Lesen gegen Hass 4: im Nachgang der Europawahl Lernen wider Angst und Rechtsextremismus

TikTok hat ganze Arbeit geleistet. Das müssen wir im Nachgang der Europawahl zähneknirschend anerkennen. Die bekannte soziale Plattform wurde effizient von der Partei AfD und vielen anderen rechten Influencern für ihre rechtsextremen Zwecke genutzt. Dafür haben andere Parteien, deren Vertreter und Institutionen mit vielfacher Abwesenheit geglänzt oder sich nur punktuell dort eingebracht. Ich nehme mich dabei nicht aus – obwohl ich digitalaffin bin, bin ich vor TikTok zurückgeschreckt. Die Plattform stellt nicht nur eine datenschutzrechtliche Katastrophe dar, sondern aufgrund meiner gegenwärtigen Tätigkeit als Seelsorgerin in einer Sicherheitsbehörde habe ich hinsichtlich dieser große Vorsicht walten lassen.

Doch die Stimmanteile innerhalb der Jungwähler bei der gerade durchgeführten Europawahl ließen mich erschrocken aufhorchen und veranlaßten mich, einen Beitrag der Tagesschau hinsichtlich dieser Altersgruppe in meiner privaten Storyline zu reposten. Eine Kollegin schrieb mir hierauf: „So schrecklich. Das sind unsere AnwärterInnen.“

Sie hat recht. Es sind diejenigen, die wir Lehrerinnen und Lehrer, Dozentinnen und Dozenten gegenwärtig in den unterschiedlichen Schultypen und Universitäten Deutschlands unterrichten. Die ab sechzehn wählen dürfen. Es ist auch die Generation, die gerade in meinem eigenen Haushalt aufwächst. Viele Diskussionen entbrannten in den Tagen vor der Europawahl am heimischen Essenstisch. Besonders erstaunlich war für mich, dass sich in ihren Worten eine gewisse Ratlosigkeit, Skepsis und Angst breit machte, die ich meinen eigenen Kindern und dieser heranwachsenden Generation nicht wünsche. Vielmehr würde ich ihnen gerne einen Zukunftsoptimismus zusprechen, mit dem meine Generation aufwachsen durfte: einem Europa, dessen Grenzen sich öffneten; einer Vernetzung über Länder hinweg, die neue Möglichkeiten und Freiheiten schaffen würde. Aber wir müssen uns dem stellen, dass dieser Optimismus im Nachgang der Pandemie, mit den vielen Kriegen, kriegerischen Auseinandersetzungen und wirtschaftlichen Herausforderungen einem Zögern, bei manchen sogar einem Zukunftspessimismus gewichen ist.

Dies hat selbstverständlich Auswirkungen auf die politische Struktur von Ländern. Und diese emotionale „Großwetterlage“ hat nicht nur die junge Generation erfasst, sondern reicht weit darüber hinaus.

Gemeinsam mit den Sechzehnjährigen hat ganz Europa gewählt. In Deutschland war es mit 64,8 % die höchste Wahlbeteiligung seit der Wiedervereinigung. Eine durchaus stattliche Zahl, die erfreuen sollte. Interessant aber wird es, wenn man sich das Wahlverhalten genauer ansieht. Hierbei interessieren vor allem aufgrund der deutschen Geschichte die Ergebnisse im Bereich der rechtsgerichteten Parteien – im Fall Deutschlands der AfD. Während viele Nachrichtenportale und Printmedien die Erstwählerinnen und -wähler hervorheben, sollten wir etwas vorsichtiger sein, denn die Klimax besteht vor allem bei denen, die mit 35-44 Jahren mitten im Leben stehen. Die Stimmanteile fallen erst wieder im Alterssegment 70 und älter.

