Endemische Gedanken: wenn das Schweigen endlich bricht und prägende Erfahrungen bleiben

Aus Gründen ist es Zeit, endlich das Schweigen zu brechen und in diesem Blogeintrag über prägende pandemische Erfahrungen als Pfarrerin und Polizeiseelsorgerin zu schreiben.

Jahresanfang und eine Woche Urlaub. Für mich die perfekte Kombination, um etwas Ordnung zu schaffen und dadurch offen zu werden für die nächsten zwölf Monate des noch recht jungen Jahres. Als ich den Inhalt meines Nachtkästchens ausleerte, fiel mir eine Stoffmaske in die Hand, die ich vor fast genau zwei Jahren direkt aus meinem Fluggepäck in der Schublade des Nachtkästchens verstaut hatte. Nachdenklich setzte ich mich auf den Rand meines Bettes. Laut Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Berliner Klinik Charité, befinden wir uns bereits am Ende der Pandemie und in Deutschland am Beginn einer Endemie. Das heißt nicht, dass das Virus uns nicht weiterhin im Griff hat, dennoch trifft es nicht in der vorher vorhandenen Härte, Intensität und Gefährlichkeit. Eine Endemie bedeutet, dass wir weiterhin vorsichtig und rücksichtsvoll sein müssen, aber lernen mit der sich verbreiteten Krankheit umzugehen. Dazu benötigt es auch das Element der Reflexion, um aus dem Erlebten zu lernen.

Die Stoffmaske wirkte an diesem ersten Samstag des neuen Jahres wie ein Relikt aus einem anderen Leben, das inzwischen weit weg erschien. Ich seufzte tief. Bilder in wirrer Reihenfolge erschienen vor meinem inneren Auge. Ich schüttelte mich, während so manche Emotion der in New York erlebten Pandemie von mir wieder Besitz ergriff. Die Maske musste aufbewahrt werden. Wie lange ich auf meiner Bettkante saß, weiß ich nicht- doch irgendwann gab ich mir einen Ruck und suchte all die anderen Stoffmasken, die wir aufgehoben hatten.

Ich fand unsere Sammlung an Stoffmasken im abgelegensten Schrank unserer Wohnung in der untersten Schublade hinter vielen Halstüchern. Während in Deutschland schon bald FFP2-Masken Pflicht geworden waren, trugen wir in den USA relativ lange waschbare Masken aus Stoff. Im Nachhinein schützen diese Masken nicht so gut, waren aber nun für mich wichtige Erinnerungsstücke – persönliche Artefakte einer sehr intensiven Dienstzeit geworden.

Vier Masken hatte ich besonders gerne getragen. Sie waren nicht nur gut geschneidert gewesen, sondern verbanden mich emotional mit wichtigen Stationen einer intensiv erlebten Dienstzeit:

Auf der Maske aus schwarzem Baumwollstoff war in großen Buchstaben FAITH ______OVER ______ FEAR aufgedruckt. Diese Maske steht für den Beginn und die erste Welle der Pandemie, die ich in New York als einem der ersten Corona-Hotspots der westlichen Welt erlebt hatte. Es waren Monate, in denen ich als Pfarrerin und Polizeiseelsorgerin meine Berufung noch nie so intensiv gespürt hatte, wie in dieser Zeit. Eine Lehre dieser Zeit ist für mich, dass in Gefahr Berufung erst richtig beginnt. Noch gut erinnere ich mich an die Angst, mich selbst anzustecken- im Krankenhaus während ich Sterbende begleitete oder in den beengten New Yorker Bedingungen als ehrenamtliche Polizeiseelsorgerin, wo ein sicherer Abstand oftmals schwer möglich war.

Das Symbol der Synagoge war schon etwas abgegriffen – für mich strahlte es in seinem einfachen Weiß auf dieser azurblauen Maske umso mehr. Diese besondere Maske war mir von meiner jüdischen Synagoge geschenkt worden, wo ich mich ehrenamtlich engagiert hatte. Eine der bitteren Auswirkungen der Pandemie war in USA eine schnell eingetretene Massenarbeitslosigkeit, die vor allem aufgrund des nur rudimentären Sozialsystems die Ärmsten der Armen getroffen hatte. Diese Arbeit durfte daher nicht zum Erliegen kommen. Mit viel Fantasie und Engagement versuchten wir trotz der uns umgebenden viralen Gefahr für die zu sorgen, die sonst hungern würden.

