Ich streckte meine Beine dem ungewöhnlich warmen Herbstsonnenstrahlen entgegen und nahm einen kleinen Fruchtbonbon aus einer Süßigkeitentüte heraus. Während sich langsam der herrlich frische Fruchtgeschmack in meinem Mund ausbreitete, schloß ich genüßlich die Augen. Das Lachen und Jauchzen der Kinder am nahegelegenen Spielplatz drang durch die wohlig-warme Entspannung an diesem letzten Sonntag im Oktober und wärmte mir Herz und Seele.
„Noah!“, rief plötzlich eine energische Stimme und zerriß den Klangteppich fröhlicher Kinderlachen, „stopf nicht alle Süßigkeiten in dich hinein!“ Ich öffnete meine Augen und beobachtete eine junge Mutter, die ihrem vielleicht dreijährigen Sohn eine halbleere Bonbontüte aus den Händen riß. Einige Bonbons rieselten dabei auf den Boden. Der Sohn stampfte energisch mit dem Fuß auf, sammelte die verstreuten Süßigkeiten hektisch auf und schrie empört: „Menno, du bist fies!“ Dann verschwand er trotzig in einer Traube von Kindern, die sich um die einzige Rutsche auf dem Spielplatz gebildet hatte.
Noch wusste der Junge wenig von dem gesellschaftlichen, politischen und sozialen Geschehen um ihn herum. Ich beneidete ihn trotz des Eingreifens seiner Mutter um seine Leichtigkeit. Darum, dass Pandemie, Krieg, soziale Spannungen, Herausforderungen am Arbeitsplatz und private Sorgen weit von ihm weg schienen.
Die kleine Auseinandersetzung um Süßigkeiten erinnerte mich an Worte des brasilianischen Dichters, Kunsthistorikers und Musikers Marió Raul de Morais Andrade (9. Oktober 1893 – 25. Februar 1945), der sich in reifem Alter Gedanken um die Gestaltung seines Lebens machte:
Ich habe meine Jahre gezählt und festgestellt, dass ich weniger Zeit habe, zu leben, als ich bisher gelebt habe. Ich fühle mich wie dieses Kind, das eine Schachtel Bonbons gewonnen hat: die ersten essen sie mit Vergnügen, aber als es merkt, dass nur noch wenige übrig waren, begann es, sie wirklich zu genießen.
Ich habe keine Zeit für endlose Konferenzen, bei denen die Statuten, Regeln, Verfahren und internen Vorschriften besprochen werden, in dem Wissen, dass nichts erreicht wird.
Ich habe keine Zeit mehr, absurde Menschen zu ertragen, die ungeachtet ihres Alters nicht gewachsen sind.
Ich habe keine Zeit mehr, mit Mittelmäßigkeit zu kämpfen.
Ich will nicht in Besprechungen sein, in denen aufgeblasene Egos aufmarschieren.
Ich vertrage keine Manipulierer und Opportunisten.
Mich stören die Neider, die versuchen, Fähigere in Verruf zu bringen um sich ihrer Positionen, Talente und Erfolge zu bemächtigen.
Meine Zeit ist zu kurz um Überschriften zu diskutieren. Ich will das Wesentliche, denn meine Seele ist in Eile. Ohne viele Süßigkeiten in der Packung.
Ich möchte mit Menschen leben, die sehr menschlich sind. Menschen, die über ihre Fehler lachen können, die sich nichts auf ihre Erfolge einbilden. Die sich nicht vorzeitig berufen fühlen und die nicht vor ihrer Verantwortung fliehen. Die die menschliche Würde verteidigen und die nur an der Seite der Wahrheit und Rechtschaffenheit gehen möchten. Es ist das, was das Leben lebenswert macht.
Ich möchte mich mit Menschen umgeben, die es verstehen, die Herzen anderer zu berühren. Menschen, die durch die harten Schläge des Lebens lernten, durch sanfte Berührungen der Seele zu wachsen.
Ja, ich habe es eilig, ich habe es eilig, mit der Intensität zu leben, die nur die Reife geben kann.
Ich versuche, keine der Süßigkeiten, die mir noch bleiben, zu verschwenden. Ich bin mir sicher, dass sie köstlicher sein werden, als die, die ich bereits gegessen habe.
Mein Ziel ist es, das Ende zufrieden zu erreichen, in Frieden mit mir, meinen Lieben und meinem Gewissen.
Wir haben zwei Leben und das zweite beginnt, wenn du erkennst, dass du nur eins hast.
Marió de Andrade: Meine Seele hat es eilig

Nachdenklich zog ich einen kleinen Bonbon aus meiner Süßigkeitenpackung. Als Pfarrerin und aus eigener, manchmal schwerer Erfahrung, die ich sammeln musste, wusste ich, wie wichtig es war, das Gott geschenkte Leben nicht zu verschwenden, sondern mit Gutem anzufüllen. In meiner gegenwärtigen Arbeit als Polizeiseelsorgerin darf ich Menschen vor Ort begleiten, die Verantwortung übernehmen, die menschliche Würde verteidigen und für Wahrheit und Rechtschaffenheit einstehen. Ein Geschenk, das weitergeschenkt werden sollte.
Als die junge Mutter mit ihrem Sohn an mir vorbeilief, sah ich seinen sehnsuchtsvollen Blick auf meiner Süßigkeitenpackung liegen. Ich stand auf, grüßte die Mutter und fragte, ob ich ihm einen kleinen Bonbon anbieten dürfte. Als sie etwas zögerlich nickte, streckte ich dem Jungen die Packung entgegen. Er fasste hinein und nahm so viele Bonbons heraus, wie seine kleine Hand fassen konnte. Dabei strahlte er mich verschmitzt an. Vielleicht hatte ich hiermit einen kleinen, weiteren Verbündeten gefunden, der sich für das Wesentliche im Leben einsetzen würde?



Sehr aufschlussreich! Vor 9 Jahren dichtete ich, „I have more yesterdays than tomorrows“. Unsre Zeit wird knapp. Wir sollen denn geniessen, die Zeit, die wir noch vor uns haben.
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Sehr aufschlussreich! Vor 9 Jahren dichtete ich, ich ha e „more yesterdays than tomorrows.“ Wor sollen alle geniessen, die Zeit, die noch vor uns steht.
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