Lesen gegen Hass 2: Literaturtipps zur Antisemitismusprävention für Pädagoginnen und Pädagogen

Schülerinnen und Schülern für ein Thema durch eine besondere Zugangsweise zu sensibilisieren ist für Pädagoginnen und Pädagogen von großer Relevanz. Graphic Novels stellen für mich im Sekundär- und Tertiärbereich der deutschen Schulbildung eine wichtige Zugangsmöglichkeit dar. Hierüber schrieb ich in einem vorhergehenden Blogpost (Link).

Nun stelle ich verschiedene Literaturtipps zur Antisemitismusprävention vor, die vor allem an Pädagoginnen und Pädagogen gerichtet sind, die in Sekundär- und Tertiärstufen unterrichten. Die meiste Literatur ist in deutscher Sprache erhältlich – wo dies nicht der Fall ist, weise ich darauf hin.

Dieser Blogeintrag soll eine Hilfe für Kolleginnen und Kollegen sein, um ihr eigenes Wissen gegen Antisemitismus zu stärken und durch Bildung gegen diese menschenverachtende, tödliche Häresie durch Bildung vorgehen zu können. Für die Vorstellung der Literatur habe ich einen Weg gewählt, der versucht, eine zeitliche Achse mit der Grundsätzlichkeit der Bücher zu kombinieren. Die Abfolge stellt keine Wertung in deren Bedeutung da, vielmehr gehören diese zu einer Vielzahl wichtiger Publikationen und wecken hoffentlich weiteres Interesse zur Vertiefung dieses Themas.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bildung ist die wichtigste Waffe gegen Antisemitismus und jegliche Form des Menschenhasses. Lest gegen Hass und gebt dieses Wissen an die euch anvertrauten Schülerinnen und Schüler weiter!

„Die Natur des Vorurteils“ von Gordon Allport

Aus dem Englischen – als Übersetzung erhältlich

„The Nature of Prejudice“ (1954) wurde von Gordon Allport (1897-1967) verfasst, einem amerikanischen Psychologen, der mit diesem Werk die Grundlage für die Vorurteilsforschung gelegt hat. Laut Springerverlag ist es das meistgelesene Buch innerhalb der Sozialpsychologie.

Für mich war dieses Buch trotz der inkongruenten Bezugsgruppe (weiße, protestantische, amerikanische Männer) ein Augenöffner für eine Erklärung und einen Umgang mit Vorurteilen, die sich bis hin zu extremen Hass entwickeln können. Nicht nur stellte Allport das Aggressionskonzept von Sigmund Freud in Frage, sondern führte stattdessen ein Feedback- und Kommunikationsmodell ein. Der nachhaltigste Beitrag, der Politik und Gesellschaft veränderte, war sein Plädoyer für einen Kontakt zwischen Gruppen, die Vorurteile gegeneinander hegten, um somit Vorurteile vorzuschützen und daraus eventuell entstehenden Hass zuvor zu kommen.

Wer sich für die sozialpsychologische Betrachtung der Entstehung von Vorurteilen und Hass interessiert und durch einen theoretisch fundierten Hintergrund hiergegen in Schule und Bildungseinrichtungen vorgehen möchte, sei dieses Buch ans Herz gelegt.

„Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten – Tagebücher 1933 bis 1945“ von Victor Klemperer

In Deutsch erschienen

Der deutsche Literaturwissenschaftler, Romanist und Politiker Victor Klemperer (1881-1960) ist einer der wichtigsten Zeitzeugen der NS-Schreckensherrschaft und deren mordender Brutalität, die akribisch vorbereitet und Sprache als ein grundlegendes Macht- und Beeinflussungsinstrument verwendet hatte.

In seinen Tagebüchern „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1933–1945)“ dokumentierte er seine bitteren Alltagserfahrungen, die er als intellektueller protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft innerhalb der der deutschen Gesellschaft des Nationalsozialismus sammeln musste. Für mich ist Klemperer einer der wichtigsten Chronisten, die das Leben in dieser Schreckensherrschaft in alltäglicher Sprache und Sicht transparent werden lassen.

Besonders bewegend und erschreckend sind für mich die schonungslosen Einblicke in eine diktatorische Alltagswelt, die alle Bereiche des Lebens ergriffen hatten. Die Erfahrung der Komplizenschaft vieler einst verlässlichen Personen in Nachbarschaft, Beruf und Familie zeigen, wie diese Diktatur in ihrer Schärfe erst durch sie ermöglicht wurde und sollte uns nachdenklich gegenüber unseren eigenen Handlungsweisen stimmen.

„Hitler – 1889 bis 1945“ von Ian Kershaw

Aus dem Englischen – als Übersetzung erhältlich

Ian Kershaw (*1943), englischer Historiker und Träger des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse, nimmt in seiner Hitler-Biografie nicht nur die Person des Diktators in den Blick, sondern die gesellschaftlichen und politischen Umstände, die es ihm ermöglicht hatten, das schlimmste Unrechts- und Mordsystem der Neuzeit zu etablieren.