Und dann nahm uns mitten in diesem pandemischen Chaos ein politisches Ringen Recht und Gerechtigkeit den Atem. Auf schwarzem Untergrund prangte neben dem Profil der Richterin Ruth Bader Ginsburg, die eine der größten Kontrahentinnen des damaligen Präsidenten Donald Trump war, in bunten Lettern die Aufschrift WOMEN BELONG IN ALL PLACES WHERE DECISIONS ARE BEING MADE. Ich hatte in USA ein Ringen um eine politisch gerechter gestaltete Welt erlebt, in der es einen Kampf um Inklusivität bzw. Exklusivität gab. Erinnerungen an wunderbare Frauennetzwerke und eine durchbangte Wahlnacht sind mir immer noch sehr präsent.

Eine weitere mir wichtige Maske strahlte und glitzerte mir auf einem galaktischen Hintergrund entgegen. Sie erinnert mich an die Träume, die mich in dieser intensiven Dienstzeit antrieben: Träume von Gesundheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Eine große Aufgabe, die wir nur gemeinsam Wirklichkeit werden lassen können. Wenn jeder eine Kleinigkeit dazu in seinem jeweils eigenen Bereich dazu tut, kann dies gelingen. In New York und jetzt in Bamberg versuche ich weiterhin meinen kleinen Teil dazu beizutragen.

Die Zahl der persönlichen Artefakte endete jäh mit meinem beruflichen Wechsel zur Bundespolizei – sicherlich auch verbunden mit der Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske. Mit meiner Rückkehr nahm so mancher Kollege wieder Kontakt zu mir auf. Eine Unterhaltung kurz nach meiner Rückkehr im Januar 2021 wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Anstatt mir ein offenes Ohr zu leihen, kritisierte er meinen beruflichen Wechsel zur Bundespolizei. Ich sei schon wirklich dumm gewesen. Wenn ich eine normale Pfarrstelle gewählt hätte, hätte ich sicherlich noch einige Monate eine ruhige Kugel schieben können. In Ruhe umziehen. Ankommen. Mich einfinden. Stattdessen hätte ich den Strudel des polizeilichen Dienstes gewählt. Ich war sprachlos über dieses opportunistische Denken, das ich bei diesem Kollegen wahrnehmen musste.

Als ich in Deutschland ankam, fragte man mich nicht nach meinen Erfahrungen noch bot man mir die Möglichkeit an, diese zu verarbeiten. Ein Sonderurlaub war bei einem solchen Wechsel nicht vorgesehen. Noch heute frage ich mich warum eigentlich, wenn ich viele dienstliche Sonderbelastungen getragen hatte? Supervision oder psychologische Begleitung wurde mir ebenso wenig angeboten. Also stürzte ich mich ins Neue und verarbeitete das Erlebte auf meine Weise.

Nach fast zwei Jahren sind diese Erfahrungen nun ein für mich wertvoller Teil meines Selbst geworden. So manches kann ich in den berufsethischen Unterricht der BPOL nebst zahlreicher Reportagen, die über meinen Dienst in New York gedreht wurden, einfließen lassen. So wird nun für andere zum Segen, was ich erlebt habe.

Für mich steht am Ende dieser endemischen Gedanken vor allem diese wichtige Lektion im Mittelpunkt der pandemischen Dienstzeit: eine Berufung zeigt sich in Gefahr – das verbindet mich zutiefst als Pfarrerin mit den mir anvertrauten Polizeikräften, die ich begleiten darf. Die eigene Berufung so stark spüren zu dürfen, ist ein großes Geschenk der pandemischen Dienstzeit, das mich begleiten wird – egal, wo ich meinen Dienst versehe.

Hoffnungszeichen Impfung – Impfbeginn bei der Bundespolizei

Hunderte Male war ich mit meinem kleinen grauen Dienstauto an der Westseite des Henry Hudsons entlang gefahren. Vorbei an der massiven Wand an Hochhäusern, die diesen Schnellweg säumen. Als ich an einem Spätnachmittag Ende März mein Auto Richtung Chelsea lenkte, eröffnete sich mir ein atemberaubend hoffnungsvoller Blick: die USNS Comfort, ein Hospitalschiff der US-Navy lag an Pier 90 vor Anker und brachte mit dessen Ankunft so viel Hoffnung nach New York.

