Die Kinder aus Korntal – von einem bewegenden Film und schockierenden Metaphern

Die Tankanzeige in meinem Auto leuchtete mit einem großen Tanksymbol in schrillem Gelb auf. Also steuerte ich auf meinem Weg zum Einkauf die nächste Tankstelle an, öffnete die Abdeckung des Tankdeckel und starrte auf den Schlauch, der unablässig Kraftstoff in mein Auto pumpte.

Plötzlich war alles wieder präsent. Der Abend im kleinen Münchner Kino „Monopol“ hatte mich zutiefst bewegt, denn dort wurde ein Film präsentiert, der sexualisierte Gewalt und unvorstellbares Leid dokumentierte: „Die Kinder aus Korntal“. Diese Geschehnisse waren unter dem Dach einer kirchlichen Gemeinschaft verbrochen worden und über Jahrzehnte verdeckt und verschwiegen worden.

„Ehemalige Heimkinder haben einen leeren Tank.“

Ehemaliger Pastor der Brüdergemeinde

So hatte es der ehemalige Pastor der Korntaler Brüdergemeinde vor laufender Kamera gesagt. Mir wurde schlecht, während mir der Benzingeruch an der Tankstelle in die Nase stieg. Sie hätten im Leben keine Chance und würden nichts mehr erreichen. Wie konnte ein Geistlicher, ein ordinierter Kollege solche Worte äußern, geschweige denn denken?

Korntal ist eine beschauliche Kleinstadt in Baden-Württemberg. Qua „Heilig“ hieß es im Film. Aber ab den 1950er Jahren wurden in den Heimen der pietistischen Brüdergemeinde hunderte von Kindern missbraucht. Sie wurden ausgebeutet, geschlagen und mussten sexualisierte Gewalt erleben. Detlev Zander nahm allen Mut zusammen und brach zusammen mit mehr als 150 ehemaligen Heimkindern sein Schweigen. Über 80 Täter und Täterinnen konnten festgestellt werden. Es ist der größte Missbrauchsskandal in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Der Film von Julia Charakter gibt sechs Betroffenen Raum, ihre Geschichten zu erzählen und zu sagen, was der Aufklärungsbericht ihrer Meinung nach verschweigt. Er zeigt schonungslos Perspektiven und Meinungen auf – auch in schmerzlich-direkter Weise die derer, die Teil der Glaubensgemeinschaft sind.

Heiße Tränen liefen an meinen Wangen herab, während ich versuchte, die harten, unbarmherzigen Worte des Pastors irgendwie zu verarbeiten. Waren diese Personen nicht in die Obhut ihrer Glaubensgemeinschaft gekommen, damit „ihr Tank“ wieder aufgefüllt werden würde? In großen Lettern stand schließlich an einem ihrer Gebäude: „Kommet her zu Mir alle“ (vgl. Mt 11,28) mit einem überlebensgroßen Christus, der schützend seine Hände über Kinder und Jugendliche ausbreitete. Sollten sie nicht in diesem Haus mit Kraft, Hoffnung und Perspektiven für eine Zukunft ausgestattet werden? Psalm 23,3 spricht davon, dass Gott die Seele eines in Not geratenen erquickt. Das schien der Pastor mit seiner unbarmherzigen Metapher und seinen harten Worten vergessen zu haben.

Er erquicket meine Seele.

Psalm 23,3

Während ich sprachlos im Publikum saß, hatte Landesbischof Christian Kopp den Mut, sich in einer Podiumsdiskussion dem schweren und wichtigen Thema der sexualisierten Gewalt unter dem Dach der Kirchen zu stellen. Als sich eine schmerzhaft-wichtige Diskussion entfaltete, wusste ich, dass er sich stellvertretend für unsere bayerische Landeskirche nicht weg ducken, sondern stellvertretend mit vielen aus unserer Kirche Verantwortung übernehmen würde und aus den schrecklichen Geschehnissen lernend Konsequenzen zum Schutz von Schutzbefohlenen etablieren würde.

Viel muss geschehen.

… Schuld muss eingestanden werden und um Vergebung bei den Betroffenen gebeten werden. Wer postuliert, im Glauben zu stehen, muss sich auch seiner Gebrochenheit und Sündhaftigkeit bewusst werden, um sich gemäß seiner Glaubensgrundlagen zu ändern.

… Die Betroffenen müssen anerkannt und Sorge um sie getragen werden. Klare Konsequenzen für das Geschehene müssen folgen. Wertschätzende Gespräche auf Augenhöhe müssen mit den Betroffenen geführt werden. Sie benötigen Unterstützung, wenn sie z.B. aufgrund von Alter und Gebrechen versorgt werden müssen. Eine gute und respektvolle Versorgung muss für sie sichergestellt werden.

… Schutzkonzepte müssen erstellt und schnellstmöglich etabliert werden. Dies ist wichtig, damit sich nicht an anderer Stelle wiederholt, was in solch schmerzhafter Weise in Korntal und an anderen Orten geschehen ist.

… Prävention muss stattfinden. Der Film „Die Kinder aus Korntal“ sollte ein fester Bestandteil in Schulungen von kirchlichen Haupt- und Ehrenamtlichen, in der Ausbildung von Vikarinnen und Vikaren, Lehrerinnen und Lehrern sein.

Vieles muss noch geschehen, damit nie wieder geschieht, was Detlev Zander, über 150 anderen in Korntal und an anderen Orten angetan wurde. Ihr Mut und ihr Beharren haben mich tiefbeeindruckt. Sie müssen unterstützt werden, um das Schuldhafte aufzuarbeiten und es in Gegenwart und Zukunft zu verhindern.

Mit einem Klacken wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und landete wieder in der Realität der Bamberger Tankstelle. Ich ließ den Tankhahn wieder in der Zapfsäule einrasten und schüttelte die Metapher des Korntaler Pastors wie einen schlechten Traum ab. Meine Unterstützung und die Unterstützung vieler anderen sei den Betroffenen sexualisierter Gewalt gewiss, damit nie wieder geschehe, was verbrochen worden war.