Kershaw beschreibt anschaulich und lebendig, mit faszinierender Kenntnis des Protagonisten seines Buches untermauert mit historischen Quellen den Aufstieg des verhinderten Kunstmalers und kleinen »Weltkriegsgefreiten« zum mächtigsten Mann Deutschlands, der eine totale Diktatur errichtete, die Welt in einen schlimmen Krieg stürzte und, der mit vielen Komplizen verantwortlich ist für die Ermordung von Millionen europäischer Juden.

Wichtig wurde mir durch diese Lektüre: ohne die Person Hitler sind die Schrecken des Zweiten Weltkrieges nicht vorstellbar. Aber: Ohne die Gefolgschaft der Deutschen ebenso wenig. Mögen wir diese Warnung ernst nehmen und uns selbst in unseren Handlungen einen kritischen Spiegel vorsetzen!

„LTI – Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer

Auf Deutsch erschienen und in viele Sprachen übersetzt

Im Englischen heißt dieses Werk übersetzt aus dessen ursprünglicher Bezeichnung „Lingua Tertii Imperii“ bezeichnend „The Language of the Third Reich“. Es ist die zweite Buchempfehlung von Klemperer, die ich aufgrund deren Grundsätzlichkeit gerne weitergeben möchte.

In diesem Buch analysiert Klemperer die Sprache des Nationalsozialismus und dessen Wirkmacht in bewegender und nachdenklicher Weise. Meine Polizeimeisteranwärterinnen und -anwärter weise ich stets darauf hin, dass Sprache ihre wichtigste Waffe darstellt. Umso wichtiger ist es daher, historische Kenntnis darüber zu haben, wie Sprache zum Bösen innerhalb unserer deutschen Geschichte verwendet wurde.

An dieser Stelle sei ebenso vermerkt, dass LTI 2003 unter dem Titel „Die Sprache lügt nicht“ (Originaltitel: „La langue ne ment pas“) für das Fernsehen als deutsch-französischer Dokumentarfilm von Stan Neumann adaptiert worden war. Dieser Film wurde im Juli 2005 beim Jerusalemer Filmfestival ausgezeichnet.

„Verbrannte Wörter – Wo wir noch reden wie die Nazis- und wo nicht“ von Matthias Heine

Auf Deutsch erschienen

Der deutsche Journalist und Buchautor Matthias Heine (*1961) nimmt uns in seinem Buch „Verbrannte Wörter“ mit auf eine wichtige Reise durch die deutsche Sprache und analysiert, inwieweit einzelne Begriffe einen nationalsozialistischen Hintergrund tragen oder vielleicht auch trotz einer Vermutung überraschender Weise doch nicht.

Wie steht es mit dem Begriff „Bombenwetter“, der immer noch verwendet wird?

Der „Aktion“, die immer noch in Organisationen wie „Aktion Mensch“ oder „Aktion Sühnezeichen“ zur Verwendung kommen?

Oder dem harmlos daherkommenden Ausdruck des „Hiwi“ als studentischer Hilfskraft?

Es sind erstaunliche Entdeckungen, die der Leser bei der Lektüre dieses Buches machen darf. Stets sind die einzelnen Begriffe gut eingebettet in geschichtliche Fakten und Referenzen, wie LTI als Quelle herangezogen. Der Autor macht am Ende jedes Begriffes eine kleine Empfehlung und regt dabei zur Entscheidung über eine etwaige Verwendung im eigenen Wortschatz an. Bei manchem hätte ich eine andere (strengere) Schlussfolgerung gezogen – doch in vielem kann ich dem Autor gut in einem Applizieren auf die sprachliche Praxis folgen.

„Hitlers amerikanisches Vorbild: Wie die USA die Rassengesetze der Nationalsozialisten inspirierten“ von James Q. Whitman

Als Übersetzung aus dem Amerikanischen erhältlich

James Q. Whitman, Professor für vergleichendes und internationales Recht an der Yale-Universität ist einer der angesehensten Rechtshistoriker der USA. Er deckt in seinem Buch „Hitlers amerikanisches Vorbild“ eine überraschend schmerzhafte Tatsache auf: Die „Jim-Crow-Gesetze“ und der tief verankerte Rassismus in den USA waren eine massgebliche Anregung für die Rassengesetze der Nationalsozialisten. Es ist ein schmerzhaft wichtiger Aspekt, der mit diesem Buch beleuchtet wird und Sprengkraft auf dem amerikanisch-deutschen Verhältnis haben kann.

