Ich sah sprachlos auf die kleine Karte, die mir am Anfang des Gottesdienstes der evangelisch-reformierten Kirche in Erlangen mitsamt Gesangbücher und Gottesdienstblatt überreicht worden war. Die abgebildeten Berge umsäumt von einem blauen Himmel, luden durch die fast mittig platzierte Schaukel zum gedanklichen Innehalten ein.
Ich atmete durch und setzte mich mit meiner Familie statt auf eine Schaukel in die letzte Stuhlreihe des Gemeindesaals, die noch nicht belegt war. Sehnsucht nach der alten reformierten Heimat im fernen Schottland hatte mich zum zweiten Mal in diese Gemeinde gelockt. Doch dass nun der Gottesdienst dieses Thema aufnehmen würde, erstaunte mich sehr.
„Wo wohnt deine Sehnsucht?“
hatte der Schwabacher Pfarrer Dr. Guy M. Clicqué in seiner Predigt die anwesenden Gottesdienstbesucher gefragt. Gerne hätte ich von meinem geistlichen und gemeindlichen Sehnsuchtsort erzählt. Mein Herz schrie stumm immer wieder Orkney, doch als Besucherin behielt ich dies für mich, lauschte stattdessen den Worten des Predigers und ließ mich treiben in der Vertrautheit des reformierten Gottesdienstes.
Als am Nachmittag aus dem Sehnsuchtsort Orkney ein Anruf kam, staunte ich nicht schlecht. Doch die Nachrichten aus meiner alten schottischen Gemeinde waren alles andere als rosig: Während meines Amtsbeginns dort im Jahr 2007 waren es noch sechs ganze Pfarrstellen auf dieser nördlich gelegenen schottischen Inselgruppe gewesen. Nun sollte es nur noch eine Pfarrstelle und eine Gemeinde für die Inselgruppe geben, denn die Church of Scotland befindet sich im freien Fall. Hunderte Kirchen werden in den nächsten Jahren schließen müssen und damit Pfarr- und Gemeindestellen gestrichen (Link: BBC). Die so stolze einstige schottische Nationalkirche, in der ich dank lutherischem und schottisch-reformierten Examen habe arbeiten dürfen und deren Niedergang sich damals nur sehr vage am Horizont als zaghaftes Dämmern abzeichnete, wird schon bald als eine kleine religiöse Minorität existieren.
Was dort innerhalb von nicht einmal zwanzig Jahren geschehen ist, war nicht vorhergesehen und schließlich durch die Corona-Jahre beschleunigt worden – und langsam scheint es auch in meiner eigenen lutherischen Kirche in Bayern in das Bewusstsein zu rücken. Mit Bauchschmerzen beobachte ich schon lange die besorgniserregende Entwicklung der Mitgliedszahlen, die durch eine defizitäre Aufarbeitung der Missbrauchsfälle nun zusätzlich zu den Nachwirkungen der Pandemie beschleunigt wird. Ja, ich mache mir Sorgen. Sorgen um meinen Sehnsuchtsort Orkney, aber auch um meine bayerische Heimatkirche.
Wie nur können wir andere glaubwürdig von einer offenen und willkommen heißenden Kirche überzeugen? Vielleicht ist der Schlüssel hierzu, dass Gemeinden und kirchliche Gruppen ein Sehnsuchtsort sind, an dem Glauben und Himmel den Menschen entgegenkommen, die Gottes Nähe suchen.
Nachdenklich wendete ich die Karte, auf deren Rückseite das Vorderbild nur dezent abgedruckt worden war und hierdurch Platz für die Notierung des eigenen Sehnsuchtsortes geschaffen worden war. Viele weitere Orte fielen mir neben Orkney ein – zwei besondere Hauskreise, mehrere Gemeinden, die in aller Herren Länder mir ein Zuhause gewesen waren, aber auch ganz „weltliche“ Orte wie Carnegie Hall oder das Café meiner Kindheit und Jugend, und so viele mehr.
„Wo wohnt deine Sehnsucht?“, lieber Leser, liebe Leserin. Eine kleine Inspiration hierfür kann das Lied „Da wohnt ein Sehnen tief in uns“ sein, das die englische Komponistin Anne Quigley 1973 schrieb und wir selbstverständlich im Gottesdienst sangen. Ich freue mich, entweder per Email oder anhand dieser Umfrage von Ihnen zu hören.
Die Sonnenstrahlen tauchten das große Symbol der Church of Scotland in gleißendes, helles Licht. In einem senkrechten Oval war ein brennender Dornbusch abgebildet, hinter dem die schottische Flagge ersichtlich war. Der weiße Rahmen mit der Aufschrift „Nec tamen consumebatur“ („und er wurde nicht verzehrt“) unterstrich die Abbildung der biblischen Berufungsgeschichte des Mose (Ex 3,2).