Lesen gegen Hass 5: Auseinandersetzung mit zwei Tabuthemen

Während ich durch den Türstock unsere Wohnung betrat, fiel mein Blick auf die in Blau und Silber gehaltene Mezuzah. Ich hielt traurig inne. Durch unsere Auslandszeit in New York, USA war uns das Judentum sehr ans Herz gewachsen. Tiefe Einblicke in deren religiöses Leben und vor allem Freundschaften hatten uns verändert. Was aber damals eher als Bedrohung hier und dort am Horizont der gesellschaftlichen Geschehnisse und meiner eigenen Bemühungen um eine Aufarbeitung deutscher Geschichte aufblitzte, wird inzwischen deutlicher spürbar: Der mancherorts sich entwickelnde politische und gesellschaftliche Rechtsrutsch ist bittere Realität und Antisemitismus stellt inzwischen für viele Jüdinnen und Juden eine reale Bedrohung dar.

Wir müssen uns aufgrund dessen dringend mit zwei schmerzhaften Tabuthemen auseinandersetzen:

Zunehmende Veralltäglichung von antisemitischem und rechtem Haß und Hetze: Wir müssen uns aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dem stellen, dass der Haß und die Hetze antisemitischen und rechtem Gedankengutes sich zunehmend in die gesellschaftliche Struktur einwebt und dadurch auf persönlicher Ebene alltäglich und damit geduldet – unter Umständen sogar willkommen geheißen – wird.

Islamischer Antisemitismus: In meinem Umfeld befinden sich nur friedfertige Musliminnen und Muslime. Dies sei ausdrücklich an dieser Stelle betont. Islamischer Antisemitismus ist die Ausnahme, nicht die Regel im Islam und leider ist dieser Haß auch in meiner eigenen Religion, dem Christentum, spürbar und wahrnehmbar. Wo auch immer dieser Haß auch auftritt, muss er bekämpft werden.

Aufgrund von Migration müssen wir uns in Europa und Deutschland der bitteren Form dieses alle Menschenwürde und -rechte verneinenden Hasses innerhalb des Islam bewusst werden und dürfen ihn weder ignorieren, noch verschweigen. Durch die Vorkommnisse der letzten Monate, die diesem Haß nicht nur ein Gesicht gegeben haben, sondern ihn als Bedrohung für unsere Gesellschaft und unsere freiheitliche Demokratie zeigt, ist ein genaues Hinsehen und Verstehen wichtig, um sprach- und artikulationsfähig zu sein. Dies ist wichtig sowohl für den pädagogischen als auch persönlichen Bereich, in dem wir uns engagieren sollten, um Menschenwürde und Grundrechte stark zu machen, damit Antisemitismus keine Chance erhält, sich in den Köpfen und Herzen auszubreiten.

In diesem Blogeintrag gehe ich bei der Vorstellung zweier Bücher nach Jesu Worten vor, die uns Christinnen und Christen anhalten, zuerst eine Eigenreflexion durchzuführen, bevor wir die Probleme anderer in den Blick nehmen. Jesus gibt uns hierfür klare Maßstäbe vor:

Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

Lk 6,41-41

Nach einem Blick in die deutsche Geschichte anhand einer Familienbiografie, bietet die zweite Leseempfehlung einen Blick auf dessen Auswirkungen im Nahen Osten.

„Columbusstraße: Eine Familiengeschichte: 1935 – 1945 | Wahre Familiensaga während des Zweiten Weltkriegs“ von Tobi Dahmen, erschienen 2024 bei Carlsen Comic

Fast automatisch kam unserer Familie das Gebet über die jüngeren und älteren Lippen. „Komm, Herr Jesu, sei unser Gast; und segne, was du uns bescheret hast.“ Seit Generationen gehört das kurze, prägnante Gebet zum Repertoire christlicher Traditionen am Essenstisch. Auch in unserer Familie findet es neben anderen, wie dem „Superman Prayer“, einem schöpfungstheologischen Gebet und einem äußerst kurz gehaltenen „Eil-Gebet“ oftmals Verwendung.

Während ich die Graphic Novel „Columbusstraße“ las, staunte ich nicht schlecht, als die Familie von Tobi Dahmen eben selbiges Gebet am Essenstisch sprach. Ein unsichtbares Band war im Nu zwischen ihnen und mir geknüpft, das mich zwang über die Vergangenheit meiner Familie nachzusinnen.

Tobi Dahmen ist mit der imposanten Graphic Novel „Columbusstraße“ ein monumentales, eindrückliches Werk gelungen, das den Leser und die Leserin umgehend mit in den Bann zieht. Hierbei dient dem Autor seine eigene Familiengeschichte als Grundlage zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der dort geschehenen schleichenden Veralltäglichung von antisemitischem und rechten Haß und Hetze.

In dieser Graphic Novel dürfen wird seine Familie, die im wohhabenden Düsseldorf-Oberkassel wohnt, von 1935 bis 1945 begleiten und erleben mit, wie das diktatorische NS-Regime sich bis in die kleinsten Abläufe des Lebens erstreckte. Diese Durchdringung machte eine gefährliche Verbreitung und Verankerung rechten und antisemitischen Gedankengutes möglich.

Mich hat das 500 Seiten dickes Ausnahmewerk innerhalb der Graphic Novel Szene zutiefst bewegt. Und ich stelle mir immer wieder bei ganz alltäglichen Tätigkeiten wie dem genannten Tischgebet die Frage, ob sich in gewohnte Abläufe auch Zellen des Hasses und der Hetze in mir und meinem Umfeld manifestiert haben. Eine Frage, derer wir uns alle stellen müssen, damit nicht geschieht, was Millionen von unschuldigen Menschen das Leben kostete. Lassen Sie uns gemeinsam auf der Hut sein, damit die Veralltäglichung von antisemitischem und rechtem Haß und Hetze nicht bittere Realität in Deutschland, Europa und der Welt wird.

„Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand“ von Matthias Küntzel, erschienen 2019 bei Hentrich & Hentrich

Bundesverband RIAS dokumentierte im Jahr 2023 die besorgniserregende Zahl von 4.782 antisemitischen Vorfällen. Dies entspricht einer Zunahme von über 80% im Vergleich zum Vorjahr. Aus meiner Sicht ist hierbei ein direkter Zusammenhang mit dem Angriffskrieg der Hamas gegen Israel zu ziehen.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen müssen uns nachdenklich machen und leider müssen wir uns, ob wir es wollen oder nicht, mit einem weiteren Tabuthema auseinandersetzen: dem islamischen Antisemitismus. Diesem Thema müssen wir uns stellen, um zu informieren, zu warnen und eine gelungene Prävention in Familien, Schulen und Bildungseinrichtungen umsetzen zu können.