Seit Anfang März 2020 war die Metropolregion New Yorks und vor allem New York City zu einem pandemischen Hotspot geworden. Die Bilder und Erfahrungen dieser Zeit verfolgen mich noch ein Jahr später und haben sich wie wenige andere in mein Gedächtnis eingebrannt.

Als ich nun an meinem neuen Dienstort des Aus- und Fortbildungszentrums der Bundespolizei Schilder entdeckte, die auf die anlaufenden Impfungen hinwiesen, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich habe gesehen, was dieses Virus anrichten kann und habe Menschen, die verstarben oder durch die gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen in Notlagen geraten sind begleitet.

Für mich ist das Angebot einer Impfung ein wunderbares Hoffnungszeichen. Die Bundespolizei hat Anfang März mit der Impfung der Beschäftigten in eigenen Impfzentren begonnen, damit die Impfzentren der Länder und das dort tätige medizinische Personal entlastet wird. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen der Bundespolizei arbeiten als Einsatzkräfte in Gefahrenzonen an der Grenze, auf der Schiene oder an Flughäfen. Daher müssen sie wie auch Lehrkräfte und medizinisches Personal geschützt werden, damit sie für unseren Schutz sorgen können.

Aus dem Erleben meiner nun zurückliegenden New Yorker Zeit weiß ich um die Gefahren des Virus. Doch durch die notwendigen Maßnahmen wie Schutzmaske, Abstand und Co., sowie Geduld und einer Impfbereitschaft können wir diese gesellschaftliche und ökonomische Herausforderung als Gemeinschaftswesen überstehen.

Überlebenskampf der anderen Art

Wie Kirchen in USA in Zeiten von Corona um ihr Bestehen kämpfen

Betroffenes Schweigen breitete sich im digitalen Meeting der Pfarrkonferenz aus. Die sonst so fröhlichen und positiven Gesichter meiner Kolleginnen und Kollegen spiegelten den gemeinsamen Schmerz und die in ihnen aufkeimende Angst wieder. „Man! I am so sorry to hear that! We´ll be prayin` for you and your congregation.“ Während der sonst immer so fröhlichen Ankommensrunde, hatte ein Kollege von seiner gegenwärtigen Situation berichtet. Nachdem er selbst im Frühling mit COVID erkrankt war, musste er sich zusammen mit seiner Gemeinde nun einem Überlebenskampf der anderen Art stellen: Aufgrund der stark gefallenen Einnahmen seiner Gemeinde, die sich aus Mitgliedsbeiträgen und Vermietungen des Gebäudes speisten, hatte die Gemeindeleitung ihm mitgeteilt, dass sie in den kommenden Wochen sein Gehalt nicht mehr zahlen könne.

In den USA finanzieren sich protestantische Kirchengemeinden selbst. Sie speisen sich weder aus einer Kirchensteuer wie in Deutschland, noch einem Solidaritätsprinzip wie in Schottland. Sie sind dem Gesetz des Marktes ebenso ausgesetzt wie ein Geschäft oder ein Sportverein. Auf diesem religiösen Markt müssen sie sich mit ihrem Angebot behaupten und sind direkt auf die Unterstützung ihrer Mitglieder angewiesen. Im Zuge der Pandemie erleben die Vereinigten Staaten eine der schwersten dokumentierten wirtschaftlichen Krisen. Allein im Staat New York sind laut dem „Bureau for Labor Statistics“ 15.7 % der Arbeitnehmer im Juni 2020 arbeitslos. Diese Entwicklung betrifft umgehend Kirchen, die in direkter Weise von den Zuwendungen ihrer Mitglieder abhängig sind. Da aufgrund der Pandemie weitere Einnahmequellen wie Vermietungen und Veranstaltungen ebenso entfallen, haben zahlreiche Kirchengemeinden existenziellen Probleme, die selbst vor einem Pfarrgehalt nicht Halt machen.