Ich stand vor dem Kirchenamt der reformierten Church of Scotland und betrachtete das Symbol mit gemischten Gefühlen. Seit meiner ersten Auslandsverwendung (2007-2010) als Pfarrerin in Orkney, einer kleinen schottischen Inselgruppe, war mir die reformierte Kirche sehr ans Herz gewachsen. Das Symbol begleitet mich seitdem als Erinnerung an wichtige Erfahrungen, die mich beruflich und privat tief geprägt haben. Doch heute sah ich zum ersten Mal mit großer Sorge auf das wunderschöne Emblem der schottischen reformierten Kirche, während die soeben gehörten Worte einer Kollegin in meinen Ohren widerhallten. In ihnen schwang viel Trauer und gleichzeitig Wehmut als wir uns über die vergangene gemeinsame Zeit unterhielten. Und fast hatte ich den Eindruck als ob kirchliche Dornbusch lichterloh brannte…
„New tamen consumebatur“ – „und er wurde nicht verzehrt“
Das im Emblem der Church of Scotland verwendet Symbol des brennenden Busches führt uns zum Buch Exodus und der Geschichte von Moses. Moses war einem Leben in unvorstellbarem Luxus und Wohlstand in Ägypten entflohen, nachdem er einen ägyptischen Sklaventreiber aus Empörung über dessen Brutalität getötet hatte. Nun war er Schafhirte in der Wildnis. Der biblischen Geschichte zufolge trifft Moses eines Tages beim Hüten seiner Schafe auf einen Busch, der seine Aufmerksamkeit erregt, weil er zu brennen scheint, aber noch nicht verzehrt ist. Als er näher kommt, hört er eine Stimme, die ihm sagt, er solle seine Schuhe ausziehen, weil er auf heiligem Boden stehe. Dort vor dem brennenden Dornbusch begegnet er dem lebendigen Gott, der ihm den göttlichen Namen offenbart und Moses in eine neue Berufung ruft: er soll die hebräischen Sklaven Ägyptens in die Freiheit führen.
Diese biblische Geschichte ist von solch großer Faszination und Kraft, das sie viele Menschen inspiriert hat.
„New tamen consumebatur“ – „und er wurde nicht verzehrt“
So kam es mit der Reformation zu einer Neuinterpretation des Bildes vom brennenden Dornbusch. Insbesondere Johannes Calvin interpretierte das Bild des brennenden Dornbuschs als Symbol der Kirche auf Erden, die mit vielen Schwierigkeiten und Nöten konfrontiert war und dennoch vom Geist Gottes getragen und am Leben erhalten wurde. In diesem Sinne glaubte er, dass die Kirche für immer brannte und doch nicht vom Feuer verzehrt wurde.
Als die Verfolgung reformierter Christen, insbesondere in Frankreich, zuzunehmen begann, wurde dieses Bild des brennenden Dornbuschs immer deutlicher. Die französisch-reformierte Kirche der Hugenotten war im 16. Jahrhundert unter besonderem Druck, und doch eine Kirche, die nicht ausgelöscht, sondern, wie sie glaubten, von Gottes Gegenwart getragen und ihr Glaube an Gottes Gnade kundgetan werden konnte Christus.
Eines der größten Massaker der Reformation fand in Frankreich statt, bekannt als das Massaker am Tag des Heiligen Bartholomäus am 24. August 1572. Es fand während der Feierlichkeiten zur Hochzeit der Schwester des Königs, Margarete, mit dem protestantischen Heinrich von Navarra (dem späteren Heinrich IV. von Frankreich) statt. Viele der reichsten und prominentesten Hugenotten hatten sich im weitgehend katholischen Paris versammelt, um an der Hochzeit teilzunehmen. In der darauf folgenden Tragödie wurden etwa 2000 Protestanten auf den Straßen von Paris ermordet. Diesem Massaker folgten unzählige weitere in anderen französischen Städten.
Das Massaker am Tag des heiligen Bartholomäus im Jahr 1572 erschütterte die reformierte Kirche Frankreichs zitierst und verursachte Auswanderungswellen von Hugenotten in andere umliegende Länder, aber auch Nordirland und Schottland bis hin nach Südafrika.
Die reformierte Kirche war unglaublichem Leid ausgesetzt worden, doch die Botschaft Gottes war weitergetragen und diese Kirchengemeinschaft vom politischen Feuer und Hass nicht verzehrt worden.
„New tamen consumebatur“ – „und er wurde nicht verzehrt“
Das Emblem des Dornbusches fand erstmals 1685 durch William Mure auf der Titelseite seines Buches „The Joy of Tears“ Verwendung, das die Probleme der schottischen Kirche thematisierte. Ab 1691 fand man es auf offiziellen Dokumenten der Church of Scotland und ist seitdem in Verwendung. Das Symbol hat nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil, denn die schottische Kirche befindet sich unter hohem Druck und dessen Zukunft steht massiv auf dem Spiel.
