Wenn das Lied der Engel verstummt…

Wehmütig betrachtete ich unsere Krippe. Wie in unserer Familie üblich, würde die Weihnachtsdekoration am Nachmittag des Epiphaniasfestes wieder für viele Monate in Boxen verstaut und dort auf das nächste Geburtsfest Jesu Christi warten. Ich seufzte und löschte das Licht des kleinen Herrnhuter Sterns, der neben einem prächtigen Engel den Hirten geschienen und ihre Arbeit in der sonst finsteren Umgebung erhellt hatte.

Was blieb damals als das Lied der Engel verstummt und der Stern der Weihnacht erloschen war? Mein Blick schweifte weiter über die noch hell erleuchtete Krippe und blieb am kleinen, neugeborenen Kind hängen. Als Mutter von vier Kindern wusste ich sehr genau, dass mit der Geburt die Arbeit noch nicht vorbei war. Im Gegenteil: Sie begann dann erst recht mit der Sorge um ein Kind, das Gott uns anvertraut hatte.

Der US-amerikanische afro-amerikanische Theologe Howard Thurman fasste die Arbeit, die uns mit dem Christfest als Gläubige aufgetragen worden war, in seinem Gedicht „The Work of Christmas“ in sehr treffliche Worte:

When the song of the angels is stilled,
when the star in the sky is gone,
when the kings and princes are home,
when the shepherds are back with their flocks,
the work of Christmas begins:
to find the lost,
to heal the broken,
to feed the hungry,
to release the prisoner,
to rebuild the nations,
to bring peace among the people,
to make music in the heart.

Howard Thurman, The Mood of Christmas & Other Celebrations, p. 28.

Als Christinnen und Christen beginnt für uns mit dem Abklingen des Weihnachtsfestes die Arbeit für die uns Gott vorgesehen hat – nämlich sein Friedensreich in dieser Welt immer ein Stückchen mehr Realität werden zu lassen durch unsere Handlungen, Worte, große und kleine Gesten. Nach einer festlichen Zeit können wir nun gestärkt und ermutigt ans Werk gehen.

Packen wir es an! Es gibt viel zu tun!

Jahresabschluss, steinerne Rinnen und weise Worte aus Übersee

Das klare Wasser gurgelte eine sanfte Melodie, die vom magischen Rhythmus der Natur angetrieben ein niemals endendes Lied der Schöpferkraft Gottes vor sich hin sang. Gebannt hatte ich mich vorsichtig über das steinerne Naturwunder gebeugt und beobachtete Faszination den Lauf des frischen Wassers, dessen Weg von einer moosbewachsenen Rinne geführt sanft den Berg hinabführte.

Es tat gut, an diesem letzten Tag des Jahres 2021 einen Familienausflug an diesen besonderen Ort zu machen. Ein turbulentes, von vielen Veränderungen, Erschütterungen und kulturellen Wechseln geprägtes Jahr lag nun fast hinter uns. Ich seufzte still und atmete die klare Waldluft ein während das sanfte Gurgeln des Wassers mein Herz, das durchaus aufgrund der Veränderung in große Unruhe im letzten Jahr geraten war, mit wohltuender im Moment liegender Stille erfüllte.

Über einen angenehmen, leichten Wanderweg erreichten wir innerhalb von ca. 20 min die steinerne Rinne bei Roschlaub, Gemeinde Scheßlitz. Schon lange hatte ich mir gewünscht, dieses Naturschauspiel zu besuchen. Durch die Ausfällung von Kalziumkarbonat entsteht das quellnahe Hochbett eines Baches in Karstlandschaften. Die steinerne Rinne bei Roschlaub wächst im Jahr 2-3 mm. Wie wunderbar, dass ein solches Naturwunder nun weniger als eine halbe Stunde Autofahrt von uns entfernt war.

Gebannt sah ich zu, wie Blätter und kleine Äste wie von Geisterhand bis zum Fuß der Rinne transportiert wurden und dort als Untergrund für das quellnahe Hochbett dienten. Ein wenig erinnerte mich dieser Naturvorgang an die Worte des Theologen Howard Thurman (1899-1981), der als Nachfahre afro-amerikanischer Sklaven in den damals von Rassentrennung dominierten Südstaaten Amerikas aufgewachsen war. Er wusste aufgrund der der Geschichte seiner Familie und seiner eigenen Lebensgeschichte in einer von Rassentrennung geprägten USA, wie schwer das Leben spielen und Erfahrungen eine Person prägen konnte. Was ihn aber auszeichnete und sehr dem Mechanismus der Rinne ähnelte, war der Umgang mit schweren Erfahrungen:

We can use our memory of the past with creative discrimination. We can lift out of the past those things what will give us reinforcement as we face the future, that will give us courage, that will lift the ceiling of our hopes as we look toward the tomorrow. Because of what we have learned form this aspect of our past, we are reinforced for the future. We can thereby let the past become something more than history: something that tutors us as we move into the new year. Now that we know this, we may heal ourselves in the light of this judgement. The past is history but the past is alive, because the past is in us.

Howard Thurman, The Mood of Christmas & other celebrations, p. 181.

Wie die steinerne Rinne Blätter, kleine Äste und Kalziumkarbonat für ihr Wachstum nutzt, anstatt an ihnen zugrunde zu gehen, so können wir die Erfahrungen unseres Lebens nutzen. Es ist unsere Entscheidung, ob wir, wie Thurman schreibt, durch die schweren Geschehnisse unserer Vergangenheit uns dem Pessimismus zuwenden oder der schweren Vergangenheit mit einem kreativen Urteilsvermögen entgegentreten. Ein Urteilsvermögen, das aus dem Geschehen für die Zukunft lernt und dadurch Zukunft ermöglicht.

Ein wenig wie die steinerne Rinne, die ihre Herausforderung von Naturmaterial, Moos, Kalk und Wasser für das eigene Wachstum nutzt.

Liebe Leserin, lieber Leser, ich wünsche euch die Zuversicht und den Mut Howard Thurmans. Mögen die Erfahrungen des Jahres 2021 und die weiterer Jahre euch zum Segen werden, damit ihr einer hoffnungsvollen Zukunft gestärkt durch eure Erfahrungen in 2022 und darüber hinaus entgegen wachsen könnt.