Erste Initiativen wie „Churches helping Churches„, die von Justin Giboney gegründet worden war, versuchen basierend auf den biblischen Vorbild ein Solidaritätsangebot in dieser Notsituation bereitzustellen. Im Mittelpunkt steht hierbei ein Bericht aus der Apostelgeschichte:

Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.

Apg 2,45 (Lut 2017)

Inzwischen ist mit einer Pandemie, die über ein halbes Jahr die Vereinigten Staaten und deren ökonomische Talfahrt prägt, jede Form der Hilfe vor allem für kleine und mittlere Gemeinden überlebenswichtig, denn fast ein Fünftel der protestantischen Kirchen verfügt laut einer in 2017 durchgeführten Umfrage von LifeWay Research verfügt nur die Hälfte der Kirchen 2017 über lebensnotwendige Reserven, die ein Weiterbestehen im extremen Einnahmeausfall von höchstens 15 Wochen (sog. „Rainy Day Funds“) sichert. Besonders betroffen sind hierbei Minoritätskirchen, die auf eine besondere Zielgruppe zugehen und durch eine überschaubare, kleine Mitgliederschaft gekennzeichnet sind. Besonders kleine afro-amerikanische Kirchen seien hierbei laut Barna in großer Gefahr. Doch dieser Trend gilt ebenso für andere, kleine und vielleicht in ihrem Profil spezialisierte Kirchen.

Durch die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie wird sich in den USA die Vielfalt der religiösen Landschaft massiv verändern. Es ist davon auszugehen, dass manche Glaubensrichtung in gewissen Landstrichen unterversorgt sein wird, da schlicht ein adäquates und räumlich zugängliches Angebot fehlt. Selbstverständlich kann ein digitales Angebot Entfernungen überbrücken und Zugang zu gottesdienstlichen und geistlichen Veranstaltungen ermöglichen. Doch aus meiner Sicht zeichnet Kirche vor allem aus, dass sie mit Bonhoeffer gesprochen für andere da ist und sich um die Bedürfnisse derer kümmert, die sich am Rande der Gesellschaft befinden. Gerade in den USA, wo es keine vergleichbare Institution wie die Diakonie gibt, sind viele angewiesen auf greifbare Hilfe vor Ort durch Tafeln, Kleiderkamern und andere diakonische Initiativen, die bis dato von Kirchengemeinden übernommen wurden. Durch das Sterben kleiner Gemeinden wird auch die Hilfe für die Ärmsten der Armen weniger zahlreich und zugänglich werden. Eine weitere bittere Auswirkung der Pandemie.

Selbstverständlich spürt auch die Kirche in Deutschland die finanziellen Auswirkungen der Pandemie. Die neuesten Kirchenaustrittszahlen sind sicherlich auch dieser weltweiten Krise mit geschuldet. Doch nehme ich ein sehr besonnenes Handeln in Kirchenleitungsebenen wahr, die bereits vor der Pandemie wie der bayerische Zukunftsprozess „Profil und Konzentration“. Hier wird versucht, Zukunft nicht nur zu denken, sondern bereits in der Gegenwart durch Projekte und Umstrukturierung zu ermöglichen.

Vor allem in Zeiten wie Corona wäre ein etabliertes Solidaritätsprinzip und ein Reformprozess dringend notwendig, aber dieser aufgrund der losen Verbindung bzw. kompletten Eigenständigkeit von Kirchengemeinden undenkbar. Dafür trifft diese die ökonomischen Auswirkungen in oftmals existenzieller Weise.

Das spürt nun die Gemeinde des Kollegen in direkter Form. Nachdem er diese Nachricht an uns weitergegeben hatte, wich das Schweigen erst nach langen Schrecksekunden einer geschäftigen Runde von Fragen und Ratschlägen. Allen dämmerte sehr schnell, dass je länger die Pandemie anhalten würde, diese Situation keine einzelne bleiben würde.

