Wenn die Ebbe einsetzt…

Die Hitze des amerikanischen Ostküstensommers lähmte meine Bewegungen. Ich hatte mich in eine schattige Ecke unseres Balkons verzogen und betrachtete melancholisch die Bilder unseres Familienurlaubes vor genau einem Jahr. Damals hatten wir im Anschluss an eine Konferenz für EKD-Pfarrerinnen und Pfarrer, die nach Nordamerika als entsandt worden waren, für einige Tage ein kleines Haus am Strand gemietet. Nachdem ich als mitverantwortliche Person diese Konferenz organisiert und geleitet hatte, waren wir froh um die herrliche Ruhe, die Nähe zum Strand und den verlässlichen Rhythmus von Ebbe und Flut.

Ein Ausflug führte uns an einen wunderschönen Strand bei Bodega Bay, Sonoma County, der direkt an der Migrationsroute von Grau- und Blauwalen lag. Der kleine Strandabschnitt schmiegte sich sanft in eine Bucht und gab unseren Kindern die Möglichkeit auf samtweichen, hellgelben Sand spielen zu können. Mit dem Einsetzen der Ebbe wurden immer mehr Teile des Strandes sichtbar, die vorher vom Wasser verdeckt worden waren.

„Wenn das Wasser geht, werden nach und nach Dinge aufgedeckt, die man vorher so nicht wahrnehmen kann“, schoß es mir durch den Kopf, während ich den Verlauf der Küste auf dem Bild nochmals mit den Augen verfolgte. Bei diesem Gedanken stockte ich plötzlich. Das kam mir auf einmal sehr bekannt vor.

Gezeiten spielen bei Warren Buffet, einem US-amerikanischen Investor und drittreichstem Mann der Welt, im Zusammenhang von ökonomischen Betrachtungen eine interessante Rolle. In einem Brief an Aktionäre von Berkshire Hathaway hatte er im Februar 2008 ein interessantes Bild zur Verdeutlichung von ökonomisch schwierigen Zeiten und deren Auswirkungen verwendet. Hier schrieb er:

It’s only when the tide goes out that you learn who’s been swimming naked.

(Übersetzung: „Erst wenn die Flut geht, sieht man, wer nackt geschwommen ist.“)

Warren Buffet, Letter to Berkshire Hathaway shareholders, Feb 2008

Nun war mit der Pandemie weltweit in vielen Ländern eine wirtschaftliche Ebbe eingetreten. Nicht einmal während der Weltwirtschaftskrise von 1929 waren in den USA so viele Menschen arbeitslos wie in diesem Jahr aufgrund der Auswirkungen der Pandemie. Kein Bereich des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens ist davon verschont. Auch nicht die Glaubensinstitutionen – oder sollte ich schreiben, gerade sie?

Wenn die ökonomische Ebbe einsetzt, sieht man deutlich, wie es um eine Institution, ein Unternehmen, eine Kirche und andere wirklich gestellt ist. Zwei Mal habe ich diese grundlegende Erfahrung als Pfarrerin sammeln müssen. Das erste Mal im Rahmen meines Dienstes in der Church of Scotland als die amerikanische Immobilienblase 2007 zu einer Wirtschaftskrise führte. Damals begleitete ich eine Gemeinde, die aus drei ursprünglich eigenständigen Gemeinden in eine zusammengefasst wurde, und mehrere ihrer Kirchengebäude zu veräußern, um überlebensfähig zu bleiben. Heute erlebe ich den unbarmherzigen Zusammenhang von Finanzen, Weltkrise und Kirche in meinem Dienst als Auslandspfarrerin in einer Gemeinde in New York, die sich zum allergrößten Teil nebst meines Gehaltes selbstfinanzierten muss.

Beide Gemeinden unterscheiden sich nicht nur durch ihren geografischen Ort signifikant, sondern ebenso durch Aufbau und Struktur. Erstere war eine Inselgemeinde mit überschaubarem Einzugsbereich und kleiner, über Jahrzehnte und manchmal Generationen verbundenen Mitgliedern. Zweite hingegen hat einen Einzugsbereich, der ungefähr dem Frankens gleicht, wobei jährlich im Sommer mindestens die Hälfte der Mitglieder durch Zu- und Wegzug von Expats (1) ausgetauscht wird.

Und dennoch hat sich bei beiden beim Er- und Durchleben einer ökonomischen Ebbe eines aufgezeigt: dort, wo Kirche für andere da ist, wo sie Heimat ist und sich um die in Not Geratenen kümmert, mag sie vielleicht ökonomisch „nackt“ sein, aber immer wieder auf ihre Füße kommen. Eine solche Kirche bzw. Glaubensgemeinschaft macht das Rückgrat und Zentrum unseres Glaubens transparent : Die Sorge um den Nächsten, wie sie von Jesus gelebt wurde und uns Christen aufgetragen wurde, wird hierdurch erfahrbar.

Kirchen hingegen, die sich mehr um die auf einmal verspürte „Nacktheit“ gekümmert haben, in stundenlangen Gremiumssitzungen diese Probleme betrachteten, lange und komplexe Statements ohne Taten verfassten, kamen in einer ökonomischen Ebbe nur schwer wieder auf die Füße.

Ich kann gut verstehen, dass die nicht nur in Deutschland eingetretenen Austrittszahlen verängstigen. Umso wichtiger ist es, dass sich Kirche und Glaubensgemeinschaften als relevant und nah zeigen – genau dort, wo unser Nächster unsere tatkräftige und unbürokratische Hilfe in Notzeiten benötigt. Dies kann sich in sehr unterschiedlicher Weise ausgestalten – ich möchte den Leser und die Leserin dabei nicht in eine gedankliche Enge führen. Eines aber würde ich mir sehr wünschen: dass wir uns zu unserem bedürftigen Nächsten tatkräftig auf den Weg machen, damit Kirche mitten in einer ökonomischen Ebbe dem Ruf Jesu nachkommen kann.

Wir sollten es trotz all der Angst vielleicht auch als Chance begreifen, die uns zu unserem „nackten“ Selbst als Kirche wie Christus uns berufen hat, zurückführen könnte.


(1) Fach- oder Führungskraft, die von einer international tätigen Organisation im Rahmen einer Auslandsentsendung vorübergehend an eine ausländische Zweigstelle entsandt wird.

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