In meiner Dissertation, die auf amerikanisch-deutschen Horizont die Versöhnungsarbeit aufgreift, habe ich mich daher in einem Kapitel mit diesem „Zyklus des Bösen“ befasst und hierzu auch schmerzhafte Aspekte in Hitlers „Mein Kampf“ herausgearbeitet. (Tröstend begegnete mir bei meiner Recherche für meine Dissertation ein „Zyklus des Guten“ – doch dies ist vielleicht ein Thema für einen späteren Blogeintrag.)

„Plantations and Death Camps – Religion, Ideology, and Human Dignity“ von Beverly Eileen Mitchell

Gegenwärtig nur in Amerikanisch erhältlich

Während meines Dissertationsstudiums am Wesley Theological Seminary, Washington D.C., durfte ich mehrere Seminare bei Prof. Dr. Beverly Mitchell besuchen. Die historische Theologin hat nicht nur durch ihre Biografie und ihren scharfen Verstand einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, sondern durch ihr Buch „Plantations and Death Camps“ mir die Augen hin zu einer Analogie des Grauens geöffnet.

In ihrem Buch vergleicht sie die menschenverachtende und vernichtenden Systeme der Plantagen und Konzentrationslager miteinander. Eine Zeitgleiche der Brutalität, die in die Abgründe menschlicher Seelen blicken lässt, die Macht, Gewinn und Unterdrückung über jegliche Menschlichkeit und Verbundenheit gesetzt hat. Die „Ideologien des Todes“, wie sie Mitchell bezeichnet, haben schlimme, verachtende und tödliche Konsequenzen diesseits und jenseits des Atlantiks hervorgebracht.

Das Buch ist ein Plädoyer, dies nie wieder geschehen zu lassen und regt zu einer eigenen biografischen Reflexion an. In einem vergangenen Blogeintrag (Link) schreibe ich hierüber.

„… trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ von Viktor E. Frankl

Auf Deutsch erschienen

Viktor Frankl (1905-1997), der österreichische Psychiater, verbrachte mehrere Jahre in deutschen Konzentrationslagern. Hier wurde er mit unvorstellbarem Leid konfrontiert und musste sich mit der Frage auseinandersetzen, wie er und andere an diesen Orten der Unmenschlichkeit noch einen Sinn im Leben entdecken und die eigene Menschlichkeit bewahren konnte.

Für ihn war die Erfahrung, dass es möglich ist, auch noch unter inhumansten Bedingungen einen Sinn im Leben zu sehen, eine zentrale Entdeckung. Zukunftshoffnungen, von denen man getragen wurde, konnten über schwerstes Leid hinweghelfen – die Hoffnung, die Liebsten wiederzusehen oder, wie er sich vorstellte, nach einer Überwindung des Leides Vorlesungen geben zu dürfen, die die Auswirkungen des Lagers auf die Psyche zum Mittelpunkt hatten.

Dieses „Trotzdem“ hat bei mir tiefen Eindruck hinterlassen, vieles relativiert und die Gottesfurcht in den Mittelpunkt gestellt:

„So oder so – einmal kommt der Tag, für jeden der Befreiten, an dem er, rückschauend auf das gesamte Erlebnis des Konzentrationslagers, eine merkwürdige Empfindung hat: er kann es nun selber nicht verstehen, wie er imstande war, all das durchzustehen, was das Lagerleben von ihm verlangt hat. Und wenn es in seinem Leben einen Tag gab – den Tag der Freiheit-, an dem ihm alles wie ein schöner Traum erschien, dann kommt einmal der Tag, an dem ihm alles, was er im Lager erlöst, nur mehr wie ein böser Traum vorkommt. Gekrönt wird aber all dieses Erleben des heimfindenden Menschen von dem köstlichen Gefühl, nach all dem Erlittenen nichts mehr auf der Welt fürchten zu müssen – außer seinen Gott.“

… trotzdem Ja zum Leben, S. 139.

Einige von vielen Büchern, die Pädagoginnen und Pädagogen helfen können, sich durch Lektüren gegen Antisemitismus zu wappnen und dieses Wissen im Unterricht weitergeben zu können.

Lest gegen den Hass! Mit euren Schülerinnen und Schülern. Mit euren Kolleginnen und Kollegen. In Familien und Freundeskreisen.

Und kommt durch Unterhaltungen und Diskussionen auf Antisemitismus zu sprechen – einer menschenverachtenden und tödlichen Irrlehre, die Demokratie und Menschenwürde diametral entgegengesetzt ist. Damit sie in den Herzen und Gedanken nicht auf fruchtbaren Boden falle.

Ein Gedanke zu “Lesen gegen Hass 2: Literaturtipps zur Antisemitismusprävention für Pädagoginnen und Pädagogen

  1. Avatar von Arthur Turfa aturfa

    Einige habe ich schon gelesen. Kersahws Buch ist ganz toll. Bei uns muessen Deutschlehrer/innen gegen solche Ideen unter Schueler/-innen widerstand leisten.Es ist ja gut, dass du diese Blogeintraege vors Publikum bringen.

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