Von Pandemien und geschichtlichen Lektionen

Trotz der hochsommerlichen Temperaturen lief mir ein eiskalter Schauer den Rücken herunter während ich voller Unglauben den Worten Trumps zuhörte. Normalerweise mied ich FOX News, doch dieser Sonntag zog mich und viele andere magisch vor den Fernseher. Chris Wallace, Moderator von FOX News Sunday, befragte den Präsidenten auf viele für seine Amtszeit relevante Themen. Die Unterhaltung führte schnell auf das brennende Thema der Pandemie. Selbstbewusst äußerte Trump, dass die USA eine der niedrigsten Mortalitätsraten der Welt habe. Auf Widerspruch des Moderators hin bat Trump sein Team um einen aktuelle. Ausdruck mit den neuesten Zahlen, die dem Weißen Haus vorlagen. Innerhalb von Augenblicken händigte eine Mitarbeiterin dem Präsidenten einen in großem schwarzen Lettern gestalteten Ausdruck. „Sehen Sie!“, sagte er während er stolz mit dem Zettel wedelte, „Ich habe recht!“

Laut eines Berichtes der New York Times hingegen haben die Vereinigten Staaten von Amerika die acht höchste Mortalitätsrate aller vom Coronavirus betroffener Länder. Eine orwellianische Situation sondergleichen offenbarte sich in diesem Interview vor meinen Augen, in der Wahrheit durch die Person im höchsten US-amerikanischen Amt passend gemacht wurde.

Das Interview zeigte wie kein zweites, mit welcher Ruchlosigkeit und kalkuliertem Umgang mit falschen Informationen die gegenwärtige Regierung versuchte, ihren eigenen Fall zu verdecken und als Sieg über einen unsichtbaren Feind zu maskieren. Doch selbst der Rahmen des sonst so Trump-freundlichen TV-Senders konnte dies nun nicht mehr verdecken und war für eine noch breitere Masse offenbar geworden.

Während sich Trump im Interview nervös von einem Thema zum nächsten hangelte, wanderten meine Gedanken in ferne, längst vergangene Jahrhunderte, in der schon einmal eine Seuche das die Machtverhältnisse von Mächten verändert hatte:

Unter Kaiser Justinian (527–565) war eine Pandemie ausgebrochen, die in Ägypten ihren Ursprung genommen hatte, dann 542 Konstantinopel erreichte und sich danach im gesamten Mittelmeerraum verbreitete. Die sogenannte Justinianische Pest rief eine Hungersnot und unglaubliches soziales Elend hervor, an die mich in USA die Auswirkungen der gegenwärtigen Pandemie in besorgniserregender Weise erinnern.

Klaus Bergdolt beschreibt in seinem Buch „Der schwarze Tod Europas“ (1):

Wir wissen heute, daß die Justinianische Pest unabsehbare politische Konsequenzen hatte. […] Pest und Politik bildeten zur Zeit der Völkerwanderung zeitweise zwei Seiten einer Medaille.

Klaus Bergdolt: Der schwarze Tod Europas: Die große Pest und das Ende des Mittelalters, München 2003, 5. Auflage, S. 16.

Daher ist es für mich kaum verwunderlich, dass auch in den Vereinigten Staaten von Amerika Politik und Pandemie eine enge und durchaus makabere Verbindung eingegangen sind, indem das Agieren mancher Politiker wenig Sorge um die Betroffenen trägt als um den eigenen politischen Erfolg und das persönliche Fortkommen.

Und es geht in den USA um nichts weniger als um die Gestalt einer ganzen Nation. Ibram X. Kendi hebt hierbei hervor:

Ich denke, Amerikaner müssen entscheiden ob diese Nation eine multikulturelle Nation ist oder nicht. […] Wir haben noch nicht entschieden, als Staat, nicht einmal als Progressive und Liberale, ob wir eine multikulturelle Nation oder eine monochrome Nation sind.

Daniel Bergner, Whiteness Lessons, The New York Times Magazine, July 19, 2020, p. 50.

Das Beispiel der Justinianischen Pest zeigt deutlich, dass Pandemien Machtverhältnisse verändern und sogar Imperien, die Menschen ausbeuten und ihren Reichtum auf den Schultern anderer aufbauen, in die Knie zwingen können. Es sei an dieser Stelle deutlich hervorgehoben, dass wir gegenwärtig noch nicht das gesamte Ausmaß der Pandemie, ihre zukünftigen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, einzelne Länder oder die Gestaltung des globalen Machtverhältnisses absehen können. Für mich aber bleibt auf dem geschichtlichen Hintergrund ein Hoffnungsschimmer am Horizont der Pandemie: dass die wahre Agenda der jeweiligen Regierung entblösst wird und unter Umständen einem Wechsel zum Besseren weicht.

