Die metallfarbene Häkelnadel glitt an der weißen Wolle entlang, die mit feinen silbernen Fäden durchsetzt war. Masche um Masche entstand zwischen meinen kalten Fingern ein Muster, das so vertraut durch Bilder und Beschreibungen war während ich aufmerksam den Berichten des Radiomoderators auf NPR (National Public Radio) zuhörte. Ruth Bader Ginsburg, die Richterin am US-amerikanischen Obersten Gerichtshof gewesen war, war am Abend von Rosh Hashanah (18. September) verstorben. Gerade hatte ich noch an meine jüdischen Freunde und Bekannte einen Gruß zum jüdischen Neujahrsfest versandt, als die Nachricht wie ein kalter Hagelschauer über dem jüdisch geprägten New Yorker Umfeld hereinbrach. Auch bei mir saß der Schock tief, denn seit Jahren war diese Frau für mich in ihrer Arbeit und ihrem Engagement um Gleichberechtigung und ein gerechteres juristisches System ein großes Vorbild. Nun griff ich zur Häkelnadel. Mit jeder neuen Masche entstand vor meinen Augen eine Nachahmung des Spitzenkragens, den sie über ihrer Richterrobe getragen hatte. Diese Tätigkeit gab mir die Möglichkeit meiner Trauer Ausdruck zu verleihen und ihr dadurch etwas näher sein zu können.

„Welch ein passender Tag für eine solch große Person zu sterben!“, dachte ich leise bei mir. Nun war sie eine צדיקה (Tsedikah). In jüdischer Tradition ist jemand, der am jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana verstirbt, eine gute und rechtschaffene Person, die sich für Gerechtigkeit eingesetzt hat.
Wenn im Jüdischen von צדקה (Zedaka) gesprochen wird, so meint dies Gerechtigkeit, die die Nächstenliebe einschließt und ein aktiver Einsatz für Gerechtigkeit bedeutet.
Maimonides (1135/38-1204) definierte im Mittelalter acht Stufen der צדקה (Zedaka), von denen die höchste zur Selbstversorgung bzw. zu einer Handlung führt, die eine nachhaltige Form der Gerechtigkeit schafft. Die zweithöchste Form ist, wenn der Rechtsschaffende und der Umsorgte einander unbekannt sind. Dies ermöglicht die Würde des Empfängers zu erhalten und dass der Geber frei von persönlicher Motivation und Belohnung ist. Im Konzept der צדקה (Zedaka) schwingt der Auftrag Gottes, eine gerechtere Welt zum Wohle von Menschen zu schaffen, die wir nicht kennen, ohne Lob, Dankbarkeit oder Belohnung zu erwarten.
In der Torah werden zum Beispiel Abraham aufgrund seiner Güte, Isaak aufgrund seiner Zurückhaltung, Jakob aufgrund seiner Barmherzigkeit, Moses aufgrund seiner Ausdauer, Aaron aufgrund seines Ruhms, Joseph aufgrund der Stiftung des Landes, David aufgrund des Königtums benannt. Aber auch Frauen können als rechtschaffen bezeichnet werden.
Ruth Bader Ginsburg gehört meines Erachtens in diese Tradition. Sie war eine solche צדיקה (Tsedikah), die sich unermüdlich für eine gerechtere Welt einsetzte. Eine Welt, in der Gleichheit, soziale und ökonomische Gerechtigkeit allen zugänglich gemacht werden sollte – egal welchen Geschlechtes, Hautfarbe oder Herkunft sie sein mögen. Durch Ruth Bader Ginsburg wurde wie durch keine zweite Person das Streben nach Gerechtigkeit in der US-amerikanischen Gesellschaft und dessen Rechtssystem so tiefgreifend beeinflusst.
An diesem Abend erfasste die Trauer und Dankbarkeit um diese צדיקה (Tsedikah) unsere ganze Familie. Meine Kinder hörten interessiert von verschiedenen Lebensstationen Bader Ginsburg. Während ich häkelnd von meinem Vorbild erzählte, wurde mir bewusst, dass wir nun in der Nachfolge dieser rechtschaffenen Person sowie vieler anderer waren. Unsere Generation musste sich nicht nur für eine gerechtere Welt einsetzen, sondern die nächste Generation von Friedens- und Gerechtigkeitsstiftern erziehen. Die Spitzenkragen waren RBG´s Weise, sowohl die weibliche Identität über einer männlichen Robe zu unterstreichen als auch durch diese ihren Protest sichtbar werden zu lassen. In unendlicher Geduld und jahrzehntelangem Engagement hatte sie in den USA wichtige Schritte für die Gleichberechtigung von Frauen bewirkt- daher hatte sie einst gesagt: „Real Change, enduring change, happens one step at a time.“ (1)
Während der Abend durch unser Reden und meine Häkelarbeit schnell dahinfloß, reifte in mir eine Idee, die ich am Sonntag umgehend umsetzten würde: Nicht nur ich würde über meinem Talar ein „Ginsburg Collar“ tragen, sondern auch meine Töchter in Erinnerung an Ruth Bader Ginsburg und als Zeichen der Nachfolge im Engagement um Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Wenn viele über Generationen, Nationen und Herkunft hinweg sich für Gleichberechtigung einsetzen und jeder einige kleine Schritte macht, können wir diese Welt in eine gerechtere für alle verwandeln.





Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr ebenso ein Zeichen setzten würdet, dass auch ihr engagiert seid um Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Wenn ihr könnt, so tragt ebenso ein solches #GinsburgCollar über eurem Kleid, Talar, Bluse oder Hemd. Wenn ihr könnt, dann postet ein Bild unter #ACollarforRBG und #RBG
Als Häkelanleitung kann ich die von Sheila Toy Stromberg sowie eine kostenlose von unter diesem Link empfehlen.
Verwendet habe ich weißes Baumwollgarn, das ich danach mit Sprühstärke zum Tragen etwas gefestigt habe.

(1) Übersetzung: „Wirkliche Veränderung, langanhaltende Veränderung, geschieht ein Schritt nach dem nächsten.“
Deine Blogeinträge sind ohne Ausnahme einsichtig und scharfsinnig. RBG war ja Saddig im hebräischen Sinne des Wortes. Meinung Meinung nach sagt uns Gott etwas mit der Zeitwahl ihres Sterbens. Vorwärts in ihrem Geiste!
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