Das Buch „Nazis und der Nahe Osten“ von Matthias Küntzel sei hierzu anempfohlen, dessen Lektüre schockierend und aufrüttelnd zugleich ist. Mir war das leider durchaus nachhaltige Wirken des tödlichen NS-Regimes im Nahen Osten in dieser Form nicht bekannt gewesen. Die Verquickung von radikalem Islam und Antisemitismus erschien mir als äußerst unlogisch – in September 2016 hatte ich in New York die Auswirkungen eines islamistischen Bombenanschlages als ehrenamtliche Seelsorgerin der NYPD mit begleitet und konnte den Haß, der durch den Täter gegen sog. „Nichtgläubige“ richtete, nicht nachvollziehen. Das Buch von Küntzel gibt mir die Möglichkeit, manches besser in seinen Zusammenhängen verstehen zu können.

Zwischen 1937 und 1945 scheute sich das NS-Regime nicht, Antisemitismus im Nahen Osten zu nähren. Nazi-Deutschland hatte bereits in den Dreißigerjahren sich judenfeindlicher Zitate aus dem Koran bedient und für die eigenen Propaganda in der arabischen Welt instrumentalisiert. Von Zeesen, einem südlich von Berlin stationierten Kurzwellensender, wurde der islamische Antisemitismus gezielt unter Muslimen verbreitet.

Matthias Küntzel beleuchtet dieses Tabuthema deutscher Geschichte und zeigt wie sich das Judenbild im Islam zwischen 1937 und 1948 unter dem Einfluss einer ausgefeilten arabischsprachigen NS-Radiopropaganda veränderte. Hierbei stellt er heraus, dass die Begegnung des Nahen Ostens mit der Nazi-Ideologie zwar kurz gewesen war, aber noch lange nachhallt.

Das Buch stellt eine wichtige Grundlage dar, um islamischen Antisemitismus verstehen zu können und ihm vorzubeugen. Pädagoginnen und Pädagogen sei es besonders ans Herz gelegt, aber auch allen, die in der Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklungen Erklärungswege suchen. Erst wenn wir begreifen, wie stark die moderne Nahostgeschichte von diesen Nachwirkungen des Nationalsozialismus geprägt ist, werden wir den Judenhass in dieser Region und dessen Echo unter Muslimen in Europa vielleicht richtig deuten können.

Sport & Gebet – von Notfallnummern und wichtigen Mechanismen der Gesunderhaltung

Meine Lauffrequenz hatte sich nach anfänglichen Mühen eingependelt. Mit jedem Schritt, den ich auf der roten Tartanbahn vorankam, wurde ich ruhiger während das vor wenigen Minuten Gehörte sich langsam ordnete und der Nebel des Seelsorgegesprächs sich allmählich lichtete. Mein Atem folgte nun einem geordneten Rhythmus während mein Gebet zu Gott aufstieg, indem ich Ihm anvertraute, was eine Person mir erzählt hatte.

Vor einigen Wochen war ich auf einer Podiumsdiskussion von einem Gast gefragt worden, wie ich mit der Last des Erlebten, die Polizistinnen und Polizisten ertragen und durchleben müssten, als Seelsorgerin umgehen würde. Welche Mechanismen oder Möglichkeiten hätte ich, damit auch ich dienstfähig und gesund bliebe? Meine Antwort war einfach und simpel: Sport & Gebet. Nicht wenige waren überrascht.

Ich will nicht verleugnen, dass ich in den dreieinhalb Jahren Polizeiseelsorge in Bamberg eine Vielzahl von Personen begleitet habe, die aufgrund von Grenzsituationen belastet sind und daran auch zu zerbrechen drohen. Der Dienst eines Polizisten und einer Polizistin ist schwer – viele sehen Dinge, die wir Bürgerinnen und Bürger, wenn überhaupt (und Gott bewahre uns vor mehr) ein oder zwei große vehemente Erfahrungen erleben müssen. Für diese Berufsgruppe aber gehören Gewalt, Übergriffe und Verletzungen zu ihrem Alltag. Mich hat das, was ich in der Polizeiseelsorge höre und mit begleite, sehr demütig gemacht. Meine seelsorgerliche Begleitung in der Polizei, die vor über neun Jahren in New York ehrenamtlich begann und zu meiner gegenwärtigen Tätigkeit in der Bundespolizei führte, hat meinen eigenen seelsorgerlichen Horizont sehr erweitert.

Als ich das erste Mal vor meinem Büro stand, musste ich schmunzeln, denn die Zimmernummer trug die europaweite Notrufnummer 112. Ich hatte keine Ahnung, dass diese Nummer so gut zu meiner Tätigkeit im AFZ Bamberg passen würde. Wie stimmig die 112 ist, weiß ich nun einige Jahre später.

Auch in der Bibel gibt es eine Notfallnummer, die aber etwas länger ist: 5015. In Psalm 50 heißt es:

Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.

Psalm 50,15 (LUT)

Schon bald in meinem Dienst in Bamberg versuchte ich aufgrund der bewegenden Begleitungen einen gangbaren Mechanismus für mich zu finden. Denn das, was mir anvertraut wurde, nagte manchmal schwer in mir. Nach einiger Zeit war es Sport kombiniert mit dem Gebet als einem „Notruf“, die mir halfen. Ob Tartanbahn im AFZ oder Fitnessstudio, nach einiger Zeit kommt mein Körper durch die seit langem eingeübten Bewegungen zur Ruhe und mit ihm auch Geist und Seele. An dieser Schnittfläche öffnen sich meine Gedanken und mein Herz zum Gebet, das Gott das mir Anvertraute übergibt. Denn bei vielem kann ich nur zuhören, begleiten und einfach da sein. Dies sind für mich in meiner beruflichen Identität als Seelsorgerin menschliche Grenzerfahrungen, die ich erlebe, wenn ich andere in deren Grenzsituationen begleite, die sie im Dienst erleben müssen. Durch Sport und Gebet verharre ich nicht in der Hoffnungslosigkeit, sondern lege alles Leid und allen Schmerz, der mir als Seelsorgerin anvertraut wird, in Gottes Hände. Dafür bin ich dankbar und ohne diesen Mechanismus der göttlichen Notfallnummer könnte ich meinen Dienst nicht verrichten. Der Psalm drückt die Reaktion des Menschen auf eine solche Möglichkeit etwas antiquiert als „Preisen“.