Was also treibt alle diese Personen in die Arme einer rechtsgerichteten Partei? Eine Frage, die wir uns alle stellen sollten. Erst recht diejenigen unter uns, die in Bildung verortet sind. Mag dies eine Schule, eine andere Bildungsstätte oder eine religiöse Einrichtung sein. An allen Orten, an denen Bildung geschieht, sollten wir miteinander dringend ins Gespräch kommen, was uns Angst macht, um uns dieser zu stellen und gemeinsam gangbare Wege zu finden. Denn nichts geringeres als unsere Demokratie steht hier auf dem Spiel. Eine Demokratie, die aus der Katastrophe des zweiten Weltkrieges, seinen Morden und Unrecht als Gegenmodell entstanden ist, die eine gerechtere Welt zum Zentrum hat.

Für mich ist der Ort, an dem Ängste ausgesprochen werden dürfen und Bildung stattfindet, gegenwärtig der berufsethische Unterricht in der Bundespolizei. Bei Ihnen mag es ein ganz anderer Ort sein. Wie wir den Zahlen der Europawahl entnehmen können, müssen solche Austausch- und Bildungsmöglichkeiten für alle Altersgruppen geschaffen werden.

Ich stelle im folgenden vier Bücher vor, die für einen solchen Austausch durchaus von Vorteil sein können. Für mich sind diese die Grundlage eines Unterrichtsmoduls, das ich gegenwärtig für ein Seminar des Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrums erstelle. Neben einer grundsätzlichen Information über Rechtsextremismus und Angst, wird es den Bogen von Alltag hin zu rechtsextremen Hass und der eigenen Verantwortung beschreiten. Im Dialog sollte hierauf folgend Wege der Hoffnung gemeinsam gesucht und beschritten werden.

Den Anfang macht ein Buch, das hilft, die Ängste zu verstehen, die uns alle erfassen können und auf denen Rechtsextremismus ein Einfallstor in die Gedanken und Herzen von Menschen findet.

„Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln“ (Berlin 2023) von Peter R. Neumann

Das Buch von Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, gibt einen hilfreichen Überblick über die einflussreichsten Denker und Werke rechtsextremer Strömungen. Auf übersichtlichen 166 Seiten klärt der Autor in leicht verständlicher Sprache über die Geschichte des Rechtsextremismus und seine aktuellen Erscheinungsformen auf. Das Buch gibt keine konkreten Handlungsanweisungen, kann aber als Verständnisgrundlage für Ängste dienen, die Menschen in die Arme rechtsextremer Parteien treibt.

Aufbauend auf diesem empfiehlt sich als Einstieg in das Thema eine Perspektive, die vom Alltäglichen her sich entfaltet und Personen in ihrem Alltag, aber auch dem Befremdlichen einer Zeit abholt, in der Rechtsextremismus gesellschaftlich etabliert war.

„Und morgen gibt es Hitlerwetter! Alltägliches und kurioses aus dem Dritten Reich“ (Frankfurt am Main 2006) von Hans-Jörg und Gisela Wohlfromm

Wer kennt ihn nicht, den olympischen Fackellauf? Oder die „Goldene Kamera“, die jedes Jahr in Deutschland verliehen wird? Oder den Eintopf, der ab und an seinen Weg auf den Essenstisch zur Freude der Erwachsenen oder zum Leid so manchen Kindes findet?

Alle genannten haben ihre Wurzeln und ihre Entstehung im Nationalsozialismus.

Um Geschichte verstehen zu können und mit der eigenen Lebensumgebung vergleichen zu können, lohnt sich ein Blick in den Alltag des Dritten Reiches. Das Buch greift einiges Bekannte, aber noch mehr Unbekanntes auf und schafft dadurch eine notwendige Brücke und Diskussionsgrundlage.

Mit dem hierdurch eröffneten Problemhorizont kann man dann einen mutigen Schritt zu dem wohl destruktivsten Buch der Weltgeschichte wagen, um es zu entzaubern und vor seinen dort niedergeschriebenen Ideen und Konzepten zu warnen.

„Mein Kampf. Die Karriere eines deutschen Buches“ (Stuttgart 2015) von Sven Felix Kellerhoff

Dieses sollte in Kombination mit der wissenschaftlichen Ausgabe des „Originals“ besprochen werden:

„Hitler, Mein Kampf: Eine kritische Edition“ (München – Berlin 2020)

Sven Kellerhoff gelingt mit seinem Buch ein wichtiger Einblick in die bekannteste Hetzschrift der Welt und des meistverkauften deutschen Buches aller Zeiten. Die Wirkung dieses Buches hatte im Nationalsozialismus verheerende tödliche Folgen, die bis heute nicht nur nachwirken, sondern neue Nachfolge und Nachahmungen finden.

