Von Erinnerungen an JAL, Extremsituationen und berufsethischem Unterricht

Ich rüttelte ungeduldig mit kleinen, aber bestimmten Bewegungen an der Besteckschublade. Mal um Mal verkeilte sie sich aufgrund der unterschiedlich großen Besteckteile: ob kleiner Espresso-Löffel, spitz-zulaufende Fleischgabel, Buttermesser oder Kinderbesteck, alles besondere aus der heimischen Bestecksammlung war hier verstaut. Ich seufzte als die Schublade sich endlich öffnete. Als „Übeltäter“ stellte sich ein kleiner Babylöffel in Flugzeugform heraus. Vorsichtig nahm ich den in die Jahre gekommenen Löffel heraus, auf dessen Oberfläche in bunter Schrift „JAL BABY CRUISE“ aufgedruckt war. Nachdenklich sah ich den Löffel an, mit dem so viele Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit bei Japan Airlines (JAL) verbunden war.

Gestern erst war ein Passagierflugzeug des Typs A350 meiner ehemaligen Fluggesellschaft am Flughafen Haneda mit einem Flugzeug der Küstenwache zusammengestoßen und vollkommen in Flammen aufgegangen. Alle 379 Passagiere überlebten dank des schnellen Reagierens der Besatzung. Welch eine große Leistung! Vor solchen und anderen Notfällen haben alle Crew großen Respekt – während meiner Fliegerzeit hatte ich keine größeren Notfälle mit begleiten müssen. Schlüssel, um diese und andere Extremsituationen zu überstehen, ist eine gründliche Ausbildung für diese Situationen.

Während meiner Ausbildung zur Flugbegleiterin bei JAL hatte ich daher gemeinsam mit meinen Kolleginnen ein ausführliches Notfalltraining in deren Trainingszentrum in Tokyo durchlaufen. In all dem Ernst machten all die Inhalte unglaublich viel Spaß, denn die Situationen wurden äußerst realistisch simuliert und so lange wiederholt, bis auch das kleinste Detail wie im Schlaf saß. Noch heute kann ich mich an die Kommandos in Japanisch und Englisch erinnern. Aus meiner Trainingszeit habe ich noch eine kleine Erinnerungskarte für die wichtigsten Punkte bei einer Notfall-Landung, die Crew zu beachten haben, um richtig reagieren zu können. Während Pausen habe ich immer wieder kurz die dunkelgrüne Karte herausgezogen und mich an die Stichpunkte wieder in Erinnerung gerufen. Man wusste ja nie… Bis heute bin ich dankbar, dass ich in den über 1200 Flugstunden dieses Wissen nie anwenden musste.

Was übrig lieb, sind wunderbare Erinnerungen an eine besondere Zeit – von manchem erzähle ich viele Jahre später meinen Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärtern im berufsethischen Unterricht, wenn es um Extremsituationen geht. Von randalierenden Passagieren und Herzstillständen. Und von der Ausbildung für Extremsituationen in Tokyo. Sie reichte von Bränden an Bord über Notlandungen mit Evakuierung über Rutschen bis hin zu stürmischen Wasserlandungen und Rettungsbooten. Schlüssel für ein Meistern dieser und anderer Extremsituationen ist es, die Abläufe zu verstehen, in ihrer Abfolge einzustudieren bis sie automatisch ablaufen. In der polizeilichen Ausbildung sind dies zahllose Abläufe, die so in Extremsituationen das Leben der Betroffenen retten werden.

Die Crew der JAL-Maschine hatte die Ausbildung, die ich vor langem erhalten hatte sicherlich in derselben Intensität und Genauigkeit durchlaufen und hart geübt bis die Abläufe in Fleisch und Blut übergegangen waren, und so allen 379 Passagieren das Leben gerettet.

Der Babylöffel von JAL lag leicht in meiner Hand. Er schien so klein und die Erinnerungen an die längst vergangene Zeit so weit weg. Die verbleichende Schrift stimmte mich etwas wehmütig, da ich sicherlich nie wieder einen Umlauf fliegen würde oder für andere Extremsituationen ein Training in dieser Weise erhalten würde. Doch wenigstens meine Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter würden von den spannenden, etwas verrückten, aber für polizeiliche Perspektiven sehr praxisnahe Geschichten einer Polizeipfarrerin profitieren.