Inzwischen wurden meine Schritte langsamer und gingen in ein schnelles Gehen über, während mein Atem anfing sich zu beruhigen. Mein Körper hatte die durch das Seelsorgegespräch ausgelösten Aggressionen abgebaut. Meine Gedanken waren wieder klar und mein Herz aufgrund des Gebetes ruhig. Nach einer Dusche würde ich wieder bereit sein für die nächsten dienstlichen Herausforderungen. Ich nickte einigen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern, die gerade die Tartanbahn zum Sport betraten, aufmunternd zu und erfreute mich an ihrem herzlichen Grüßen. Ob im übertragenen Sinn 112 oder 5015 – da ist jemand, der zuhört und da ist. Entweder im Auftrag Gottes oder ganz direkt.


Bitte vergessen Sie nicht, dass Sie in schweren Situationen nie allein sind. Für viele Gläubige ist das Gebet der Ort, an dem die Last abgegeben werden kann. Aber manchmal versagt die Stimme unseres Herzens und wir brauchen eine Person, die uns zuhört und Zeit für unsere Sorgen und Nöte hat

In Oberfranken sei Ihnen die Nummer der Telefonseelsorge Oberfranken ans Herz gelegt. Alle Telefonseelsorgestellen sind über das deutsche Festnetz und per Handy gebührenfrei, vertraulich und anonym erreichbar. An 365 Tagen können Sie rund um die Uhr unter folgender Telefonnummer ein Person erreichen, die Ihnen zuhört:

0800/1110111 und 0800/1110222

Dabei können Sie sich darauf verlassen, dass alle Anrufe anonym und vertraulich sind. Ihre Rufnummer erscheint nicht auf dem Display und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterliegen so wie ich als Polizeiseelsorgerin der Schweigepflicht.

Blaulichtbeffchen – liturgische Einsatzkleidung für eine evangelische Polizeiseelsorgerin

Vorsichtig strich ich über mein neues Beffchen, auf dem seit kurzem zwei Blaulichter prangten. Mir war, obwohl es um mich herum ganz still war, als ob der inzwischen vertraute Einsatzton, der oftmals mit dem Blaulicht verbunden wird, mitten in die mittägliche Ruhe hinein ertönte. Nun lag dieses besondere liturgische Accessoire einsatzbereit vor mir.

Das Beffchen gehört zur traditionellen liturgischen Kleidung eines evangelischen Pfarrers und einer Pfarrerin. Mehrere darf ich mein Eigen nennen. Eines ist geschmückt mit Trauringen, ein anderes zeigt ein Kirchenschiff, Regenbogen und lachende Gesichter, ein weiteres ist bestickt mit einem goldenen keltischen Kreuz. Mein Ältestes ist mit ausdauernder Hand bestickt und durch Hohlsaum mit einem zarten Kreuz als Mittelpunkt der beiden Seiten versehen.

Als ich mich vor kurzem mit meinem Wunsch, auch ein Blaulichtbeffchen mein Eigen nennen zu dürfen, mich an Beate Baberske und Rosalia Penzko wendete, die als Team der Paramentenwerkstatt wahre Textilkunstwerke für Kirchen und Geistliche herstellen, wurde mein Wunsch Wirklichkeit.

Einstellung vor dem Besticken.

Nach Rücksprache über Symbol, Material und Größe, durfte ich vor Ort in der Paramentenwerkstatt sehen, wie mein Blaulichtbeffchen entstand.

Solltet ihr ebenso einen besonderen Wunsch an liturgischer Kleidung haben, kann ich euch das Team der Paramentenwerkstatt Neuendettelsau als Ansprechpartnerinnen wärmstens ans Herz legen. Und selbstverständlich würde ich mich freuen, wenn ihr mir ein Bild eures Beffchens zusendet und / oder es postet!

Ich freue mich bereits jetzt auf den ersten liturgischen Einsatz mit meinem „Blaulichtbeffchen“. Selbstverständlich ohne polizeilichen Einsatzton, dafür mit ganz viel Evangelium!

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Von Cartoons, Müllvermeidung und biblischen Geschichten

Vorsichtig trocknete ich die frisch abgespülten „Druckverschlusstüten“ ab. Aus Übersee hatten wir einige wenige Packungen dieser praktischen Haushaltshelfer mitgebracht. Nun aber gingen sie nach dreieinhalb Jahren langsam zu neige. Ich grinste in mich hinein während ich mit dem weichen Geschirrtuch die Ecken austrocknete. Meine Großmutter (Gott hab sie selig) würde jubilieren, denn was uns als Enkel vor über vierzig Jahren befremdlich vorkam, war nun Teil meiner Haushaltsroutine geworden: Plastiktüten, erst recht die wertvollen Druckverschlusstüten, mehrfach zu verwenden. Damals kugelten wir Enkel uns heimlich vor Lachen, denn wozu sollte man sich solche Mühe um eine gebrauchte Plastiktüte machen? Sie gehörte in den Müll – es gab ja schließlich genug neue zu kaufen. Müllvermeidung war damals, so bitter dies nun zu lesen ist, noch kein großes gesellschaftliches Thema.

Nicht schlecht staunte ich bei der Eröffnung der Ausstellung „Jetzt noch die Kurve kriegen“ der Stadt Bamberg als mir zum Thema Plastikmüll eine sehr eindrückliche Visualisierung entgegentrat, die mir mahnend vor Augen führte, wie wichtig Vermeidung von Müll ist:

Ein völlig verärgerter Jesus geht über ein verschmutzte Wasseroberfläche und tritt dabei eine alte Dose wütend in die Luft. Eine weiße Gedankenblase gibt dabei Einblicke in seine Gedanken: „Wenn kein Wunder geschieht, kann bald jeder übers Wasser laufen…“

Rainer Unsinn

Als Theologin und Familienfrau hat es mir dieser Cartoon von Rainer Unsinn angetan, denn für mich klingt im Cartoon eine biblische Geschichte an, die mir sehr am Herzen liegt:

Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!
Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?