Das Buch gibt Einblicke in die Entstehung der Hetzschrift Hitlers, die ein tödliches Lügenkonstrukt hervor schälen, das viele und bis zum heutigen Tage Rechtsextreme inspirieren. Hitler wird hierin als Verfälscher seiner eigenen Biografie und als korrupter Steuerhinterzieher entlarvt. Ein entzauberndes, wichtiges Buch, das vor solchen und anderen mörderischen Menschen und deren Ideologien warnt.

Einige von vielen Büchern, die im Nachgang der Europawahl helfen können, sich der immer deutlicher werdenden Angst zu stellen und gemeinsam auf die Suche nach demokratischen Wegen zu machen.

Lest gegen Hass! Mit euren Schülerinnen und Schülern. Mit euren Kolleginnen und Kollegen. In Familien und Freundeskreisen.

Gebt Menschen die Möglichkeit, die sie bewegende Angst auszusprechen, aber daraufhin umso mehr einer Hoffnung, die in schweren Zeiten bessere Wege der Demokratie weisen kann. Damit statt Hass in den Herzen und Gedanken der euch Anvertrauten nicht auf fruchtbaren Boden falle.

Lesen gegen Hass 3: Vergesst den Ukraine-Krieg nicht!

Während ich den in Orange-, Grün- und Gelbtönen gehaltenen Graphic-Novel las, umgab mich leise Begleitmusik. Als ich zur nächsten Seite umblätterte, musste ich erstaunt innehalten.

I’m gonna lay down my burden, 
Down by the riverside,  
Down by the riverside,  
Down by the riverside.  
Gonna lay down my burden,  
Down by the riverside,  
Down by the riverside. 


I ain’t go study war no more,  
study war no more, 
ain’t go study war no more. 
I ain’t go study war no more, 
study war no more, 
ain’t go study oh war no more.

Gospel „Down by the riverside“

Ich erhöhte die Lautstärke während ich verdutzt die nächste Seite des Graphic Novel umblätterte. In der elften Kalenderwoche erzählten eine ukrainische Journalistin und ein russischer Künstler jeweils von der sie umgebenden Traurigkeit über einen Krieg, der beide zutiefst betraf. In dieser Woche hatte der russische Künstler ein Konzert des ukrainischen Sängers Ivan Dorn besucht, währenddessen dieser Aufnahmen aus dem Krieg zeigte, die zu Tränen rührten.

Sich mit Krieg nicht auseinanderzusetzen wie dies im alten Gospel beschrieben wird, ist gegenwärtig unmöglich. Hilfreich ist es zu wissen, dass dieser höchstwahrscheinlich im Anschluss an den Sezessionskrieg im Juni 1865 bzw. des ersten Weltkrieges als Ausdruck einer Kriegsmüdigkeit entstand. Die Gospel-Lyrik von „Down by the Riverside“ hat biblische Wurzeln, die in vielfacher menschlicher Ungerechtigkeitserfahrung und dem Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit ihre sehnsuchtsvolle Quelle haben. Grundlage für diesen Gospel waren Bibelabschnitte wie Mi 4-5 und die zu Tage tretende Diskrepanz zwischen Sehnsucht nach einem Friedensreich und harter, ja manchmal sogar brutaler Realität in Auseinandersetzung, Gewalt und Tod.

Als Christin und Theologin sehne ich mich ebenso nach einem solchen Friedensreich, aber angesichts der vielen Kriege, vor allem des Ukraine- und Israel-Gaza-Krieges werde ich ratlos. Was soll ich meinen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern sagen? Welchen Deutungshorizont kann ich ihnen in dieser schwierigen Zeit geben? Selbstverständlich könnte ich multiple Lehren wie sie beim biblischen Pazifismus, bei Augustin, Thomas von Aquin und Kant zu finden sind, im Unterricht ausbreiten. Aber reichen diese ethischen Modelle und postulierten Handlungsmaximen? Sind sie nicht vielmehr überheblich, wenn auf sie allein zurück gegriffen wird – noch dazu wenn die lehrende Person, die in einem sicheren Land lebt, keine Kriegserfahrung und – betroffenheit hat?