Hoffentlich ist dies nicht zu spät für eine Weltmacht, die sich über Jahrzehnte als Hüterin der Demokratie und Menschenrechte versteht, und gezwungen wird sich ehrlich mit ihrer eigenen gebrochenen Existenz auseinanderzusetzen. Es bleibt zu hoffen, dass sie dann endlich ihren selbstgegebenen Idealen von Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück für alle gerecht wird.


(1) Klaus Bergdolt: Der schwarze Tod Europas: Die große Pest und das Ende des Mittelalters, München 2003, 5. Auflage.

Amerika im Ausverkauf

Ich schob meinen Einkaufswagen durch das immer noch ungewohnte Labyrinth von Einbahnstraßen. Alltägliches wie der Samstagseinkauf im Supermarkt war einer neuen Realität gewichen. Regale waren ausgedünnt und in weiterem Abstand voneinander platziert worden, um den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen genüge zu leisten. Ein „Einbahnsystem“ vergrößerte das Gefühlt trotz allem einen sicheren Einkauf mitten in der Pandemie tätigen zu können.

Nachdenklich schob ich die wertvolle „Essensfracht“ gen Kasse als mir ein Luftballon in Herzform und amerikanischer Fahne in einem Regal auffiel. Dahinter prange auf rotem Hintergrund in großer Schrift ein Ausverkaufsschild. Welch ironisch passendes Bild an einem Tag wie dem heutigen während die Nachrichten über ein Land hereinbrechen, das sich als führende Weltmacht und Verteidigerin der Demokratie versteht. Nun aber ist es weltführend im Ausbruch des Coronavirus und dem Zusammenbruch seines eigenen Justiz- und Wertesystems. „Amerika befindet sich im Ausverkauf“, schoß es mir unweigerlich beim Anblick der Supermarktauslage durch den Kopf.

Amerika im Ausverkauf
Amerika im Ausverkauf

Laut New York Times (Stand 11. Juli 2020) wurden über 3,199,700 Personen in den USA mit COVID-19 infiziert, wobei mehr als 133,900 an dem tückischen Virus verstarben. Nachdem viele US-amerikanische Staaten meinten, sich zwischen einer florierenden Wirtschaft und dem Sieg gegen das Virus entscheiden zu müssen, schoben viele Staaten Sicherheitsvorkehrungen beiseite und öffneten ihr gesellschaftliches und ökonomisches Leben vorzeitig. Sie führen nun die Statistik in besorgniserregender Weise an.

Hinter diesen Zahlen verbergen sich Menschenleben und -schicksale, die allesamt durch das Versprechen der USA miteinander verbunden sind. Generationen von Migranten hat es und führt es immer noch im Sehnen nach einem besseren, gerechteren Leben in die „Neue Welt“. Diese Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft spiegelt sich in den Worten der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 wieder, denen sich alle US-Bürger*innen verpflichtet wissen. Diese Erklärung hatte sich gegen eine Kolonialmacht und deren Ausbeutung gestellt und besagt, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden und von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten, wie Leben, Freiheit und dem Streben nach Glückseligkeit ausgestattet sind. (1) Damals waren diese für „weiße“ Männer mit signifikanten Besitz geschrieben worden. Trotz der ursprünglichen Intension bergen die Worte der Unabhängigkeitserklärung den wichtigen Schatz der Gleichheit und Freiheit in sich, die entdeckt bzw. wiederentdeckt werden sollten.

Doch die Pandemie legt die wahre, aktuelle Struktur dieses Landes bloß: Es ist gegenwärtig regiert und dominiert von Personen, die dem Kapitalismus und dem Eigengewinn mehr Gehör schenken als den Bedürfnissen und Nöten der Nächsten. Gleichzeitig erodieren juristische Werte und Grundbeschaffenheiten, die die grundsätzlichen Versprechen der Unabhängigkeitserklärung nicht nur widersprechen, sondern mit ihr brechen. Die Reduktion des Strafmasses von Robert Stone, des ehemaligen Beraters und Freundes Donald Trumps, ist der letzte Ausdruck eines Ausverkaufs Amerikas. Die ehemals führende Industrienation befindet sich im Ausverkauf zu Gunsten einer kleinen profitierenden Schicht, deren Seilschaften und Verflechtungen gegenwärtig stärker sind als das demokratische System. Es bleibt zu hoffen, dass Amerikas Bevölkerung erwacht und die Macht der Basisdemokratie als Chance und Waffe gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen zugunsten weniger wiederentdeckt.