Von segensreichen Umwegen

Auf dem grauen Beton des erhaltenen Mauerabschnittes der Berliner East Side Gallery erhob sich Fuji-san mit einer japanischen Pagode während im Hintergrund die Flagge Japans als rote Sonne aufging. Voller Faszination betrachtete ich diesen von insgesamt ursprünglich 106 Bildern, die von 118 Künstlern aus 21 Ländern an der ehemaligen Mauer geschaffen worden waren, die Deutschland bis 1989 in schmerzlicher Weise geteilt hatte.

Das Mauerkunstwerk „Detour To The Japanese Sector“ war von Thomas Klingenstein gestaltet worden. Der ostdeutsche Künstler hatte sich früh für Japan interessiert, ein persönliches Kennenlernen und Bereisen dieses ostasiatischen Landes war ihm aufgrund der Reiseeinschränkungen der DDR unmöglich gewesen. Weil er am 3. Oktober 1979 an einem Treffen mit Robert Havemann, Katja Havemann und Gregor Gysi teilgenommen hatte, wurde er nach seinem Abitur 1981 in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben. Die politische Wende in Deutschland 1989 erlebte Klingenstein in Japan, wo er 1984 bis 1995 lebte.

Das Bild des Künstlers brachte in mir viel zum Klingen. Die japanische Kultur hatte mich ebenfalls früh interessiert, aber im Gegensatz zu ihm wuchs ich in der Freiheit des Westens auf. Reisen gehörte aufgrund meines binationalen Aufwachsen integral zu meiner Lebensstruktur. Dennoch machte auch ich einen Umweg über Japan, der nun Jahre später segensreich ist, damals aber zunächst einigen Unmut hervorgerufen hatte.

Als junge Theologiestudentin hatte ich mich zielstrebig um die Zulassungsvoraussetzungen für das kirchliche Examen erkundigt, damit ich schnellstmöglich meinen Wunschberuf einer Pfarrerin ergreifen konnte und meine Studienkosten, die ich nach Abschluss abzuzahlen hatte, durch ein zügiges Studieren möglichst gering halten konnte. Eine wichtige Bedingung war der Nachweis eines „Praxisjahres für Theologiestudierende“. Mindestens ein Jahr Arbeitserfahrung sollten Theologiestudentinnen und -studenten vorweisen. Ich brachte meinem Unmut über diesen beruflichen Umweg, der kirchlich vorgeschrieben worden war, in vielen Unterhaltungen zum Ausdruck. Dann aber machte ich die Not zur Tugend und bewarb mich bei Japan Airlines, um meine Reiseaffinität und die finanziellen Konsolidierung unter einen Hut zu bekommen. Eineinhalb segensreiche Jahre als Flugbegleiterin bei Japan Airlines folgten, die mich aus dem kirchlichen Studium hinaus in die Welt führten und mir nebenbei ermöglichten in die bis dahin wenig bekannte japanische Sprache und Kultur einzutauchen.

Der kirchlich institutionalisierte Umweg lehrte mich viel für meine spätere Tätigkeit im Pfarramt, von Menschenkenntnis über Umgang mit Extremsituationen bis hin zum direkten Kontakt mit anderen Religionen und Kulturen. Mein Ethikunterricht für angehende Polizistinnen und Polizisten in der Bundespolizei speist sich in einigem ebenfalls von denen bei Japan Airlines gesammelten Erfahrungen: ob dies die Notfallausbildung für Extremsituationen ist, der Umgang mit randalierenden Passagieren oder medizinische Notfallsituationen in der Luft…

Der folgende Artikel, der während meiner Studienzeit erschien und den Anfang meiner kirchlichen Medienarbeit darstellt, gibt einige Einblicke in diese für mich beruflich prägende Zeit:

Die persönliche „Detour To The Japanese Sector“ war für mich ein segensreicher Lebensabschnitt, der meine Arbeit als Pfarrerin mit geprägt hat und nun hilfreich ist für meine Tätigkeit als Seelsorgerin in der Bundespolizei um die zu verstehen, die für unsere Sicherheit an Grenzen, im Bahn- und Flugbereich sowie im Ausland sorgen. Manchmal sind Umwege diejenigen, die uns auf unserem Lebensweg bereichern und uns auf den von Gott gewünschten Pfad gehen lassen.

Ob Thomas Klingenstein dies auch so empfindet? Ich werde den bekannten Künstler wahrscheinlich nie kennenlernen, aber ich wünsche ihm, dass der Umweg nach Japan in der Retroperspektive für ihn gleichfalls segensreich ist. Die wunderschöne Ausgestaltung des Mauerabschnittes zeugt von so viel Kraft, Anmut und politisch Auseinandersetzung mit der persönlichen Vergangenheit, die mir noch lange in Erinnerung bleiben wird.