Mt 14,25-31 LUT

Übers Wasser gehen. Ein Wunsch, den Petrus hegte. Ob wir das wirklich wollen? Unsere Meere und Gewässer so lange „zumüllen“ bis wir selbst als Menschen darauf laufen können? Schon jetzt befinden sich in unseren Weltmeeren gefährliche Ansammlungen an Müll. Griechische Fischer ziehen jedes Jahr unglaubliche 50 Millionen Tonnen Müll als „Beifang“ aus dem Meer.

Wird uns nicht dabei wie Petrus damals Angst und Bang? Während all der Müll unsere Meere verstopft und unsere Umwelt mit Makro- und Mikropartikel vergiftet werden? Ja, irgendwie sind wir doch Kleingläubige – kleinkariert bedacht auf unseren Vorteil, unsere Bequemlichkeit. Lieber keine Arbeit. Wo das Plastik dann letztendlich hinkommt, verliert sich im gedanklichen Nebel der eigenen Komodität.

Ich sah auf meine inzwischen handtuchtrockenen Druckverschlusstüten, die ich über die daneben stehenden Trinkgläser stülpte, damit sie vollständig austrocknen würden. Ganz Müll vermeiden würde in unserem Haushalt schwierig werden, aber ein wenig mehr Achtsamkeit, das würde sich lohnen und ganz nebenbei Erinnerungen an meine verstorbene Oma wecken.


Ausstellungstipp

Noch bis zum 22. Juli ist die Karikaturenausstellung im Eingangsbereich des Klinikum Bambergs für alle Besucherinnen und Besucher geöffnet. Es lohnt sich sehr und hilft, dass wir uns und unser Umweltengagement hinterfragen!

Anbei noch einige andere Impressionen:

My dear Jewish friend 21: Bargain prices, German herbal liquor and history’s warning

KNÜLLER-PREIS. BARGAIN PRICE. Bold red letters on pure white. I stared at the paper advertisement as I ran through the offers at our local discounter. It was the week after the European election. We had suspected that there would be a shift to the extreme right (and maybe even left?), but the shift hurt in ways I can’t really put into words.

Numerous gave their precious votes, because the campaign pledges of the extreme parties seemed such a bargain. KNÜLLER-PREIS. BARGAIN PRICE. They would secure their wishes. But I wouldn’t be so sure – they numbed voters by catchy messages, cheap promises and easy answers. In many ways the history of the German herbal liquor „Jägermeister“ and the campaign strategy of the extremist parties fit very well. Both intoxicate. Both have roots in right-winged hatred.

The label on the German herbal liquor „Jägermeister“ states 1878, but this date is the founding of the original vinegar factory. Curt Mast, son of the company’s founder, shifted the production away from vinegar to spirits and wines. In 1934 he invented the famous liquor. It was the year, in which Hermann Göring was nominated „Reichsjägermeister“ to be the highest „professional hunter“ in Germany – the term Jägermeister hadn’t been used for centuries. Just one year later, Curt Mast introduced his new herbal liquor and named it after Göring, whom he knew well. The design of the bottle was held in green with a deer head and cross. There are photographies of Hermann Göring as Reichsjägermeister with his prey showing huge deer antlers. Many therefore even called the herbal liquor „Göring-Schnaps“. (1)

Hans-Jörg and Gisela Wohlfromm: „Und morgen gibt es Hitlerwetter!“ Alltägliches und Kurioses aus dem Dritten Reich, p. 168.

It is this historic background that makes me nervous as extremism seems to creep into our society disguised as a bargain. KNÜLLER-PREIS. BARGAIN PRICE. Now it is on the shelves of democratic elections like this Schnaps is in my local supermarket. But we must be warned of how these extremists operate: they use symbols present in everyday life and can source each other with their right (or left) extremist ideology. Popular songs, pictures and numbers („88“) seem harmless, but have a hidden code extremists spot and identify. Dog whistling is such a dangerous mechanism. Nonetheless, it is just the first step. As soon as they have established themselves as the largest offer on the shelves of democracy we will be doomed.

A small lesson of history on a supermarket shelf.

I suddenly felt sick as I passed the display of the herbal liquor on my way to the cash register. Small, medium and large quantities – the latter only in a maximum quantity of five bottles. We should be vigilant that our democracy will not become a KNÜLLER-PREIS, a BARGAIN PRICE for extremists.


(1) see Hans-Jörg and Gisela Wohlfromm: „Und morgen gibt es Hitlerwetter!“ Alltägliches und Kurioses aus dem Dritten Reich, p. 167.

Lesen gegen Hass 4: im Nachgang der Europawahl Lernen wider Angst und Rechtsextremismus

TikTok hat ganze Arbeit geleistet. Das müssen wir im Nachgang der Europawahl zähneknirschend anerkennen. Die bekannte soziale Plattform wurde effizient von der Partei AfD und vielen anderen rechten Influencern für ihre rechtsextremen Zwecke genutzt. Dafür haben andere Parteien, deren Vertreter und Institutionen mit vielfacher Abwesenheit geglänzt oder sich nur punktuell dort eingebracht. Ich nehme mich dabei nicht aus – obwohl ich digitalaffin bin, bin ich vor TikTok zurückgeschreckt. Die Plattform stellt nicht nur eine datenschutzrechtliche Katastrophe dar, sondern aufgrund meiner gegenwärtigen Tätigkeit als Seelsorgerin in einer Sicherheitsbehörde habe ich hinsichtlich dieser große Vorsicht walten lassen.

Doch die Stimmanteile innerhalb der Jungwähler bei der gerade durchgeführten Europawahl ließen mich erschrocken aufhorchen und veranlaßten mich, einen Beitrag der Tagesschau hinsichtlich dieser Altersgruppe in meiner privaten Storyline zu reposten. Eine Kollegin schrieb mir hierauf: „So schrecklich. Das sind unsere AnwärterInnen.“

Sie hat recht. Es sind diejenigen, die wir Lehrerinnen und Lehrer, Dozentinnen und Dozenten gegenwärtig in den unterschiedlichen Schultypen und Universitäten Deutschlands unterrichten. Die ab sechzehn wählen dürfen. Es ist auch die Generation, die gerade in meinem eigenen Haushalt aufwächst. Viele Diskussionen entbrannten in den Tagen vor der Europawahl am heimischen Essenstisch. Besonders erstaunlich war für mich, dass sich in ihren Worten eine gewisse Ratlosigkeit, Skepsis und Angst breit machte, die ich meinen eigenen Kindern und dieser heranwachsenden Generation nicht wünsche. Vielmehr würde ich ihnen gerne einen Zukunftsoptimismus zusprechen, mit dem meine Generation aufwachsen durfte: einem Europa, dessen Grenzen sich öffneten; einer Vernetzung über Länder hinweg, die neue Möglichkeiten und Freiheiten schaffen würde. Aber wir müssen uns dem stellen, dass dieser Optimismus im Nachgang der Pandemie, mit den vielen Kriegen, kriegerischen Auseinandersetzungen und wirtschaftlichen Herausforderungen einem Zögern, bei manchen sogar einem Zukunftspessimismus gewichen ist.

