiten, die weder naturgemäß noch artgerecht waren. Die „Bärenführer“, die ich jedoch bei der Bundespolizei erlebt habe, wiesen die jungen Kolleginnen und Kollegen als erfahrene Vorgesetzte aufmerksam in die neue Tätigkeit als Polizistinnen und Polizisten im Praktikum ein und waren darauf bedacht, dass es dem anvertrauten Nachwuchs gut ging.

Ich schüttelte den Kopf, während ich das nächste Backblech voller Bären in den heißen Backofen schob. Was für „bärige“ Gedanken… Ich beschloss das Symbol des Bären als eines der Sorge und der Zuneigung zu deuten. Denn dies durfte ich vielfach am größten polizeilichen Aus- und -fortbildungszentrum der Bundespolizei erleben: Lehrende, die sich um den polizeilichen Nachwuchs kümmern und dort engagiert ihren Dienst tun. Die Seelsorge ist ein Teil dieser Sorge und ist gerne für die helfend da, die anderen helfen. Kurzerhand entschloss ich „Care Bären“ zu backen und als kleine „bärige“ Zeichen dieser Sorge weiterzugeben. Das Ergebnis könnt ihr hier sehen:

Ein herzliches Dankeschön an das Team der Druckerei des AFZ Bamberg, das mich bei der Umsetzung dieser Idee mit Rat und Tat unterstützt hat. ❤️

Explodierende Kätzchen, Interventionen, Polizeiseelsorge & Co.

Etwas blechern, aber dadurch noch amüsanter strömte mexikanische Volksmusik aus der kleinen Kartenverpackung. Ich schaukelte vergnügt vor mich hin während ich meiner Tochter dabei zusah, wie sie die Karten für das in unserer Familie beliebtes Kartenspiel „Exploding Kittens“ an die um den Küchentisch versammelten Personen verteilte.

Die verrückten Regeln des Spiels hatten es unserer Familie angetan! Wo sonst gab es eine freundlich grinsende Taco-Katze, mit der man anderen eine Karte stehlen oder eine Einhorn-Enchilada, mit der man die Zukunft des Kartenstapels auskundschaften konnte? Und mit etwas Glück konnte man das spielerische Gegenüber einfach so explodieren und damit aus dem Spiel werfen. Geschützt war man gegen diese aggressiven Angriffe nur durch die „Defuse“-Karte.

Das verrückte Kartenspiel ist seit Monaten der absolute Spielhit, doch seit einigen Tagen hat besonders die Schutzkarte eine wichtige Bedeutung für mich. „Defusing“ ist in eine wichtige Technik im Bereich der psychosozialen Notfallversorgung für Einsatzkräfte, die nach einem potentiell belastenden Ereignis als wichtiges Angebot für die Begleitung professionell verankerter Berufsgruppen verwendet werden kann. Diese kurze Nachbesprechung ist wichtig, damit Einsatzkräfte das Erlebte zuordnen und den Weg einer Bearbeitung des Ereignisses beginnen können.

In dieser Woche durfte ich mit vielen besonderen und bereichernden Personen, die bei der Feuerwehr, Polizei, Zoll, im Transportbereich und der Notfallseelsorge tätig sind, diese und andere Techniken durch einen Kurs der „Bundesvereinigung für Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen e.V.“ erlernen. Kursleiter Oliver Stutzky half uns Schritt um Schritt in die Einsatzbegleitung und Nachsorge nach belastenden Ereignissen hineinzuwachsen. Für mich war es ein segensreiches Umdenken, das meine pastorale Praxis nun als Seelsorgerin in der Bundespolizei neu ausrichtet.

Durch „Defusing“ & Co. wird bei Einsatzkräften dafür gesorgt, dass das Lebenshaus nicht wie in der Karte unseres Spiels am heimischen Küchentisch explodieren, sondern dass sie den heilsamen Weg einer Verarbeitung beschreiten können.

Vor diesem Kurs habe ich die hellgrüne „Defuse“-Karte erleichtert, aber doch etwas leichtfertig schmunzelnd ausgespielt. Ab dieser Woche wird das Schmunzeln nun von einer Dankbarkeit für eine neue Methode und Menschen wie Oliver Stutzky verbunden sein, die sie lehren, damit Einsatzkräfte gut begleitet durch schwere Zeiten gehen können.