Als ich 2007 nach Orkney entsandt wurde, um die damals neue ökumenische Partnerschaft zwischen der Evangelischen Kirche in Bayern (ELKB) und der Church of Scotland (CoS) einen praktischen Ausdruck zu verleihen und in einigen Jahren Impulse für meine Heimatkirche mit nach Hause zu bringen, erlebte ich die ersten großen Wellen dieser massiven Veränderung. Damals verstand sich die Church of Scotland noch als Nationalkirche. Doch bereits in meiner dreijährigen Amtszeit war diese aufgrund der Bankenkrise, die von Amerika aus auch Europa und damit Schottland erschüttert hatte, vor große finanzielle Probleme gestellt worden. Die finanzielle Verflochtenheit mit Übersee hatte der CoS viel finanziellen Schaden eingebracht, der nun eingespart werden musste. Neben Pfarrstellenkürzungen waren es besonders Kirchengebäude und Pfarrhäuser, die veräußert werden mussten, um die schlimmsten Auswirkungen zu lindern. Ich selbst habe im Auftrag meiner damaligen Gemeinde drei Kirchengebäude veräußert – eine diffizile Aufgabe, die bis dorthin nicht auf dem Horizont meiner Vorstellungen von pfarramtlichen Tätigkeiten gewesen war. Nun musste ich als junge Pfarrerin meine Gemeinde durch diesen Trauerprozess und durch juristische Tiefen begleiten, während ich gleichzeitig versuchte, ihnen beim Heilen und Zusammenwachsen zu helfen.
„New tamen consumebatur“ – „und er wurde nicht verzehrt“
An diesem Apriltag in 2023 war ich erschüttert wieder vor die Türe des Kirchenamtes in Edinburgh getreten. Die gehörten Worte mussten verarbeitet werden. Seit meines Weggangs in 2010 hatten sich die Mitgliedszahlen in dramatischer Weise verändert. Seit 2011 waren die Mitgliederzahlen laut des Berichts der General Assembly von 2022 um 34% gefallen. Ab 2017 befand sich die CoS im freien Fall.
“See, I make all things new”: Report Church of Scotland General Assembly 2022, S. 08 Supplementary Report of the Assembly Trustees, S. 14.
Dr. John Chalmers, Moderator der Church of Scotland 2022, sieht laut Glasgow Times den Grund vor allem im Kontaktverlust mit Millenials bis Generation Z. Diese seien weiterhin auf der Suche nach spiritueller Heimat, würden aber nicht in der Kirche fündig. Daher würde viel Engagement nun in diesen Bereich investiert werden, um die Kirche wieder zukunftsfähig machen zu können.
„Our contact with children and our reach to millennials and Generation Z are marginal. These missing generations are our children and our children’s children. They are not without a desire for spiritual nourishment. They are still in search for meaning and they share many of our values. But all evidence suggests the ways in which these generations will pursue their search for meaning will not be through a top-heavy religious institution. We must invest seriously in new ventures, pioneer ministry and church planting. The time has come for us to cast our bread upon the water before the last one of us finds it is time to switch off the lights and redistribute what is left to other charities with similar aims.“
The Very Rev. Dr. John Chalmers
Meine Kollegin berichtete mir von schmerzhaften Zusammenlegungen, Stellenstreichungen und harten Sparmaßnahmen, die die gesamte Kirche in Sorge um die Zukunft versetzte. Die schiere Zahl an zum Kauf zur Verfügung stehende Kirchen erschreckte mich in den kommenden Tagen meines Schottlandaufenthaltes. Und hinterließ einen bitteren Geschmack beim Betrachten des Emblems. Würde der Dornbusch doch dem Austritts- und Finanzfeuer nicht mehr standhalten können und bald nichts mehr als etwas Asche von der einst so stolzen Nationalkirche, die ich am Beginn meiner Amtszeit kennenlernen durfte, übrig bleiben?
Einige von zahlreichen Kirchengebäuden im Umland Edinburghs, die im April 2023 zum Kauf ausgeschrieben sind.
Es sind solche Erfahrungen, die uns in Deutschland hellhörig machen sollten, wenn wir die eigene Mitgliederentwicklung betrachten. Auch hier stehen schmerzhafte Einsparungen an und ein spürbarer Mitgliederschwund wird schon bald nicht nur in Verkäufen von Gebäuden, Schließungen von Einrichtungen und Zusammenlegungen von Gemeinden resultieren. Vielmehr sehe ich auch hier die Zukunft unserer Kirche schneller als gedacht in Frage gestellt. Wenn wir hierauf nicht mit unseren Kernkompetenzen wie Seelsorge und Diakonie auf der einen Seite, und einem Bemühen um die jüngeren Generationen auf der anderen Seite reagieren, fürchte ich um einen ähnlichen Verlauf wie in der Church of Scotland.