Dies hat selbstverständlich Auswirkungen auf die politische Struktur von Ländern. Und diese emotionale „Großwetterlage“ hat nicht nur die junge Generation erfasst, sondern reicht weit darüber hinaus.

Gemeinsam mit den Sechzehnjährigen hat ganz Europa gewählt. In Deutschland war es mit 64,8 % die höchste Wahlbeteiligung seit der Wiedervereinigung. Eine durchaus stattliche Zahl, die erfreuen sollte. Interessant aber wird es, wenn man sich das Wahlverhalten genauer ansieht. Hierbei interessieren vor allem aufgrund der deutschen Geschichte die Ergebnisse im Bereich der rechtsgerichteten Parteien – im Fall Deutschlands der AfD. Während viele Nachrichtenportale und Printmedien die Erstwählerinnen und -wähler hervorheben, sollten wir etwas vorsichtiger sein, denn die Klimax besteht vor allem bei denen, die mit 35-44 Jahren mitten im Leben stehen. Die Stimmanteile fallen erst wieder im Alterssegment 70 und älter.

Was also treibt alle diese Personen in die Arme einer rechtsgerichteten Partei? Eine Frage, die wir uns alle stellen sollten. Erst recht diejenigen unter uns, die in Bildung verortet sind. Mag dies eine Schule, eine andere Bildungsstätte oder eine religiöse Einrichtung sein. An allen Orten, an denen Bildung geschieht, sollten wir miteinander dringend ins Gespräch kommen, was uns Angst macht, um uns dieser zu stellen und gemeinsam gangbare Wege zu finden. Denn nichts geringeres als unsere Demokratie steht hier auf dem Spiel. Eine Demokratie, die aus der Katastrophe des zweiten Weltkrieges, seinen Morden und Unrecht als Gegenmodell entstanden ist, die eine gerechtere Welt zum Zentrum hat.

Für mich ist der Ort, an dem Ängste ausgesprochen werden dürfen und Bildung stattfindet, gegenwärtig der berufsethische Unterricht in der Bundespolizei. Bei Ihnen mag es ein ganz anderer Ort sein. Wie wir den Zahlen der Europawahl entnehmen können, müssen solche Austausch- und Bildungsmöglichkeiten für alle Altersgruppen geschaffen werden.

Ich stelle im folgenden vier Bücher vor, die für einen solchen Austausch durchaus von Vorteil sein können. Für mich sind diese die Grundlage eines Unterrichtsmoduls, das ich gegenwärtig für ein Seminar des Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrums erstelle. Neben einer grundsätzlichen Information über Rechtsextremismus und Angst, wird es den Bogen von Alltag hin zu rechtsextremen Hass und der eigenen Verantwortung beschreiten. Im Dialog sollte hierauf folgend Wege der Hoffnung gemeinsam gesucht und beschritten werden.

Den Anfang macht ein Buch, das hilft, die Ängste zu verstehen, die uns alle erfassen können und auf denen Rechtsextremismus ein Einfallstor in die Gedanken und Herzen von Menschen findet.

„Logik der Angst. Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln“ (Berlin 2023) von Peter R. Neumann

Das Buch von Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, gibt einen hilfreichen Überblick über die einflussreichsten Denker und Werke rechtsextremer Strömungen. Auf übersichtlichen 166 Seiten klärt der Autor in leicht verständlicher Sprache über die Geschichte des Rechtsextremismus und seine aktuellen Erscheinungsformen auf. Das Buch gibt keine konkreten Handlungsanweisungen, kann aber als Verständnisgrundlage für Ängste dienen, die Menschen in die Arme rechtsextremer Parteien treibt.

Aufbauend auf diesem empfiehlt sich als Einstieg in das Thema eine Perspektive, die vom Alltäglichen her sich entfaltet und Personen in ihrem Alltag, aber auch dem Befremdlichen einer Zeit abholt, in der Rechtsextremismus gesellschaftlich etabliert war.

„Und morgen gibt es Hitlerwetter! Alltägliches und kurioses aus dem Dritten Reich“ (Frankfurt am Main 2006) von Hans-Jörg und Gisela Wohlfromm

Wer kennt ihn nicht, den olympischen Fackellauf? Oder die „Goldene Kamera“, die jedes Jahr in Deutschland verliehen wird? Oder den Eintopf, der ab und an seinen Weg auf den Essenstisch zur Freude der Erwachsenen oder zum Leid so manchen Kindes findet?

Alle genannten haben ihre Wurzeln und ihre Entstehung im Nationalsozialismus.

Um Geschichte verstehen zu können und mit der eigenen Lebensumgebung vergleichen zu können, lohnt sich ein Blick in den Alltag des Dritten Reiches. Das Buch greift einiges Bekannte, aber noch mehr Unbekanntes auf und schafft dadurch eine notwendige Brücke und Diskussionsgrundlage.

Mit dem hierdurch eröffneten Problemhorizont kann man dann einen mutigen Schritt zu dem wohl destruktivsten Buch der Weltgeschichte wagen, um es zu entzaubern und vor seinen dort niedergeschriebenen Ideen und Konzepten zu warnen.

„Mein Kampf. Die Karriere eines deutschen Buches“ (Stuttgart 2015) von Sven Felix Kellerhoff

Dieses sollte in Kombination mit der wissenschaftlichen Ausgabe des „Originals“ besprochen werden:

„Hitler, Mein Kampf: Eine kritische Edition“ (München – Berlin 2020)

Sven Kellerhoff gelingt mit seinem Buch ein wichtiger Einblick in die bekannteste Hetzschrift der Welt und des meistverkauften deutschen Buches aller Zeiten. Die Wirkung dieses Buches hatte im Nationalsozialismus verheerende tödliche Folgen, die bis heute nicht nur nachwirken, sondern neue Nachfolge und Nachahmungen finden.