Daher werde ich in meinem berufsethischen Unterricht andere zu Wort kommen lassen und hierdurch einen Anknüpfungspunkt für einen Umgang mit Krieg und Frieden suchen, der in einer persönlichen Perspektive Betroffener liegt. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass Polizistinnen und Polizisten in ihrer Handlungskompetenz eine ganz konkrete Schlüsselkompetenz für unsere Demokratie und Gesellschaft übertragen bekommen, die sich in der Wahrung der Menschen- und Grundrechte im Umgang mit dem Einzelnen ausdrückt.

Einen Zugang zu einer persönlichen Perspektive kann der Graphic Novel „Im Krieg“ von Nora Krug schenken. Nach „Heimat: ein deutsches Familienalbum“ und „Über Tyrannei – zwanzig Lektionen für den Widerstand“ ist dies der dritte Graphic Novel von Nora Krug, den ich in meiner Reihe „Lesen gegen Hass“ vorstelle. Dieser ist in Englisch, Deutsch und Koreanisch erschienen.

In diesem Bildroman begleitet die deutsch-amerikanische Illustratorin eine ukrainische Journalistin und einen russischen Künstler. Aus einem persönlichen Blickwinkel werden zwei Leben im Krieg portraitiert und zwei Tagebücher über ein Jahr nebeneinander Woche um Woche dargestellt. Hierzu hatte Nora Krug wenige Tage nach der russischen Invasion der Ukraine zu einer ukrainischen Journalistin in Kiew und einem russischen Künstler in Sankt Petersburg aufgenommen. Es sind persönliche Einblicke, die dem Leser und der Leserin in deren Leben geschenkt wird. Wir begleiten sie in ihrem Kriegserleben zu ihren Familien und Freunden, zu ihrer Arbeit und dem Meistern eines Lebens, das durch den Krieg komplett auf den Kopf gestellt wurde.

Der Bildroman schafft eine persönliche Ebene, die Betroffenheit und Nähe schenkt und damit einen Zugang für einen Unterricht jenseits abstrakter Kriegs- und Friedenstheorie ermöglicht. Dies ist wichtig, denn Polizistinnen und Polizisten handeln stets im Konkreten und beeinflussen unter Umständen Leben nachhaltig in deren Verlauf.

Ich gebe zu, dass auch ich manchmal angesichts der vielen Kriege, vor allem des Überfalls der Hamas auf Israel und Russlands auf die Ukraine trotz meiner Lebenswirklichkeit in einem demokratischen Land zu leben, in dem Frieden herrscht, kriegsmüde werde. Gerne würde ich mit in den Gospel einstimmen und singen: „I ain’t go study war no more“. Aber ich bin es denen schuldig, die konkret unter Krieg, Gewalt und Tod leiden, dass die gestärkt werden, die für unsere Demokratie einstehen werden. Gegenwärtigen und zukünftige Generationen, die durch Bildung und Unterricht zugerüstet werden.

In meinem Falle sind es die angehenden Polizistinnen und Polizisten der Bundespolizei. Wie diese Frieden und Gerechtigkeit umsetzen, kann im Rahmen des geltenden Gesetzes und des eigenen Gewissens nur jeweils die einzelne Person entscheiden und in ihrem Handeln transparent werden lassen. Und bei anderen sind es die jeweiligen Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten, Kinder, Enkel oder Patenkinder, die ihnen anvertraut sind.

Ich drehte die Musik noch etwas lauter – meine Gedanken verloren sich im sehnsuchtsvollen Klang des Gospels und Bildern von Musikerinnen und Musikern rund um den Globus, die diesem Sehnen vielgestaltig Ausdruck verliehen.