Trotz des gleißenden Sonnenlichts war es mir an diesem sonnigen Apriltag eiskalt über den Rücken gelaufen. Bei meinem Besuch hatte ich mit vielem gerechnet, aber nicht damit, eine einst stolze Kirche als eine Kirche in Not wieder aufzufinden. Ich hoffe sehr, dass die inzwischen kleine Church of Scotland Wege aus dieser Not mit Gottvertrauen und Engagement finden wird.
Das klare Wasser gurgelte eine sanfte Melodie, die vom magischen Rhythmus der Natur angetrieben ein niemals endendes Lied der Schöpferkraft Gottes vor sich hin sang. Gebannt hatte ich mich vorsichtig über das steinerne Naturwunder gebeugt und beobachtete Faszination den Lauf des frischen Wassers, dessen Weg von einer moosbewachsenen Rinne geführt sanft den Berg hinabführte.
Es tat gut, an diesem letzten Tag des Jahres 2021 einen Familienausflug an diesen besonderen Ort zu machen. Ein turbulentes, von vielen Veränderungen, Erschütterungen und kulturellen Wechseln geprägtes Jahr lag nun fast hinter uns. Ich seufzte still und atmete die klare Waldluft ein während das sanfte Gurgeln des Wassers mein Herz, das durchaus aufgrund der Veränderung in große Unruhe im letzten Jahr geraten war, mit wohltuender im Moment liegender Stille erfüllte.
Über einen angenehmen, leichten Wanderweg erreichten wir innerhalb von ca. 20 min die steinerne Rinne bei Roschlaub, Gemeinde Scheßlitz. Schon lange hatte ich mir gewünscht, dieses Naturschauspiel zu besuchen. Durch die Ausfällung von Kalziumkarbonat entsteht das quellnahe Hochbett eines Baches in Karstlandschaften. Die steinerne Rinne bei Roschlaub wächst im Jahr 2-3 mm. Wie wunderbar, dass ein solches Naturwunder nun weniger als eine halbe Stunde Autofahrt von uns entfernt war.
Gebannt sah ich zu, wie Blätter und kleine Äste wie von Geisterhand bis zum Fuß der Rinne transportiert wurden und dort als Untergrund für das quellnahe Hochbett dienten. Ein wenig erinnerte mich dieser Naturvorgang an die Worte des Theologen Howard Thurman (1899-1981), der als Nachfahre afro-amerikanischer Sklaven in den damals von Rassentrennung dominierten Südstaaten Amerikas aufgewachsen war. Er wusste aufgrund der der Geschichte seiner Familie und seiner eigenen Lebensgeschichte in einer von Rassentrennung geprägten USA, wie schwer das Leben spielen und Erfahrungen eine Person prägen konnte. Was ihn aber auszeichnete und sehr dem Mechanismus der Rinne ähnelte, war der Umgang mit schweren Erfahrungen:
We can use our memory of the past with creative discrimination. We can lift out of the past those things what will give us reinforcement as we face the future, that will give us courage, that will lift the ceiling of our hopes as we look toward the tomorrow. Because of what we have learned form this aspect of our past, we are reinforced for the future. We can thereby let the past become something more than history: something that tutors us as we move into the new year. Now that we know this, we may heal ourselves in the light of this judgement. The past is history but the past is alive, because the past is in us.
Howard Thurman, The Mood of Christmas & other celebrations, p. 181.
Wie die steinerne Rinne Blätter, kleine Äste und Kalziumkarbonat für ihr Wachstum nutzt, anstatt an ihnen zugrunde zu gehen, so können wir die Erfahrungen unseres Lebens nutzen. Es ist unsere Entscheidung, ob wir, wie Thurman schreibt, durch die schweren Geschehnisse unserer Vergangenheit uns dem Pessimismus zuwenden oder der schweren Vergangenheit mit einem kreativen Urteilsvermögen entgegentreten. Ein Urteilsvermögen, das aus dem Geschehen für die Zukunft lernt und dadurch Zukunft ermöglicht.
Ein wenig wie die steinerne Rinne, die ihre Herausforderung von Naturmaterial, Moos, Kalk und Wasser für das eigene Wachstum nutzt.
Liebe Leserin, lieber Leser, ich wünsche euch die Zuversicht und den Mut Howard Thurmans. Mögen die Erfahrungen des Jahres 2021 und die weiterer Jahre euch zum Segen werden, damit ihr einer hoffnungsvollen Zukunft gestärkt durch eure Erfahrungen in 2022 und darüber hinaus entgegen wachsen könnt.