Das Buch gibt Einblicke in die Entstehung der Hetzschrift Hitlers, die ein tödliches Lügenkonstrukt hervor schälen, das viele und bis zum heutigen Tage Rechtsextreme inspirieren. Hitler wird hierin als Verfälscher seiner eigenen Biografie und als korrupter Steuerhinterzieher entlarvt. Ein entzauberndes, wichtiges Buch, das vor solchen und anderen mörderischen Menschen und deren Ideologien warnt.

Einige von vielen Büchern, die im Nachgang der Europawahl helfen können, sich der immer deutlicher werdenden Angst zu stellen und gemeinsam auf die Suche nach demokratischen Wegen zu machen.

Lest gegen Hass! Mit euren Schülerinnen und Schülern. Mit euren Kolleginnen und Kollegen. In Familien und Freundeskreisen.

Gebt Menschen die Möglichkeit, die sie bewegende Angst auszusprechen, aber daraufhin umso mehr einer Hoffnung, die in schweren Zeiten bessere Wege der Demokratie weisen kann. Damit statt Hass in den Herzen und Gedanken der euch Anvertrauten nicht auf fruchtbaren Boden falle.

Das trotzige Prinzip des Osterwunders – oder: Die Osterkerze, die nicht aufgeben wollte

Der Ostermorgen war endlich angebrochen. Auf unserem Rückweg von der Osternacht tauchten wir in den Gesang der Vögel ein – fast fühlte es sich so an, als ob sie für uns frühe Gottesdienstbesucherinnen und -besucher einen vielstimmigen Osterjubel angestimmt hatten. Unsere vier Kinder hatten ihre Osterkerzen in die Fahrradkörbe gestellt und waren voraus gefahren. Trotz des alljährlichen Wettbewerbs, wessen Osterlicht erfolgreich leuchtend nach Hause kam, spurteten sie eilig voraus. Schließlich wartete nach der langen Fastenzeit ein buntes Osterfrühstück mit allerlei Leckereien, auf die sie viele Wochen verzichtet hatten.

Ich lief mit dem Osterlicht in der einen und dem Fahrradlenker in der anderen Hand hinter ihnen her und war einfach nur froh, dass endlich Ostern war. Nach mehreren Wochen durchzogen mit vielen dienstlichen Herausforderungen und einer Erkrankung, der ich nicht die Aufmerksamkeit schenken konnte, die sie eigentlich gebraucht hätte, waren das Wunder des Osterfestes das, was meine Seele brauchte.

Unser ältester Sohn wartete lachend auf mich während er auf seinen Fahrradkorb nebst Schutzblech deutete. „Schau mal, Mama!“, er schüttelte den Kopf, „Die Kerze war umgekippt, aber hat noch gebrannt.“ Auch ich musste das Lachen anfangen, denn das Schutzblech sah aus als ob Vögel im Tiefflug sich fleissig erleichtert hatten. „Das sieht ja aus als ob dein Fahrrad direkt unter einem beliebten Baum für Vögel stand.“

Von Vögeln schrieb auch Hilde Domin in einem Gedicht, das für mich in vielerlei Weise emotional mit Ostern verbunden ist und für mich fast wie eine kleine Anleitung darstellt, wie ich dem Osterwunder gegenübertreten sollte:

Nicht müde werden /

sondern dem Wunder /

leise wie einem Vogel /

die Hand hinhalten

Hilde Domin

Nicht müde werden in Herausforderungen. In Trübsal. Krankheit. Tod. Das ist schwer. Und manchmal will man vielleicht auch gar nicht mehr die Hand hinhalten, weil die Muskeln aufgrund des Widerstands und der vielfach wiederholten Bewegung schmerzen, die Knochen sich anfühlen als ob sie unter dem Druck brechen.

Doch das Osterfest spricht mitten hinein in solche Situationen ein trotziges Trotzdem und streckt Herausforderungen, Trübsal, Krankheit und Tod mutig die Stirn entgegen. Denn Jesus verspricht uns, auch in den Dunkelheiten des Lebens präsent zu sein und die Finsternis als Licht des Lebens zu erleuchten.

Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.

Joh 8,13

Dieses Versprechen Jesu nimmt kaum die uns umgebende Finsternis weg, aber so wie ein einziges Licht in der Dunkelheit Orientierung schenkt, so hält er die Situation mit aus und schenkt trotz allem Hoffnung.

Das trotzige Prinzip des Osterwunders.

Die Osterkerze, die nicht aufgeben wollte, hatte mich daran erinnert. Diese Hoffnung ist nicht immer wunderschön, sondern kommt manchmal wie ein unkontrollierter Ansturm von Vögeln und deren erleichternder Spuren einher. Ein wunderbar unlogisches Trotzdem im Chaos des menschlichen Lebens.

Der Duft der Erinnerung

Vorsichtig drückte ich auf die leicht verblichene Creme-Tube, damit nur nicht zu viel des wertvollen Inhaltes herauskam. Während ich mich damit einkremte, verbreitete sich umgehend der wohlbekannte Duft von süßer Vanille im Raum und würde mich in den nächsten Stunden wie eine unsichtbare Hülle begleiten.

Ich schloss meine Augen und wurde weggetragen aus meiner verregneten deutschen Stadtwohnung ins ferne USA. Länger zurückliegende Kindheitserinnerungen, aber auch schöne Erinnerungen an meine Zeit in New York waren mir durch diesen speziellen Vanille-Duft wieder gedanklich so nah. Die Creme war die letzte, die ich als Souvenir vor drei Jahren mitgebracht hatte. Nun würde sie bald zu neige gehen.

Wie Weihrauch werdet ihr Duft verströmen und aufblühen wie eine Lilie. Erhebt eure Stimme zum Lobgesang und preist den Herrn für all seine Werke. Verherrlicht seinen Namen und stimmt in sein Lob ein mit Singen und Klingen,…

Sir 39,14-15a

So steht es in Jesus Sirach geschrieben. Ich stockte in meinen Gedanken. Selbstverständlich preise ich Gott für all das, was Er getan hat. In meinem Leben sehe ich viele Segensspuren:

Meine Familie…

Gesundheit…

Genug zu Essen und ein Dach überm Kopf…

Menschen, die mir vertrauen…

Personen, die mir nahestehen…

Auslandserfahrungen…

… und so vieles mehr. Aber es gibt auch Zeiten, an denen der Duft der Erinnerung verblasst oder gar nicht mehr da ist. Wo anstatt süßer, verheißungsvoller Vanille andere Nuancen schwer in der Luft schweben und das Atmen erschweren. Manchmal in mir sogar das Gefühl des Erstickens hervorrufen.