„Excuse me, Ma’am!“ raunte eine ältere Dame mir entgegen während sie versuchte, ihren Einkaufswagen an mir vorbei zur Kasse zu manövrieren. Ich schob hastig meine Fracht zur Seite, um ihr Platz zu machen. Als ich über die Schulter blickte, hatte sich das amerikanische Luftballonherz vor das Ausverkaufsschild geschoben und damit verdeckt. Ich hoffe sehr, dass Amerika in den kommenden Monaten auf dem Weg hin zu einer Neuwahl sein eigentliches Herz wiederentdeckt, das besonders stark für eine Gleichheit aller schlagen sollte.


(1) Declaration of Independence, 1776: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

Stürmische Zeiten

Ausdauernd prasselte Regen auf die Dachfenster des Pfarrhauses während sich der Rhythmus der Regenbänder immer schneller wurde. Ich starrte nachdenklich aus dem Fenster und sah den ersten Ausläufern des tropischen Sturmtiefs zu, das im Laufe des Tages in rotierenden Regenbändern eine signifikante Menge an Niederschlag und bis zu 50 miles/h an Winden mit sich bringen sollte.

Seit Monaten fühle ich mich wie von einem großen, andauernden Sturm erfasst. Corona, Rassenunruhen, Polizeigewalt, Kampf gegen Armut und Hunger… Wie in einem immer währenden Zyklus kreisen diese Traumata wie gegenwärtig der tropische Sturm Fay über der Metropolregion New York und der gesamten USA. Es gibt Phasen, an denen meine Nerven sehr strapaziert sind. Nicht selten frage ich mich, ob meine Schlechtwetterkleidung als Pfarrerin, die vor allem aus einer tiefen Verwurzelung im Glauben besteht, ausreichend ist.

Søren Kierkegaard wies in seiner Auslegung von Mt 11,30 auf die besondere Kraft des Glaubens hin, der in angeblich unmöglichen und aussichtslosen Situationen die Perspektive nicht verliert. In der Bibelstelle betont Jesus, dass sein Joch sanft ist und seine Last leicht. Während viele diese Aussage als ein Paradoxon bezeichnen würden, weißt Kierkegaard auf das Vorbild des Kreuzes hin, die alle menschliche Logik auf den Kopf stellt und aus dem angeblichen Scheitern den Sieg Gottes macht.

Klugheit erreicht oft in Zeiten der Not ihre Grenzen. In diesem Moment sehe ich aus meiner eigenen Erfahrung, dass die Kraft des Glaubens beginnt. Kierkegaard schreibt:

Wenn die Klugheit in der dunklen Nacht des Leidens keine Handbreit vor sich sehen kann, da kann der Glaube auf Gott sehen; denn der Glaube sieht am besten im Dunkeln.

Søren Kierkegaard, Zwölf Reden, Halle 1886.

Gerade in dieser dichten und schwierigen Zeit des Auslandspfarramtes erlebe ich genau dies: Ich spüre die richtungsweisende Kraft des Glaubens in dieser dunklen Zeit, die mir andauernd zuspricht, die Hoffnung nicht zu verlieren und weiter in dem voranzuschreiten, was für uns Christen zentral ist: Unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst.

Dies bedeutet in stürmischen Zeiten wie diesen im Auslandspfarramt neben den klassischen Tätigkeiten wie Gottesdienst, Seelsorge und Gemeindearbeit mich noch stärker für die Speisung einer stetig wachsenden Zahl von Bedürftigen zu widmen, einem deutlichen Aussprechen gegen Rassismus und Antisemitismus, aber auch der Polizeiseelsorge zu engagieren. Und hätte ich, mit Paulus gesprochen, meinen Glauben nicht, so wäre ich nichts.

Stürmische Zeiten bringen uns an die Grenzen unserer Kräfte, aber sie zeigen uns auch in bewegender Weise die Wichtigkeit des Glaubens auf, der im Dunkeln am besten sieht.