Als ich an diesem Tag wieder so haderte während meine Creme fast zu neige war, half mir ein Blick in die Bibel. Dort steht nämlich weiter:

… preist ihn und sprecht so:
Alle Werke des Herrn sind sehr gut; und was er gebietet, geschieht zur rechten Zeit. Und man darf nicht sagen: Was soll das? Wozu ist das? Denn zur rechten Zeit tritt alles ein. Durch sein Wort stand das Wasser wie eine Mauer und durch seine Rede die Wasser, als wären sie eingefasst. Jeder seiner Befehle zeigt sein ganzes Wohlgefallen, und wenn er rettet, kann’s keiner hindern.
Aller Menschen Werke sind vor ihm, und vor seinen Augen ist nichts verborgen. Er blickt von Ewigkeit zu Ewigkeit, und nichts ist unbegreiflich vor ihm. Man darf nicht sagen: Was soll das? Wozu ist das? Denn jedes Ding ist zu seinem Zweck geschaffen. […]

Sir 39,19b ff.

Ich nahm mir fest vor, nicht mehr so viel an Gottes Plan zu hadern und zu hinterfragen. Gottvertrauen war es, das ich mir selbst mahnend vornahm, in den Mittelpunkt zu stellen.

Einige Tage später bummelte ich durch eine lokale Drogeriekette. Wie magisch angezogen griff ich ein saisonales Duschgel aus dem Regal. Sein Inhalt aus Vanille, Macadamia und Kakaobutter verhieß Wunderbares. Ich öffnete den Deckel des Duschgels und wurde umgehend eingehüllt von einem wohlbekanntem Duft. Wer weiß, vielleicht würden sich nach drei schweren, sehr durchwachsenen Jahren zurück in Deutschland doch irgendwann auch hier Erinnerungen einstellen, die ich gerne mit auf meinen Lebensweg nehmen könnte… Das passende Duschgel jedenfalls stand nun als Ablösung zur amerikanischen Creme bereit.

Ramadan-Kalender und Polizeiseelsorge interreligiös

Eilig füllte ich meinen Einkaufskorb mit allerlei Drogerieprodukten. Shampoo, Duschgel, einige Putzmittel… Ich versuchte mich strikt an meinen Einkaufszettel zu halten und huschte an den sonst so attraktiven saisonalen Auslagen vorbei. Heute würden Dekorationen für das herannahende Osterfest in meinem bereits vollen Einkaufskorb keinen Platz finden!

Kaum hatte ich die Objekte der Versuchung erfolgreich umschifft und mich an der Kasse angestellt, schweifte mein Blick unweigerlich beim Warten über die geschickt platzierten Waren im Kassenbereich. Dabei blieb mein Blick wie magisch angezogen an einer Verkaufsauslage für Kalender kleben. Ich blinzelte mehrmals. Es handelte sich nicht um einen Adventskalender, der die Vorfreude auf Weihnachten und das Warten auf das große Fest verschönern würde- nein, für mich als Pfarrerin war ja schließlich vorösterliche Fastenzeit – sondern um einen Ramadan-Kalender.

Genau das Richtige für meine muslimischen Auszubildenden, bei denen der Ramadan zwei später beginnen würde! Ich nahm einen Kalender aus der Auslage und verstaute ihn glücklich seufzend meinen tapferen Entschluss vergessend, im überquellenden Einkaufskorb.

Nur wenige Tage zuvor hatte eine Polizeimeisteranwärterin mutig davon gesprochen, wie schwer es als Muslima war sich „halal“ in Deutschland zu ernähren. Ich war stolz auf meine Schülerin, die von ihren und den Schwierigkeiten anderer angehender Polizeikolleginnen und -kollegen erzählt hatte. An meinem letzten Dienstort in New York war es selbstverständlich gewesen, sich auf die Ernährungsbedürfnisse der unterschiedlichen Glaubensgeschwister einzustellen. „Halal“ und „kosher“ waren dort in jeder Kantine, an jedem Buffet (in Restaurants sowie so) eine Selbstverständlichkeit. Auch ich hatte bei Veranstaltungen stets neben dem bunten Vielerlei an Speisen, die Christinnen und Christen essen konnten, Essen bereitgestellt, das für muslimische und jüdische Glaubensgeschwister zulässig und erlaubt war. Für mich ein praktischer Ausdruck des Gebots der Nächstenliebe, das meinen Glauben als Grundlage trägt.

Als ich den Ramadan-Kalender in einem deutschen Drogeriemarkt sah, ging mir daher das Herz auf. Ich wollte meiner mutigen Polizeischülerin eine kleine Freude machen und ihr damit zeigen, dass sie und andere muslimische Kolleginnen und Kollegen wertgeschätzt und von „ihrer“ Polizeiseelsorgerin in ihren Bedürfnissen wahr und ernst genommen würden.

Polizeiseelsorge ist für alle da. Ob ohne oder mit Glauben. Christlich. Muslimisch. Jüdisch. Hinduistisch. Buddhistisch. Shintoistisch. …

Dort, wo eine Kollegin oder ein Kollege Hilfe, Rat und Tat benötigt, da ist Polizeiseelsorge präsent.

Zwei Tage später übergab ich den Ramadan-Kalender verbunden mit der Anweisung, den Kalender und dessen dreißig Türchen mit anderen muslimischen Kolleginnen und Kollegen zu teilen. Fast fühlte ich mich selbst umgeben von christlicher und muslimischer Fastenzeit wie ein kleines Kind, das nicht erwarten kann, den Adventskalender zu öffnen.

Nächstenliebe ganz praktisch und interreligiös. Für mich eine Kernaufgabe von Kirche und Seelsorge.

Probieren Sie es doch selbst einmal aus! Ich kann Ihnen versprechen: es macht glücklich in den muslimischen Nächsten als christliche Glaubensschwester die Freude über die erlebte Annahme und des Verständnisses strahlen zu sehen.